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Kapitel 2

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Ein neues Leben fing an! War dieses Leben viel besser als das bei unserer Mutter? Nein, das war es nicht! Wir wurden zwar nun immer satt, hatten warme Kleidung, ein warmes Zimmer und wurden gepflegt, doch auch hier gab es niemanden, der uns in die Arme nahm, uns Liebe und Geborgenheit schenkte.

In der Nachkriegszeit waren die Kinderheime oft bis zum Bersten gefüllt. Manche der Eltern waren im Krieg oder durch Krankheit ums Leben gekommen. Viele Familien wurden auch durch die Kriegswirren getrennt. Kinder, die dadurch auf der Strecke blieben, wurden somit in Heimen untergebracht. Es herrschte ein sehr rauer Ton in unserem Haus. Bei jeder Kleinigkeit hagelte es harte, schon fast brutale Strafen. Mein Bruder Leon konnte und wollte vor lauter Trauer um seine Mutter sowie wegen der ganzen Situation nicht essen. Zur Strafe wurde er kurzerhand für ein paar Stunden in den Keller gesperrt. Dort war es dunkel, nass und kalt. Leon war zwar nicht alleine in diesen Kellerräumen, denn es wurden ständig Kinder, die etwas ausgefressen hatten, nicht gehorchten oder sich einfach nicht fügten, aus sogenannten erziehungstechnischen Gründen dort unten eingesperrt. Auch waren Prügel mit irgendwelchen Stöcken und Ruten an der Tagesordnung. Für meinen Bruder Leon, der dies alles mit seinen etwas über drei Jahren schon relativ bewusst erlebte, war es die absolute Hölle.

Mein Gesundheitszustand hatte sich im Großen und Ganzen unter der Pflege des Heimes etwas stabilisiert. Die Haare, die mir aufgrund des Wanzen- und Läusebefalls abgeschoren worden waren, wuchsen langsam wieder nach. Die offenen Stellen am Körper, die sich zum Teil schwerwiegend entzündet hatten, heilten allmählich auch ab. Von meinem Bruder Leon wurde ich allerdings getrennt. Leon wurde in ein Zimmer zu gleichaltrigen Jungs gesteckt, und ich bezog ein Baby-Zimmer mit etwa zehn Bettchen. Den größten Teil des Tages wurden hier die Babys mit Mullbinden an die Gitterstäbe ihrer Bettchen festgebunden. Für ein Kleinkind eine äußert brutale Methode der Ruhigstellung. Dieses Leben hieß im Klartext: essen, schlafen und ruhig sein, ähnlich einem angeketteten Tier.

Mittlerweile zählte ich acht Monate. Des Öfteren kamen jetzt Menschen, um mich anzusehen. Dazu wurde ich jedes Mal fein zurechtgemacht und in einen Kinderwagen gesetzt. Das Gute an der Sache war: Ich sah dabei immer meinen Bruder sowie er mich. Auch er wirkte dann meist wie aus dem Ei gepellt. Er musste sich bei diesen Aktionen still und brav neben den Kinderwagen, in dem ich saß, stellen. Was wollten diese Menschen von uns? Warum sah man uns wie ein Stück Schlachtvieh von allen Seiten an? Alle schüttelten den Kopf und gingen wieder. Oft hörten wir auch den Satz: „Nein, zwei wollen wir nicht!“ Aha… Wir sollten in eine Pflegefamilie vermittelt werden. Deshalb dieses Herausputzen und zur Schau stellen.

Im Juni 1949 veränderte sich mein Leben von einer Stunde auf die andere grundlegend. Wieder wurden wir einem Ehepaar vorgestellt. Die Frau: etwa um die 35 Jahre alt, etwas herrisch wirkend und Hausfrau. Der Mann: ein sehr weichherziger, sensibler Mensch, etwa um die 50 Jahre alt, von Beruf eigenständiger Licht- und Wasserinstallateur. Beiden gefiel besonders ich sehr gut. Auch sie wollten nur ein Kind, da, wie die Frau meinte, sie ja selbst eventuell noch Kinder bekommen könne. Außerdem, erklärte sie der Heimleitung, wolle sie sowieso nur ein Mädchen, ein Junge käme für sie absolut nicht in Frage. Da es in dieser Zeit extrem schwierig war, Kinder zur Adoption oder Pflege zu vermitteln, gab die Heimleitung ihren Grundsatz, uns nur zusammen zu vermitteln, auf und stimmte somit einer Pflegschaft in dieser Familie zu. Sie waren froh, wieder ein Kind vermittelt zu haben. Wie schon gesagt waren erstens die Heime nach Kriegsende mehr als überfüllt, zweitens lebten viele Familien durch die Kriegsjahre noch getrennt und drittens wusste niemand so recht, wie sich die weltliche sowie wirtschaftliche Lage in nächster Zukunft entwickeln würde.

Für mich hieß diese Vermittlung: Trennung! Endgültige Trennung von meinem Bruder. Tags darauf trat ich mit meiner kleinen Habe - einem Kleidchen und ein paar Schuhen - den Umzug zu meinen neuen Eltern an. Meine neue Mama nahm mich freudestrahlend und herzlich küssend in ihre Arme. Papa streichelte mir liebevoll über den Kopf und meinte: „Mein kleines Mädchen, jetzt wird alles gut“. Beide waren mächtig stolz, nun eine kleine Tochter zu haben!

Endlich durfte ich die ersehnte Wärme und Geborgenheit, die ich so lange vermisst hatte, verspüren. Von allen Seiten wurde ich verwöhnt, geherzt und geliebt. Die körperlichen wie auch die seelischen Wunden heilten allmählich ab. Das Sitzen, welches ich im Heim mit meinen nun schon fast acht Monaten durch das ständige ans Bett gefesselt sein noch nicht konnte, beherrschte ich nun auch so langsam. Ich war überglücklich und fühlte mich geborgen! Diese Harmonie sollte mir aber nur in den ersten Jahren meines Lebens vergönnt sein.

Eineinhalb Jahre nach meinem Einzug bei meinen Pflegeeltern wurde meine leibliche Mutter bei einer Polizeikontrolle verhaftet. Bei ihrer Vernehmung gestand sie, sich mit jenem Schaustellerburschen nach Frankreich abgesetzt zu haben. Immer häufiger von starken Schuldgefühlen geplagt, offenbarte sich Mutter ihrem damaligen Freund Joe. Sie erzählte ihm reumütig von dem Zurücklassen ihrer Kinder. Entsetzt über so viel Kaltschnäuzigkeit und Hartherzigkeit schickte Joe sie umgehend nach Hause. Noch am Tag ihrer Beichte kaufte er ihr ein Zugticket und brachte sie zur Bahn. Er setzte sie mit den Worten: „Sieh zu, dass du schnellstmöglich zu deinen Kindern kommst, und versuche gut zu machen, was du an ihnen verbrochen hast“ in den Zug. Alleine und innerlich von Gewissensbissen zerfressen, trat Mutter die Heimreise zurück nach Deutschland an. An der Grenze angekommen wurde sie, da sie nach wie vor wegen uns Kindern auf der Fahndungsliste stand, verhaftet.

Ihr wurde der Prozess gemacht sowie das Sorgerecht für uns Kinder entzogen. Die Verurteilung beinhaltete eine dreijährige Bewährungsstrafe. Aufgrund der vorliegenden Situation wurde unserer Mutter ein Arbeitsplatz sowie eine Wohnstelle in der Bayrischen Pfalz zugewiesen. Dort lernte sie ein halbes Jahr später ihren zukünftigen Mann Herbert kennen. Jener hatte sehr viel Nachsicht mit ihrer Vergangenheit und gab ihr in jeder Beziehung Halt und Hilfestellung. Durch ihn fand sie wieder den Weg zurück in die Normalität. Gerne hätte sie im Nachhinein manches - besonders, dass sie ihre Kinder so einfach im Stich gelassen hatte - ungeschehen gemacht. Jene Schuldgefühle begleiteten Mutter, ihr ganzes Leben.

Nach fast drei Jahren - meine leibliche Mutter hatte mittlerweile diesen Mann geheiratet und lebte nun in geordneten Verhältnissen - durfte sie meinen Bruder Leon, der bis dahin noch im Heim lebte, wieder zu sich nehmen. Mein Zuhause allerdings blieb weiterhin bei den Pflegeeltern, die mich ohnehin adoptieren wollten.

Mutter wurde die Adresse meiner Pflegefamilie genannt sowie freigestellt, mich zu sich zu nehmen oder mich zur Adoption freizugeben. Mutter zögerte lange Zeit, gab mich aber, da auch die Pflegeeltern immer wieder um eine Adoption baten, dann doch hierfür frei. Mutters Begründung dafür war: Aus dem Mädchen mache sie sich sowieso nicht so viel! Trotz dieser Aussage stellte sie jedoch zur Bedingung, dass sie mich weiter, wie bisher, ab und an besuchen beziehungsweise sehen dürfe. Die Besuche verteilten sich aufgrund der Entfernung auf drei bis viermal im Jahr. Mama kündigte dann immer an: „Tante Gerda kommt uns wieder besuchen!“ Ich liebte diese Tante Gerda abgöttisch, ohne zu wissen, dass sie meine leibliche Mutter war.

Mama, meine Adoptiv-Mutter, liebte mich auf ihre Weise. Ihre Liebe war mehr als überschwänglich, besonders dann, wenn alles nach ihren Wünschen und Vorstellungen verlief. War dies nicht der Fall, schlug ihre bis dahin übergroße Liebe ganz schnell in Hass, Wut und extremen Jähzorn um. Papa dagegen war ein sehr ruhiger, ausgeglichener Mensch, der mir sehr viel Wärme und Verständnis entgegen brachte. Bei ihm hatte ich stets das Gefühl des Verstehens und der Geborgenheit.

Meine ersten Lebensjahre waren von ständiger, schwerer Bronchitis begleitet. Dies seien, so meinten die Ärzte, die Nachwehen der mangelnden Ernährung sowie der häufigen Unterkühlung in der Baby Zeit. Mama hatte mich in diesen Zeiten aufopfernd gehegt und gepflegt. Nichts war ihr zu viel. Als sie anfangs von den Ärzten aufgefordert wurde, mich wieder ins Heim zurückzubringen, da ich nach deren Meinung nie ein gesundes Kind werden würde, protestierte sie mit aller Macht dagegen. Ihre Worte waren stets: „Sie ist mein Mädchen und bleibt mein Mädchen! Ich liebe sie über alles und gebe sie nie und nimmer mehr her!“ Mama stellte ihre Liebe zu mir immer über alles.

Noch heute frage ich mich: Was empfand sie wirklich für mich? War es wirklich Liebe? War es Egoismus? Oder war ich ganz einfach ihr Besitztum? Denn nach Liebe fühlte sich mein weiteres Leben wirklich nicht an… Als ich anfing, wie bei allen Kindern allgemein üblich, eine gewisse Willenskraft sowie Abneigungen zu entwickeln, gab es massive Probleme. Mamas Motto war: Gehorchen, gehorchen und nochmals gehorchen, ansonsten gab es Liebesentzug oder aber Schläge auf den nackten Po.

Eines Abends, ich war damals etwas über vier Jahre alt, gab es, wie des Öfteren schon, fettige, schwabbelige, gekochte Schweinefüßchen mit Brot und Senf. Man konnte sich zwar zur damaligen Zeit glücklich schätzen, Fleisch, egal welches, auf den Tisch stellen zu können, doch für mich war jenes mehr als ekelig. Das Nahrungsangebot sowie die finanziellen Mittel waren in dieser Zeit immer noch sehr gering. Fleisch gab es, wenn überhaupt, nur einmal pro Woche. Ansonsten wurden die hungrigen Bäuche mit Suppe, Gemüse und Kartoffeln gesättigt. Gekochte Schweinefüße waren damals ein beliebtes, billiges und ausgiebiges Essen. Zumindest in Franken!

Mir jedoch wurde es schon übel, wenn ich diese nur sah. Ich konnte und wollte jenes wabbelige Zeug nicht essen. Mama bezeichnete mich daraufhin zornig als „undankbares Geschöpf“ und meinte, ich solle froh sein, dass ich überhaupt etwas zu essen bekäme. Andere hätten mich schon längst verhungern lassen. Da ich keinen Bissen zu mir nahm, setzte sich Mama nun neben mich. Bei solchen Aktionen, die in der letzten Zeit öfter vorkamen, hatte sie dann immer eine Hundepeitsche in der Hand. Diese bestand aus drei Lederriemen, die jeweils zwei Zentimeter breit und etwa zwanzig Zentimeter lang waren. Diese waren bis zu einem Drittel miteinander verflochten und zu zwei Drittel offen. In dem geflochtenen Abschnitt war ein Karabiner eingearbeitet, an dem Mama dieses Folterwerkzeug zur Aufbewahrung in unserer Küche an einen Hacken aufhing. Vor dieser Peitsche hatte ich einen heillosen Respekt! Mehrere Male schon war mein Po ziemlich unsanft mit ihr in Berührung gekommen.

Mama schob mir nun abwechselnd Brot und wabbeliges Fleisch in den Mund. Gehorsam und in Angst vor einem Peitschenschlag schluckte ich alles, was mir Mama reichte. Kaum, dass ich den letzten Bissen geschluckt hatte, wurde es mir verdammt übel. Und schon passierte es. Alles Gegessene schoss wieder aus mir heraus, zurück in meinen Teller und natürlich auch darüber hinaus. Mama schrie mich an, ich solle mich nicht so anstellen, es gäbe nichts anderes zu essen, außerdem sei ich ein verwöhntes Gör. Sie hätte mich doch lassen sollen, wo ich gewesen war. Unter weiterem Gezeter und Geplärr, holte sie einen Lappen und putzte das Erbrochene vom Tisch. Als sie alles gesäubert hatte, stellte sie mir einen frischen Teller hin, was für mich bedeutete, dass das ganze Szenario nun von vorne losging. Kaum, dass ich den frischen Teller realisiert hatte, lag auch schon wieder ein Stück dieses ekligen Zeugs darauf. In mir stieg Zorn und vor allem Ekel hoch. Mit meinen Armen auf dem Esstisch herum lümmelnd, versuchte ich, mich gegen ein nochmaliges Essen dieses widerlichen Fleisches zu wehren. Durch das Gerangel meiner Arme warf ich ein am Tisch liegendes Schneidebrettchen mitsamt einem großen Brotmesser vom Tisch. Oh Gott! Mama sprang auf und schrie: „Die hat mit dem Messer nach mir geworfen! Das ist eine Mörderin! Ich erschlage dieses undankbare Geschöpf noch! Warum nur haben wir uns nur so etwas ins Haus geholt?“ Zugleich zog sie mich an den Haaren hinter dem Esstisch hervor, riss mir das Höschen vom Po und prügelte mit besagter Hundepeitsche auf meinen nackten Hintern ein.

Papa versuchte, Mama mit den Worten, „Lass sie, schlag sie doch nicht so. Ulrike hat doch nur durch ihr Gerangel die Sachen vom Tisch gefegt und nicht absichtlich nach dir geworfen. Sie wollte dies ganz bestimmt nicht!“ zu beruhigen. Doch Mama ließ sich in ihrem Jähzorn von Papa nicht beirren. Sie schrie immer wieder, ich hätte willentlich mit dem Messer nach ihr geworfen und schlug weiter auf mich ein. Als Mama endlich von mir abließ, bedeckten dicke, blutige Striemen meinen Po. Wie erstarrt und vor Schmerz unfähig, mich zu bewegen, stand ich in der Mitte unserer Küche. Heulend fragte ich Mama: „Warum tust du mir so weh?“ Mich mit einem bösen Blick ansehend, ging sie, ohne mir eine Antwort darauf zu geben, aus dem Zimmer.

Auch Papa hatte unterdessen die Küche verlassen. Er war geflohen, um das Ganze nicht mit ansehen zu müssen. Immer noch stand ich stocksteif in der Mitte des Zimmers, als ich spürte, dass etwas Warmes an meinen Beinen entlang lief. In diesem Moment kam Mama mit einem nassen Waschlappen und wischte kommentarlos die Blutspuren ihrer Schläge von meinen Beinen ab. Mit den Worten: „Dann gehst du eben hungrig zu Bett. Außerdem wirst du genau so wie deine Alte“ wurde ich anschließend von ihr zu Bett geschickt.

Wimmernd lag ich in meinem Bett und spürte, wie das Blut immer noch aus meinen Wunden am Po sickerte. Warum nur, dachte ich, hat sie mich so geschlagen? Warum? Ich liebte sie doch und wollte sie auf keinen Fall ärgern. Nur dieses wabbelige, eklige Fleisch konnte ich einfach nicht essen! Mir wurde schon übel, wenn ich nur daran dachte. Warum verstand sie das nicht? Und was ist eine Mörderin? Mit meinen etwas über vier Jahren wusste ich weder was eine Mörderin war noch konnte ich den Satz „die wird genau so wie ihre Alte“, verstehen.

Vor Schmerzen wimmernd drehte ich mich von einer auf die andere Seite. Mein Po tat nach wie vor verdammt weh, außerdem war mein Bettlaken durch das immer noch aussickernde Blut feucht und klebte wie Heftpflaster an mir. Meine Hände faltend, betete ich zum lieben Gott und bat ihn, mir zu helfen. Ich sagte zu ihm: „Ich liebe doch meine Eltern und will auch ein ganz braves Kind sein. Du musst mir bitte helfen, dass ich dies werde.“ Ich schloss mein kindliches Gebet mit: „Ich will auch Mama nie mehr weh tun oder ärgern.“

Schlaflos wälzte ich mich weiter hin und her, als ich plötzlich ein leises Schnattern vernahm. Es war Schlick, unsere Gänsedame. Oh, wie schön wäre es jetzt, dachte ich, wenn ich zu Schlick ins Nest kriechen könnte. Schlick hatte einen Clan von sechs weiteren weißen Gänsen um sich. Sie war mit ihren vier Jahren die Herrscherin des Stalles und mit ihren drei kleinen, schwarzen Tupfen auf dem Kopf nicht zu übersehen. Keiner durfte den Stall betreten, geschweige denn ihre Jungen ansehen. Flügelschlagend und böse zischend verteidigte sie ihr Revier. Alles, was in ihre Nähe kam, wurde beißend und zischend in die Flucht geschlagen.

Anfangs wurde auch ich bekämpft, doch nach einiger Zeit entwickelte sich eine wunderbare, innige Tierfreundschaft, die lange achtzehn Jahre anhielt. Nur ich durfte nachsehen, wie viel Eier sie ausgebrütet hatte, ob alle junge Gänschen okay waren, und ob die kleine Familie auch noch genug Futter hatte. Sah Schlick mich irgendwo im Hof, kam sie flügelschlagend und schnatternd auf mich zugerannt. Sie schlang dann ihren langen, weißen Gänsehals um meine dünnen Kinderbeine und beknabberte mich liebevoll mit ihrem großen, gelben Schnabel. Oft lag ich halb mit in ihrem Nest. Dann war Schmusen und Putzen angesagt. Zuerst rieb sie ihren Gänsekopf, sanft schnatternd, mal links, mal rechts an meinem Gesicht. Den langen Hals aufstellend, beäugte sie mich anschließend mit schräg gehaltenem Köpfchen von allen Seiten. Meist nahm ich dann mit beiden Händen ihren Kopf und presste dabei stürmische Küsse auf ihren Schnabel. Durch ein Schütteln und Schlenkern ihres Kopfes sowie das mehrmalige Abstreifen ihres Kopfes an ihren Federn zeigte sie mir, dass ihr dies nicht besonders gefiel. Gutmütig, wie sie war, ließ sie dies aber trotzdem immer wieder über sich ergehen. Oftmals, wenn ich so neben ihr lag, wurden meine Haare von ihr geputzt. Strähne für Strähne zog sie sie durch ihren Schnabel. Da ich Locken hatte, die sich nicht so hinlegten, wie sie das wollte, wurde die ganze Prozedur immer wieder wiederholt. War sie dann endlich zufrieden mit ihrem Werk, stupste sie mich mit ihrem Schnabel mehrmals in den Nacken. Danach legte sie ihren langen Hals in meinen Schoss und schloss genüsslich ihre Augen.

Kam ich zu ihr in das Nest, war der Ablauf immer der gleiche. Sie war ein außergewöhnlich kluges und auch sehr liebes Tier! War sie mit ihrem Clan hinter unserem Haus im Teich, wo sich meist die Nachbarsgänse auch aufhielten, und ich rief nach ihr: „ Schlick, Schlick“, gab sie mir immer mit einem „scherr, scherr“ Antwort. An Schlick und ihre liebevollen Gänseaugen denkend, schlief ich endlich ein.

Mein Po war am andern Tag geschwollen und die Schlagfurchen verschorft. Mama musste nach einigen Tagen, da sich meine Wunden entzündet hatten, einen Arzt mit meinem geschlagenen Po behelligen. Als dieser mein geschundenes Hinterteil sah, meinte er jedoch lapidar: „Es ist schade um jeden Schlag, der daneben geht. Kinder brauchen ab und an eine Tracht Prügel, anders würde eine gute Erziehung nicht funktionieren.“ Er schrieb eine Salbe auf und meinte: „Alles halb so schlimm, in ein paar Tagen ist das wieder abgeheilt.“ Für Mama waren diese seine Worte eine Bestätigung ihrer Erziehungsmethoden. Dass jener Arzt damals eine derart brutale Kindererziehung vertrat, kann ich bis heute nicht verstehen.

Der Zeitgeist vieler Eltern und Erziehungsberechtigten war damals allerdings: Kinder müssen strengstens gezüchtigt werden, damit sie anständige Menschen werden und in allen Lebenslagen bestehen können.

Die Zeit heilt alle Wunden, so auch meinen Po. Papa war mein ein und alles! Ich liebte ihn - und er mich - abgöttisch. Schläge bekam ich von ihm nur ganze zweimal in meinem Leben und das auch nur auf Drängen von Mama hin.

Die Liebe zu Papa war meiner Mama zunehmend ein Dorn im Auge. Sie wollte mich und meine Liebe für sich ganz alleine besitzen. Kroch ich am Sonntagmorgen ab und an mal zu Papa ins Bett, um mit ihm zu rangeln oder zu kuscheln, gab es, sobald Mama dies bemerkte, ein riesiges Theater. Sie schimpfte mit uns beiden und meinte: „Ein Kind gehört nicht in das Bett der Eltern, schon gar nicht in Vaters Bett.“ Papa versuchte ihr immer wieder zu erklären, dass ein Kind das brauche und dies doch auch ganz normal sei. Mama aber ließ Vaters Argument nicht gelten und vertrat weiterhin ihren Standpunkt.

Spielsachen besaß ich jede Menge. Es wurde mir das schönste und teuerste gekauft. Spielen jedoch durfte ich nur alleine damit. Mama lebte immer in der Angst, es könne mir geklaut oder kaputtgemacht werden.

Sehr oft fühlte ich mich alleine, einsam und traurig! Obwohl wir einen schönen, großen Garten unser Eigen nannten, durften keine Spielkameraden zu mir kommen. Mama schirmte mich vor allem und jedem ab. Traurig stand ich oftmals am Zaun unseres Gartens und sah den spielenden Kindern vor unserem Haus zu. Soviel ich auch bettelte, ebenfalls hinausgehen zu dürfen, es half nichts - ich durfte nicht!

Eines Tages ließ sich Mama doch erweichen und lud zwei Nachbarskinder zum Spielen mit mir in unseren Garten ein. Dies war für mich der Himmel auf Erden. Endlich mal Kinder um mich und so richtig nach Lust und Laune toben und spielen können. Von nun an durften die Nachbarskinder einmal pro Woche zu mir kommen. Leider dauerte dies nicht sehr lang. Mama vermisste irgendwann ein kleines, goldenes Armkettchen. Sie behauptete, ich hätte es genommen, dann verloren oder vielleicht sogar an meine Spielkameraden verschenkt. Nein!!! Ich hatte dieses Kettchen nicht genommen! Mama ließ sich aber nicht davon abbringen und meinte immer wieder, ich hätte es geklaut. Sie bezeichnete mich als Lügnerin und „stehlendes Etwas“. Wieder fiel in ihrem Jähzorn der Satz: „Du bist die Gleiche wie deine Alte!“ Was sollte denn nur immer dieser Satz? Ich konnte mir nicht erklären, was dieser zu bedeuten hatte.

Obwohl ich immer wieder verneinte, dieses Kettchen genommen zu haben, glaubte sie mir nicht. Wie so oft bekam ich wieder mal die Hundepeitsche zu spüren. Überdies gab es ein absolutes Spiel- und Besuchsverbot der Nachbarskinder. Weinend lag ich mal wieder in meinem Bett. Der Po schmerzte von den Schlägen. Noch mehr jedoch schmerzte, dass Mama der Meinung war, ich hätte sie bestohlen und belogen. Ich liebte Mama und ich hätte sie nie bestohlen. Sie konnte auch lieb und nett sein, mich in den Arm nehmen und mit mir kuscheln. Besonders lieb zu mir war sie, wenn sie von Freunden und Bekannten zu hören bekam, sie hätte ja so ein hübsches, süßes Mädchen. Ich war dann immer ihr ein und alles sowie das liebste und folgsamste Kind der Welt.

Warum half Papa mir nicht? Glaubte er mir auch nicht? Dachte auch er, ich hätte dieses doofe Kettchen gestohlen? Warum stand er nicht, wie früher so oft, beschützend hinter mir? Wenn er auch nicht viel gegen Mama hatte ausrichten können, so tat es doch gut, ihn hinter mir zu wissen. Seine Liebe zu spüren. Wo war Papa überhaupt? In der letzten Zeit war er sehr wenig zu Hause gewesen und wenn, dann war er irgendwie anders als sonst. Bei diesen Gedankengängen nahm mich der Schlaf in seine Arme. In dieser Nacht nässte ich das erste Mal mein Bett ein. Morgens bekam ich von Mama zu hören: „Du bist ein großes Schwein, mit sechs Jahren noch ins Bett zu pieseln. Ich werde dies allen Leuten erzählen.“ Was sie dann auch fleißig bei allen Bekannten und Nachbarn tat.

Das Bettnässen bekam ich für lange Zeit nicht in den Griff. So sehr ich mich auch bemühte, es passierte immer und immer wieder. Mama bezeichnete mich jedes Mal als unmögliches, schweinisches Kind. Oft musste ich zur Strafe in meiner Pisse liegen bleiben, damit, wie sie meinte, ich lernte, so etwas nicht mehr zu tun. Ich schämte mich sehr dafür und wurde immer ruhiger und zog mich immer mehr zurück. Oft plagten mich des Nachts Albträume von großen Gewässern. Ich stand dann am Ufer eines großen Wassers und versuchte, auf die andere Seite zu gelangen, doch das Wasser wurde immer breiter und größer. Die gegenüber liegende Uferseite verschwand im Wasser. Zugleich kam ein großer Wasserstrudel auf mich zu und zog mich in die Tiefe. Das Wasser nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken und niemand half mir. Schweißgebadet und zitternd vor Angst wachte ich aus diesen Träumen auf. Lieber Gott, betete ich oft beim Zubettgehen, bitte, bitte lass mich diesen Traum nicht mehr träumen, ich will auch ganz brav sein. Doch alles Beten half nichts. Dieser scheußliche und angsteinflößende Traum schlich sich immer und immer wieder in mein Bett. Aus Angst vor diesem Traum weinte ich mich oftmals in den Schlaf.

Der Vergangenheit dunkle Zeiten

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