Читать книгу Der Vergangenheit dunkle Zeiten - Ulrike Eschenbach - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеMutter hatte sich nicht mehr gemeldet und somit bestätigten sich die Worte von Schwester Magdalena. Mutter wollte und mochte mich nicht! Seit dem Wissen über meine Herkunft und den Umständen fiel ich in ein tiefes Loch. Immer wieder hörte ich Schwester Magdalenas Worte, wie sie zu Mama sagte: „Lassen sie absolute Strenge walten.“ Wie streng sollte Mama denn noch werden?
Ich befand mich in dieser Zeit teilweise am Rande des Wahnsinns. Nachts plagten mich verdammte Albträume. Tagsüber fraß ich, bis mir übel wurde und ich mich erbrach. Mein Innerstes war total zerrissen und leer. Einige Male noch versuchte ich, mit Mama darüber zu reden, doch sie blockte sofort ab und meinte nur: „Du hast ja gehört, was Schwester Magdalena zu dir gesagt hat!“ Damit war für sie das Gespräch beendet.
Papa, der fast nie zu Hause war und wenn er abends kam, meist unter Alkohol stand, war genauso wenig Hilfe oder Gesprächspartner für mich. Ich fühlte mich verdammt einsam und alleine gelassen. Irgendwann fing ich an, mich mit einem Schal oder Band selbst zu strangulieren. Mir die Luft zum Leben zu nehmen. Wenn danach mein Hals schmerzte und mein Gesicht wie Feuer brannte, fühlte ich mich wieder stark. Langsam wurde mir bewusst, dass ich ein gewisses Potenzial an Schmerzen brauchte, um mich beruhigen zu können. Meine Eltern merkten von all dem nichts. Fragten sie dann doch mal nach einer meiner Verletzungen an Armen oder Beinen, war ich um Ausreden nicht verlegen. Außerdem stach ich mich meist an den Oberschenkeln, was durch die Kleidung dann fast nicht auffiel.
Allmählich bekam ich wieder Boden unter den Füßen. Das Lernen in der Schule machte mir zwar immer noch Probleme, doch langsam lief es etwas besser. Von den Schulkameraden und -kameradinnen wurde ich allmählich auch akzeptiert. Freundschaften bauten sich auf, welche mir ein Gefühl der Vollwertigkeit verliehen. Ich lebte auf und fand mein Leben wieder etwas lebenswerter.
Etwa drei Monate nach dem Ausbüchsen zu meiner Mutter sprach mich eines Tages Frau Dörfler, unsere Nachbarin, an und bat mich, doch mal zu ihr zu kommen. Sie war so etwas wie eine mütterliche Freundin für mich. Mama allerdings war nicht sehr begeistert, wenn ich zu dieser Frau ging, sie war in ihren Augen asozial. Frau Dörfler hatte fünf Kinder und lebte mit jenen alleinerziehend in sehr ärmlichen Verhältnissen. Sie kam öfters zu Papa und erbettelte sich Brot, Kartoffeln, Milch oder Gemüse, um ihre Kinder satt zu bekommen. Wie ich anfangs schon erwähnte, gab es zu dieser Zeit kein so ausgedehntes, gutes soziales Netz wie heute.
Frau Dörfler hatte hautnah meine Erziehung sowie manch anderes mitbekommen. Auch Mutter kannte sie gut, von den Besuchen her. Oftmals sagte Frau Dörfler zu mir: „Deine Mutter ist ein guter Mensch und jeder macht mal Fehler im Leben, verdamme sie nicht, sondern versuche, sie zu verstehen und ihr zu verzeihen. Ich weiß, von was ich rede, denn auch ich stand schon oft vor der Entscheidung, meine Kinder in eine Pflegefamilie geben zu müssen. Denn das bisschen Geld, was ich für die Kinder vom Jugendamt bekomme, reicht weder hinten noch vorne. Gott sei Dank geben mir dein Papa sowie manche Nachbarn immer wieder Lebensmittel, sodass ich mit meinen Kindern halbwegs überleben kann. Ich denke, dass dies bei deiner Mutter ähnlich war und sie deshalb die Nerven und den Kopf verloren hat.“
Obwohl Frau Dörfler diese Sätze öfters zu mir sagte, konnte und wollte ich mich mit dem Gedanken zu verstehen und zu verzeihen nicht anfreunden. „Mutter hat mich einfach weggegeben! Und nachdem ich bei ihr war, hat sie sich auch nicht mehr bei meinen Eltern oder mir gemeldet. Also ist doch Fakt für mich, dass sie mich nicht mag und auch keinen Kontakt mehr zu mir will“, gab ich Frau Dörfler bei solchen Gesprächen zur Antwort.
Dass ich zu Frau Dörfler kommen sollte, hatte ich zwischenzeitlich schon wieder vergessen. Mama hatte mir neue, rote Leder-Halbschuhe gekauft. Ich bettelte beim Schuhkauf, sie möge mir doch bitte, bitte endlich mal Sandalen für den Sommer kaufen und nicht immer Halbschuhe. Aber nein, es gab wieder Halbschuhe. Diese seien, wie Mama argumentierte, für die Füße gesünder. Dass ich darin im Hochsommer schwitzte, interessierte nicht. Aber ich hatte schon einen Plan im Kopf, wie ich aus den scheußlichen, geschlossenen Schuhen Sandalen machen könnte. Tags darauf setzte ich diesen dann auch um. Mit Bleistift zeichnete ich Ferse und Spitze an, dann schlich ich mich in die Speisekammer, wo das große Schinkenmesser lag. Unter Aufwendung aller Kraft säbelte ich die Spitze meiner Schuhe ab. Sorgfältig schnitt ich anschließend das Leder von der Laufsohle. Nun noch die Ferse herausschneiden, dachte ich, dann habe ich tolle Sandalen. Aber das Leder der Ferse war verstärkt und ich brachte es somit nur zu einer kleinen Ausbuchtung in der Fersenkappe. Juhu, ich hatte Sandalen!
Stolz wie ein König ging ich mit meinen neuen Sandalen zu Frau Dörfler und zeigte ihr mein Wunderwerk. „Oh mein Gott!“, brachte sie gerade noch über die Lippen, bevor sie lauthals loslachte. „Rike, was hast du nur manchmal für Einfälle“, sagte sie, sich vor lauter Lachen schüttelnd „Deine Mutter schlägt dich grün und blau, wenn sie sieht, was du aus deinen neuen Schuhen gemacht hast.“
„Mir doch egal“, antwortete ich. „Hauptsache, ich habe endlich Sandalen, und das Leder wieder ankleben kann Mama ja doch nicht.“
„Rike, Rike das gibt Ärger“, warnte Frau Dörfler, nun ernst. „Übrigens, du solltest doch schon vor ein paar Tagen zu mir kommen, ich habe nämlich eine große Überraschung für dich.“ Mit diesen Worten ging sie zu ihrem Wohnzimmerschrank und holte aus jenem einen Brief. Als ich auf dem Kuvert die Schriftzüge sah, wusste ich sofort: Der ist von Mutter.
Frau Dörfler erzählte mir, Mutter hätte erst einmal postalisch bei ihr angefragt, ob es möglich sei, mir über ihre Adresse zu schreiben. Das Ganze sollte aber zu hundert Prozent ohne das Wissen von Mama erfolgen. Natürlich, meinte sie, hätte sie mit einem „Ja“ geantwortet. Auch versprach sie, niemanden etwas über einen etwaigen Kontakt zu erzählen. In mir stieg ein wahnsinniges Glücksgefühl auf. Also hatte mich Mutter doch noch lieb! Wenn wir uns schon nicht mehr sehen können, dachte ich, so können wir uns jetzt wenigstens schreiben.
Ich umarmte Frau Dörfler und küsste sie dankbar mehrmals auf die Wange. „Lass aber den Brief bei mir“, riet sie mir noch, „so erfährt niemand etwas davon.“ Mutter und ich hatten somit wieder Kontakt zueinander. Mehr als zwei Jahre schrieben wir uns über Frau Dörfler. Jeden Anfang des Monats legte Mutter 10 D-Mark Taschengeld bei, was dem heutigen Wert eines 50-Euroscheines entsprach. Somit konnte ich mir jetzt nach Herzenslust Brause, Schokolade oder - was eine große Leidenschaft von mir war - Bärenmarke-Büchsenmilch kaufen.
Damit Mama nicht dahinter kam, musste ich all meine leckeren Sachen in freier Natur essen und trinken. Das Versteck für mein Geld wurde die Deckenlampe meines Zimmers. Jene Lampe hatte drei nach oben offene Kelche. Da aus Kostengründen nur ein Kelch mit einer Glühlampe bestückt war, eigneten sich die anderen beiden hervorragend als Spardose. Taschengeld zu besitzen, war zwar damals das Höchste und Schönste für mich, doch meiner Seele tat diese Heimlichtuerei absolut nicht gut. Oft fühlte ich mich hin und her gerissen, wurde zunehmend aggressiver sowie auch teils depressiv. Vieles konnte ich mit meinen gerade erst 13 Jahren gar nicht richtig zuordnen beziehungsweise verarbeiten. Es war im Grunde genommen ein hin- und her Gezerre zwischen zwei Müttern.
Singend und jauchzend vor Glück, ging ich an diesem Tag nach Hause. An meine selbstgebastelten Sandalen dachte ich in diesem Moment nicht mehr. Mama guckte, als ich nach Hause kam, erst einmal, dann noch einmal auf meine Füße. „Was hast du denn mit deinen Schuhen gemacht?“, fragte sie mich mit fast tonloser Stimme. „Zieh die sofort aus“, befahl sie mir.
Kleinlaut und schuldbewusst setzte ich mich auf das Sofa und zog meine schönen Sandalen aus. Mama nahm sie mit zwei Fingern hoch, beäugte sie eingehend, und schüttelte dann entsetzt den Kopf. „Was bist du nur für ein fürchterliches Kind! Weißt du, wie teuer diese Schuhe waren? Ich schlage dir das Geld vom Buckel herunter“, schrie sie nun los.
Erstmals in meinem Leben reagierte ich, als ich merkte, dass sie mir die Schuhe auf den Kopf schlagen wollte, aggressiv. Ich wich zur Seite aus, sodass ihr Schlag daneben ging und brüllte sie an: „Das sind meine Schuhe, ich wollte schon immer Sandalen. Jetzt habe ich mir eben selbst welche gemacht. Und wenn du mich jetzt deshalb schlägst, erzähl ich dies allen Nachbarn.“ Mama blickte mich sprachlos und vollkommen überrascht an. Mit solch einem Gegenpart hatte sie nicht gerechnet. Voller Wut und Zorn schmiss sie die Schuhe daraufhin mitten ins Zimmer. „Du bist und bleibst ein undankbares Geschöpf, geh hin wo du her gekommen bist“, schrie sie mich an. „Was ist denn schon wieder los?“, fragte Papa, der von draußen hereingekommen war. Ich erzählte ihm kleinlaut, was ich getan hatte. „Oh nein, Ulrike, du kommst aber auch auf die unmöglichsten Ideen“, sagte er, sich das Lachen verkneifend.
Mama hatte im Laufe des Tages, zornig und schimpfend, allen Nachbarn meine schönen Sandalen gezeigt. Anschließend jedoch landeten jene in der Mülltonne. Was ich mit dieser Aktion jedoch erreicht hatte, war: Mama ging gleich am nächsten Tag mit mir los und kaufte mir neue Schuhe. Dieses Mal Sandalen!