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Kapitel 3

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Die bevorstehende Einschulung machte mir etwas Mut in meinem Leben. Ich freute mich darauf! Vor allen Dingen freute ich mich auf den Kontakt zu anderen Kindern. Doch wider Erwarten wurde das Leben nach der Einschulung für mich noch trostloser, als es eh schon war. Es gab nur noch eines: lernen, lernen und nochmals lernen. Ich sollte besser, schneller und klüger werden als alle anderen Kinder. Konnte oder wollte ich nicht mehr, kam wie immer die Hundepeitsche zum Einsatz. Mittlerweile hatte ich mich schon fast an dieses Folterwerkzeug gewöhnt.

Von meinen Mitschülern wurde ich in den ersten drei Jahren sehr ausgegrenzt. Der Grund hierfür war: Ich wurde von Mama zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Und dies, obwohl der Schulweg autofrei nur dreihundert Meter von zu Hause entfernt war. Ich durfte nach wie vor keine Freunde mit nach Hause bringen, geschweige denn nach draußen gehen. So blieb ich in den ersten Schuljahren ein ziemlicher Einzelgänger, der so gut wie keine Schulfreunde besaß.

Die Getreideernte war vorüber. Jetzt hieß es, wie jedes Jahr, auf den abgeernteten Getreidefeldern Gänse zu hüten und Getreideähren zu sammeln. Jenes hasste ich wie die Pest! Man lief stundenlang über die hohen Getreidestoppeln, die sich bei jedem Schritt erbarmungslos in die Haut der nackten Füße bohrten. Meine Füße und Beine sahen danach immer aus wie ein Streuselkuchen und brannten wie Feuer.

Die Getreidefelder wurden damals noch mit einfachen Mähwerkzeugen abgemäht, das Getreide dann zu armdicken Bündeln gebunden. Die Bündel stellte man schräg gegeneinander, sodass kleine Kuppeln entstanden. So gestellt, konnte das Getreide samt Stroh gut austrocknen, bevor es nach Hause auf den Dachboden gebracht wurde. Das Sammeln der Getreideähren war damals gang und gäbe. Jeder Kleintierhalter schwärmte nach der Getreideernte aus, um für seine Hühner oder Gänse noch etwas zusätzliches Futter zu sammeln.

Mama, ich und die Gänse zogen also los. Schlick watschelte schnatternd neben mir her. Am Acker angekommen, blieb sie wie immer außen am Rand stehen. Anscheinend piksten auch sie die Strohstoppeln zu arg in ihre gelben Watschelfüße. Außerdem wusste sie genau, dass sie von mir immer wieder Ähren zugeworfen bekam. Der Rest der Herde schnatterte über das leere Feld und sammelte die vereinzelt liegengebliebenen Ähren auf.

Auf die Felder durfte man erst, wenn keine Kuppeln mehr darauf standen, denn sonst kam man in den Verdacht, die Getreidesträuße nicht gesammelt, sondern aus den Kuppeln gestohlen zu haben. Unser Feld war bereits abgeerntet. Auf dem angrenzenden Feld standen die Kuppeln noch. Mama war etliche Meter von mir entfernt, als Schlick sich in die Lüfte erhob und zielsicher auf eine Kuppel im angrenzenden Feld zuflog. Der Landeanflug von Schlick war etwas unbeholfen, sodass durch die heftigen Flügelschläge von ihr eine der Kuppeln zum Einsturz kam. Laut schnatternd sah sie zu mir herüber, was für mich hieß: Komm zu mir, hier kannst du ganz schnell große Bündel sammeln. Flügelschlagend fing sie sofort an, sich von den nun auf dem Boden liegenden Getreideähren ordentlich den Bauch vollzuschlagen. „Na ja, alles, was auf dem Boden liegt“, dachte ich mir „darf ich ja aufsammeln.“ Ich rannte zu Schlick, streichelte und lobte sie für ihre Hilfe.

Schnell hatte ich fünf große dicke Ährensträuße aus den Kuppeln gezogen. Anschließend setzte ich mich an den Rand des Feldes, um auf Mama, die noch sammelte, zu warten. Auf einmal kam Schlick laut schreiend und mit ausgebreiteten Flügeln auf mich zu gerannt. „Was hat sie?“, dachte ich und schon spürte ich eine derbe Hand in meinem Nacken. „Du verstohlenes Etwas, dir werde ich helfen, mein Getreide zu stehlen“, schrie mich eine dunkle, barsche Stimme an. Es war der Bauer, dem das Feld mit den Kuppeln gehörte. Zornig packte er mich an den Schultern und schüttelte mich wie einen leeren Sack hin und her. „Ich werde dir dein Stehlen austreiben“, schrie er und erhob die Hand, um mir eine Ohrfeige zu geben. Ich wollte mich gerade wegdrehen, um seinen Schlag auszuweichen, als er anfing, heftig mit Händen und Füßen um sich schlagen. „Du Mist Vieh, ich dreh dir den Kragen um“, schrie er. Erst jetzt merkte ich, dass Schlick versuchte, mich zu verteidigen. Sie hatte den Bauern mehrfach heftig in die Beine und Arme gebissen.

Gott sei Dank war Schlick eine gute Fliegerin. Sie flog ihn in akrobatischer Weise immer wieder an, um ihn erneut irgendwo beißen zu können. Schlick war so schnell, dass er sie nicht zu fassen bekam. Ich musste bei diesem Schauspiel, trotz meiner Angst, was da jetzt wieder auf mich zukommen würde, lauthals lachen. „Du mit deinem verstohlenen Balg“, herrschte der Bauer Mama, die aufgrund des Geschreis zu mir geeilt war, an. „So eine Taugenichts-Göre in unser Dorf zu holen. Ledige Bälger gehören weggesperrt. Seht zu, dass ihr hier verschwindet. Außerdem werde ich dieses Stehlen dem Jugendamt melden.“ Mama wurde schneeweiß im Gesicht und sagte daraufhin kleinlaut zu dem Bauern: „Hier, nimm die Ähren-Sträuße und lass es gut sein.“ Zu mir gewandt sagte sie: „Komm Ulrike, wir gehen nach Hause!“

„Oh nein“, dachte ich, „was habe ich jetzt wieder getan? Bestimmt bekomme ich deshalb zu Hause wieder Schläge.“ Schlick watschelte auf den Weg nach Hause laut schnatternd neben mir her, als wollte sie sagen: „Keine Angst, ich verteidige dich schon.“ Schläge bekam ich dieses Mal ausnahmsweise nicht.

Papa war zunehmend weniger zu Hause. Er hatte sich in der letzten Zeit sehr verändert. Was war los mit ihm? Liebte er mich nicht mehr? Doch, er liebte mich sehr! Kam aber mit seinem Leben nicht mehr klar und hatte sich dem Alkohol zugewandt. Mein geliebter Papi war ein anderer Mensch geworden. Dies tat mir sehr weh! Trotzdem kämpfte ich mit und für ihn.

Ich liebte ihn nach wie vor sehr. Kam er abends nicht wie gewohnt nach Hause, ging ich auf die Suche nach ihm. Meistens fand ich ihn volltrunken in irgendeiner Kneipe, unfähig einen Schritt alleine zu gehen. Gemeinsam aber schafften wir es immer wieder, heil nach Hause zu kommen. Obwohl ich sonst keinen Schritt alleine außer Haus gehen durfte, hatte Mama hierbei keine Einwände. Im Gegenteil, oft sagte sie: „Geh Papa suchen und bring ihn nach Hause, auf dich hört er wenigstens.“ Mama hatte sich, wie ich in späteren Jahren erfuhr, zu dieser Zeit schon lange von Papaabgewandt. Sie lebten nicht mehr miteinander, sondern nebeneinander.

Wieder einmal musste ich losziehen, um Papa zu suchen. Er arbeitete seit Tagen in einem etwa zwei Kilometer entfernten Ort. Da ich ihn in seiner angestammten Kneipe nicht fand, lief ich bis zum Ende unseres Dorfes. Die Straße zu jenem besagten, nächsten Ort führte durch einen Wald. Es machte mir Angst, alleine, in stockdunkler Nacht dort durchzulaufen. Somit blieb ich am Dorfrand stehen und rief mehrmals lautstark in den Wald „Papa, Papa“ hinein. Doch niemand gab mir Antwort, nichts rührte sich. Enttäuscht, ihn nicht gefunden zu haben, begab ich mich wieder auf den Heimweg. Am Ortsrand befand sich eine Baugrube, die ich auf dem Hinweg nicht weiter beachtet hatte. Doch als ich jetzt zurücklief, sah ich, dass dort ein Fahrrad lag. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass es Papas Fahrrad war. Und, oh Gott! Auch Papa lag da. Ich dachte im ersten Moment, er sei tot. Er lag bäuchlings und volltrunken auf der vom Regen aufgeweichten Erde. Sein Gesicht lag zur Hälfte im Schlamm. Ich drehte ihn auf den Rücken, wobei er ein paar gurgelnde Laute von sich gab. Er lebte also noch, Gott sei Dank!

Da ich ihn nicht mehr auf die Beine stellen konnte, entschloss ich mich, unseren kleinen Leiterwagen von zu Hause zu holen, um ihn damit heimzukarren. Ich zerrte Papa aus dem Schlammloch, legte ihn auf die Seite und versuchte, ihm zu erklären, dass ich gleich wiederkommen würde, um ihn zu holen. Schnell lief ich nach Hause und schnappte mir den Leiterwagen. Hastig zog ich die hintere Quersprosse, die die Leiterteile zusammenhielt, heraus. So müsste ich Papa transportieren können, dachte ich und lief mit meinem Leiterwägelchen wieder los.

Obwohl Papa sehr schlank war, war es für mich verdammt schwer, ihn in den fahrbaren Untersatz zu zerren. Kaum, dass ich ihn etwas hochgezogen hatte, sackte er wieder in sich zusammen. Endlich hatte ich es geschafft, ihn zumindest mit dem Oberkörper im Wägelchen zu haben. Die Füße hinter uns her schleifend, da sein Körper zu lang für das Gefährt war, zog ich ihn nach Hause. Zu Hause angekommen, bat ich Mama nach draußen, um mir zu helfen, Papa nach drinnen zu bringen. Als sie jedoch sah, wie schmutzig und volltrunken er war, schrie sie: „Hättest du das Schwein doch im Dreck liegen und verrecken lassen, ich helfe dir nicht! Außerdem, nach drinnen kommt mir dieses Dreckstück erst recht nicht!“ sagte es, drehte sich um und ging zurück ins Haus.

„Nein“, dachte ich, „ich lasse Papa nicht alleine hier draußen.“ Mitsamt dem Leiterwagen karrte ich ihn in seine Werkstatt. „Dort ist es wenigstens nicht so kalt wie im Freien“, dachte ich mir. Ich holte mir aus dem Haus eine Decke und wollte neben Papa wachen, doch schon war Mama zur Stelle und zog mich ziemlich unsanft aus der Werkstatt. Mit lautem Knall warf sie die Tür hinter sich zu und drehte mit den Worten: „Der kann hier drinnen seinen Rausch ausschlafen, wozu er dich nicht braucht“, den Schlüssel im Schloss herum, zog ihn ab, und steckte ihn in ihre Schürzentasche. „Und du“, sagte sie zu mir, „gehst nun schleunigst zu Bett.“

Aus Angst um Papa konnte ich jedoch nicht schlafen. Gegen Morgen überwogen meine Sorgen um ihn und ich schlich mich aus dem Haus, hinüber zur Werkstatt. „Papa, Papa“, rief ich, als ich vor der verschlossenen Tür stand. Von drinnen hörte ich Papa sagen: „Mein Mädel, lass gut sein. Geh zu Bett, mir geht es schon wieder gut!“ Aufatmend schlich ich ins Haus zurück. Wieder im Bett liegend, dankte ich Gott, dass alles, wie schon so oft, doch mal wieder gut ausgegangen war.

Der Vergangenheit dunkle Zeiten

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