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Zwei Tage waren vergangen, seit Anika zu seiner Unterstützung eingetroffen war. Zwei Tage, in denen nichts passiert war, was seine Aufmerksamkeit erfordert hätte. Weder hatten die Kollegen aus Oldenburg Näheres zu dem oder der Toten sagen können, noch hatte sich Paul Abarth gemeldet. So hatte er genügend Zeit, seiner Kollegin die Insel zu zeigen. Immer hatte sie ihr Notizbuch dabei und konnte schon so manche Frage daraus streichen. Auch die nach dem Rosengartentor hatte er mit Hinweis auf die unendlich vielen Kaninchen und die hungrigen Rehe beantwortet.

Zu Anfang hatte er sie nicht richtig einschätzen können. Sie war ein ruhiger, beinahe zurückhaltender Typ, der alles, was er sagte, interessiert aufnahm. Doch manchmal durchbrach sie ihre Zurückhaltung, lachte fröhlich und kommentierte seine Ausführungen unbeschwert und lebhaft. Nur von ihrer Zeit in Barsinghausen schien sie ungern zu erzählen. Er hatte ein, zwei Mal versucht, etwas aus ihr herauszulocken, doch vergebens. Dann hatte er es aufgegeben. Es musste auch nicht sein. Hauptsache, sie kamen in ihrer Zeit auf der Insel miteinander klar.

»Worüber denkst du nach?«

Röder zuckte zusammen und hätte sich beinahe mit dem Brötchenmesser in den Finger geschnitten, als Sandra ihn aus seinen Gedanken holte.

»Ach, ich habe überlegt, was ich Anika noch nicht gezeigt habe. Gestern waren wir auf dem Friedhof und haben uns Kramers Grab angesehen.«

»Gibt es da schon Neuigkeiten?«, fragte Sandra und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ich habe übrigens deine Kollegin gefragt, ob sie bei uns mit frühstücken wollte. Sie hat abgelehnt. Freundlich, aber bestimmt. Ich habe ihr dann nur erzählt, wo sie unseren Laden findet. Falls sie an Biolebensmitteln interessiert ist.«

»Ich denke, sie braucht ganz viel Ruhe«, erwiderte Röder. »Irgendwas ist mit ihr. Keine Ahnung, was es sein könnte.«

»Na gut. Ich muss gleich in den Laden, Eva ablösen. Die hat heute schon früh angefangen.«

»Und es macht dir immer noch Spaß?«, fragte Röder, obwohl ihm die Antwort durchaus bekannt war.

»Natürlich. Ich habe übrigens eine Bitte. Könntest du heute Nachmittag mal im Laden vorbeischauen? Wir wollen einen Kühlschrank anschließen, und zu diesem Zweck muss ein ziemlich schwerer Schrank umgesetzt werden.«

»Kein Problem, mache ich gerne.«

»Übrigens kommt übermorgen Wiebke. Wir wollen die weiteren Liefermodalitäten für das Gemüse besprechen.«

»Wird mein Freund Arndt auch dabei sein?«

Sandra schaute ihren Mann etwas verunsichert an und meinte: »Ich denke, der hat anderweitig zu tun.«

Das war schade. Er hätte ihn gerne wiedergesehen. Aber seit Arndt seinen Dienst als Hauptkommissar bei der Auricher Kripo aufgegeben und sich mit seiner Frau Wiebke einen Bauernhof in der Krummhörn zugelegt hatte, sahen sie sich nicht mehr so häufig. Röders schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar. Auch er hätte die beiden auf dem Festland öfter besuchen können. Schließlich fuhren täglich Fähren ans Festland! Sandra hatte es getan, und so war die Zusammenarbeit mit »Kleemanns Hof« und die Idee eines Bioladens auf der Insel entstanden.

Sein Telefon machte sich bemerkbar.

Es war Paul Abarth, der ihn aus der Frühstücksbeschaulichkeit holte. »Wilko ist heute unentschuldigt nicht zum Unterricht erschienen.«

Röder schaute auf seine Uhr. »Der Unterricht hat doch gerade erst angefangen.«

»Richtig. Aber ich habe mit dem Vater telefoniert. Der Junge ist nicht mehr zu Hause.«

»Und was sagt die Schwester?«

»Die liegt laut Auskunft des Vaters mit Erkältung im Bett und weiß nichts.«

Röder bemerkte große Unruhe in der Stimme des Schulleiters. »Gut. Ich komme mit meiner Kollegin in Kürze bei Ihnen vorbei. Dann sehen wir weiter.«

Er beendete das Gespräch und unterrichtete Anika. Es dauerte keine fünf Minuten, da stand sie in der Küche vor Sandra und Michael. »Können wir los?«

Röder stand auf. »Momentchen. Darf ich mir vorher eine Jacke überziehen?«

»Natürlich, aber wir sollten so schnell wie möglich …«

»Ich beeile mich.« Er schnappte seine Regenjacke, winkte Sandra zu und folgte seiner Kollegin zum Gartenhäuschen. Er stellte fest, dass sein Vorderreifen ziemlich platt war. Normalerweise überließ er den wechselnden Hilfssheriffs die Fahrzeugpflege, weil er dazu einfach kein Talent – so redete er es sich zumindest ein – und auch keine Lust hatte.

»Brauchst du eine Luftpumpe?« Anika blickte mit Zweifel in den Augen auf sein Vorderrad. »Aber beeil’ dich.«

Er stöhnte leicht. Er sah ein, dass er, ohne sein Techniktalent zu zeigen, aus der Nummer nicht wieder rauskam, also pumpte er. Es ging leichter als gedacht. Gleich darauf fuhren sie über den Roten Platz.

»Gut, dass Sie da sind«, begrüßte Paul Abarth die beiden. Röder konnte ihm ansehen, dass er sich große Sorgen machte.

»Bitte berichten Sie uns, was genau das Gespräch mit den Eltern gebracht hat.«

»Setzen Sie sich erst einmal«, erwiderte Abarth, als sie in seinem Büro angekommen waren. »Also ich war da, fand jedoch nur die Mutter vor. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, und beteuerte, dass alles in Ordnung sei. Sie habe nie bemerkt, dass ihr Sohn sich verändert hätte.«

»Waren die Kinder bei dem Gespräch anwesend?«, fragte Anika.

»Nein, nicht direkt. Die Tochter war im Kinderzimmer. Der Sohn angeblich bei Nachbarn.«

»Bei wem genau?«, fragte Anika.

»Keine Ahnung. In dem Haus sind zwei weitere Eigentumswohnungen. In der einen wohnt Elmar Diesterweg. Der hat sich wohl, wie Frau Jessen berichtete, seinen Lebenstraum mit dieser Wohnung erfüllt. In der anderen lebt Ilona Klinker und manchmal auch ihr Mann.«

Röder kannte die beiden. Sie hatten viele Jahre eine Pension betrieben, bevor sie sie ihrem Sohn überschrieben hatten. Franz Klinker war seitdem meistens unterwegs, um die Welt zu erkunden. Andere Stimmen sagten allerdings, dass er sich von seiner Frau getrennt habe und deswegen am Festland sei.

»Aber Nachbarn ist ein weiter Begriff. Wo Wilko zu dem Zeitpunkt genau war, weiß ich nicht.« Paul Abarth fuhr sich durch seine wuscheligen Haare, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Was halten Sie von der Sache?«

Röder stand auf. »Wir werden der Sache nachgehen. Mal schauen, ob was dran ist. Und Sie möchte ich bitten, mal ganz vorsichtig die Mitschüler aus Wilkos Klasse zu befragen. Es könnte sein, dass er seinen Altersgenossen gegenüber aufgeschlossener war.«

»Das mache ich gerne. Und – danke.« Auch Anika Frederik und der Schulleiter erhoben sich. »Ich möchte selbst gerne wissen, warum mich die Sache so verfolgt«, sagte er. »Es ist eigentlich nichts passiert. Dumme Sprüche und Fehlstunden hat es bei Schülern gegeben, seitdem Schulen existieren. Natürlich gibt es hier ebenfalls einen bunten Querschnitt von Charakteren. Aber wir leben im Grunde genommen in einer heilen Welt, verglichen mit mancher Großstadtschule. Da fällt es eben mehr auf, wenn ein Kind sich verändert.«

»Wir melden uns.« Anika und Röder verließen das Schulgebäude genau in dem Moment, als die Glocke klingelte. Röder fühlte sich angenehm in seine Kindheit versetzt. Zumindest an die Grundschule hatte er positive Erinnerungen. Wie hatte die Klassenlehrerin mit dem Dutt geheißen? Fräulein Lebesam. Genau. Alle Kinder hatten versucht, das Beste aus sich rauszuholen, um Fräulein Lebesam zu gefallen. Und sie hatte alles getan, um den Kindern mit großer Zuneigung möglichst viel beizubringen.

Im Ostdorf angekommen, wollte Röder gerade den Klingelknopf drücken, als sich die Tür von innen öffnete und Ilona Klinker vor ihnen stand. »Super, dass Sie da sind. Sonst hätte ich bei Ihnen angerufen.«

»Wieso?«, fragte Röder einigermaßen verwirrt.

»Na, riechen Sie das nicht? Kommen Sie rein, Sie beide! Hier stinkt es mal wieder zum Gotterbarmen. Ich habe allmählich die Schnauze voll!«, schrie sie. »Jeremy hat schon Asthma deswegen.« Sie zeigte auf einen braunen Dackel, der sich mühsam die Treppe hinunterbewegte.

»Aber was sollen wir …?«

»Sie sollen es ihm verbieten. Jeden, jeden, jeden Tag stinkt es.«

Röder schnüffelte, auch Anika hielt ihre Nase in die Luft. Gut, man konnte riechen, dass gekocht wurde. Aber es war nicht unangenehm.

»Ich habe in unserer Pension jeden Tag am Herd stehen müssen. Immer war ich vom Essensdunst umgeben. Das will ich nicht mehr. Dann kann ich mich auch gleich wieder bei meinem Sohn in die Küche begeben!«

»Wer ist denn derjenige, der in diesem Haus kocht?«, fragte Anika.

Ilona Klinker zeigte nach oben. »Der da. Der Diesterweg im ersten Stock. Ich wohne genau darüber. Im zweiten!«

»Haben Sie es schon mal mit Lüften versucht?«, fragte die Polizistin.

Röder ahnte, dass das genau die falsche Frage war. Er sollte Recht behalten.

»Glauben Sie, ich bin blöd? Was meinen Sie, wie es stinken würde, wenn das Flurfenster nicht Tag und Nacht offen wäre!«, schrie Ilona Klinker erneut.

Jetzt wurde auch Röder böse. »Schreien Sie uns nicht an. Sie entschuldigen uns. Wir haben zu tun.« Er schob sich an der aufgebrachten Frau vorbei und klingelte an Jessens Tür.

»Die kann ich auch nicht ab mit ihrer ständigen Streiterei«, schickte Klinker ihnen hinterher, als Hans Jessen sie hereinließ.

»Wir kommen wegen Ihres Sohnes«, erklärte Röder, nachdem er Hans Jessen seiner Kollegin vorgestellt hatte.

»Ja, und?« Hans Jessen ließ sich auf das Sofa fallen, das fast den ganzen Raum beanspruchte. Abgesehen von dem Fernseher, der die halbe gegenüberliegende Wand einnahm. »Ist er nicht in der Schule?«

»Nein. Deswegen sind wir hier. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

Jessen schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und machen Sie sich Sorgen deswegen?«, fragte Anika.

Wieder schüttelte der Mann den Kopf. Diesmal kräftiger. »Warum sollte ich? Er ist ein Freigeist, wie meine Frau immer behauptet. Also was soll ich mir Gedanken machen?«

»Weil Sie ein eigenständig denkender Mensch sind?«, fragte Anika.

Jessen lachte auf. »Das sollten Sie mal meine Frau hören lassen. Die würde das glatt abstreiten.«

»Wo ist Ihre Frau jetzt?«

»Am Festland. Sie sucht Sponsoren.« Jessen deutete auf den Fernseher. »Sie dreht Filme und nennt das dann Kunst. Und weil das manchmal etwas kostet und ich nur das Gehalt eines Bürotigers in der Reederei mit nach Hause bringe, sucht sie fremdes Kapital. Zum Beispiel für dieses Riesengerät zum Abspielen der Kunstwerke. Würde gerne wissen, wie sie das immer wieder schafft. Aber vielleicht möchte ich es doch nicht wissen.«

»Dann haben Sie sich heute freigenommen?«

»Ja. Weil Meta krank ist. Ich konnte sie nicht allein lassen.«

In diesem Moment hörte Röder ein schwaches »Papa« aus dem Nebenzimmer. Anika sprang auf. »Ihre Tochter ruft. Darf ich zu ihr?«

Jessen nickte. »Gleich die erste Tür rechts. Aber erschrecken Sie sie nicht.«

»Keine Sorge.« Schon war Anika verschwunden.

»Sie haben wirklich keine Ahnung, wo Ihr Sohn ist, Herr Jessen? Bevor ich die ganz große Suche lostrete, möchte ich alle Infos haben«, mahnte Röder eindringlich.

»Nein, ich weiß es nicht. Bin aber guter Hoffnung, dass er kommt. Ich mache mir keine Sorgen. Allerdings wundere ich mich, dass die Polizei Zeit für eine solche Lappalie hat. Sie kreuzen hier gleich zu zweit auf – Donnerwetter!«

Röder konnte es kaum fassen. Er würde vermutlich nicht so entspannt auf dem Sofa sitzen, wenn sein Kind verschwunden wäre. Auf der anderen Seite – es war erst eine kurze Zeit, die der Junge weg war. »Hat er Hobbys, die ihm zurzeit wichtig sind? Angeln oder eine andere Beschäftigung, die er draußen ausführt?«

»Nein. Manchmal ist er mit seinen Kumpels unterwegs, aber das ist doch normal«, bemerkte Jessen.

Klar, die Zeit draußen zu verbringen, war normal, dachte Röder. Es war nur die Frage, womit er die Zeit im Freien ausfüllte. »Ich hörte, Ihre Frau und Sie streiten sich öfter? Könnte sein Verschwinden damit zu tun haben?«

»Ach, hat die alte Klatschtante von oben ihr Maul aufgerissen?« Jessens Augen blitzten wütend. »Die soll sich mal an ihre eigene Nase fassen. Der ist der Mann schon vor Jahren abgehauen. Der darf nur wiederkommen, wenn in der Wohnung etwas repariert werden muss und kein Handwerker zu kriegen ist.«

»Apropos Wohnung – wohnen Sie zur Miete oder gehört Ihnen die Wohnung?«

»Ich weiß nicht, was Sie das angeht, aber uns gehört die Wohnung. Obwohl ich mir oft genug wünsche, dass ich einfach den Vertrag kündigen und wegziehen könnte«, gab Jessen zu.

Röder wunderte sich. Woher hatten die Jessens das Geld für eine Wohnung? Aber die Frage danach verkniff er sich. Tatsächlich ging es ihn auch wirklich nichts an.

»Eine letzte Frage: Sagt Ihnen der Spruch: ›Wer leben will, muss töten‹ etwas?«

»Nein. Wieso?«

»Das war ein Satz, den Ihr Sohn in der Schule losgelassen hat«, erklärte Röder.

»Den hat er bestimmt bei einem Kumpel aufgeschnappt«, winkte Jessen ab.

»Bist du durch?« Anika war zurück.

Röder hatte das Gefühl, dass sie etwas mit ihm zu besprechen hatte, das nicht unbedingt für Hans Jessens Ohren gedacht war.

»Ich denke ja. Oder haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?«, wandte er sich erneut an Jessen.

»Nein. Habe ich nicht«, kam es aufgebracht zurück.

»Teilen Sie uns sofort mit, wenn Ihr Junge wieder auftaucht. Sollte er bis zwei Uhr nicht zu Hause sein, werden wir eine Suche einleiten.« Sie verabschiedeten sich.

Im Treppenhaus roch es immer noch nach Essen. Sie klingelten bei Elmar Diesterweg, doch niemand öffnete.

»Wir gehen vor die Tür«, schlug Anika vor.

»Also, was hast du erfahren?« Röder konnte seine Neugier kaum bändigen.

»Ehrlich gesagt, nichts. Das Mädel war wirklich krank. Auf meine Frage, ob sie wüsste, wo ihr Bruder sein könnte, schüttelte sie nur den Kopf. Ich hatte allerdings stark das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg«, gab Anika Auskunft. »Soll ich sie mir noch einmal vornehmen? Sie begreift sicher gar nicht, wie wichtig ihre Hilfe sein könnte.«

»Lass es erst einmal gut sein. Wir warten ab und fragen später nach.«

»Du meinst nicht, dass wir handeln sollten? Wir können doch die Insulaner zusammentrommeln. Die Feuerwehr. Die Lehrer. Wir könnten alle Nachbarn befragen, ob die etwas mitbekommen haben.«

»Nein. Wir warten bis zum Unterrichtsende am frühen Nachmittag. Vielleicht taucht er bis dahin in der Schule auf.«

»Wie du meinst.« Sie schnappte sich ihr Rad und fuhr so schnell los, dass er kaum folgen konnte. Man gut, dass er ihr nicht von seinem Auftrag im Bioladen erzählt hatte. Dafür hätte sie bestimmt kein Verständnis gezeigt. Apropos Bioladen – er würde jetzt dorthin fahren. Dann konnte er sich nachmittags um die wichtigen Dinge des Lebens kümmern.

Baltrumer Wattenschmaus

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