Читать книгу Der Vergangenheit dunkle Zeiten - Ulrike Eschenbach - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеEin frühzeitiger, strenger Winter mit reichlich Schnee hatte eingesetzt. Für uns Kinder war die Freude groß. Endlich ging es nach dem langweiligen Herbst wieder mit Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen los. Für mich sollte dieser Winter jedoch wenig Erfreuliches bringen. Nach einem fröhlichen Nachmittag auf dem Schlittenberg kam ich steif gefroren wie ein Brett nach Hause. Hose und Jacke standen durch die gefrorene Feuchtigkeit von alleine. Gott sei Dank! - Mama war nirgends zu sehen. Schnell schlüpfte ich zu Papa in die warme Werkstatt. Als er meinen robotermäßigen Gang sah, fing er lauthals an zu lachen und sagte: „Du bist ja ein richtiger Eisklumpen! Komm, zieh dich aus, ich hole dir trockene Kleidung, bevor Mama kommt.“ Zu spät! Die Tür ging auf und Mama stand vor uns. „Was ist denn hier los?“ Und dann: „Ulrike, wie siehst du denn aus? Sieh ganz schnell zu, dass du ins Haus kommst“, fauchte sie mich an. Zu Papa gewandt sagte sie in einem sehr barschen Tonfall: „Du brauchst weder darüber zu lachen, noch brauchst du Ulrike in Schutz zu nehmen. Ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, sich nass und schmutzig zu machen, aber sie kann ja einfach nicht gehorchen.“ Ihr Gezeter beendete sie mit einem: „In Zukunft werde ich dafür sorgen, dass sie so nicht mehr nach Hause kommt“.
Frierend schälte ich mich in unserer Küche aus den steif gefrorenen Klamotten. Als Mama meine blau gefrorenen Beine samt den Kleidern sah, begann sie wieder, mit mir zu schimpfen. „Du gehst heute ohne Essen zu Bett, damit du lernst, was Gehorchen heißt“, keifte sie mich an. „Mama, bitte, ich habe aber noch Hunger! Ich möchte nur noch schnell etwas essen und trinken. In Zukunft werde ich auch ganz folgsam sein. Bestimmt!“, bettelte ich sie an. Doch Mama ließ sich nicht erweichen. „Du gehst jetzt ins Bett und zwar schnell, sonst setzt es noch etwas“, waren ihre Worte. „Mama, bitte, ich möchte nur eine Tasse warmen Kakao, dann geh ich auch gleich zu Bett.“
„Nein! Wer nicht folgt, geht hungrig zu Bett, oder soll ich die Peitsche holen?“ Warum nur war sie immer so streng? Heiß schossen mir die Tränen in die Augen. Gleichzeitig legte sich ein bleiernes Band um meinen Brustkorb und ich kämpfte mit starker Atemnot. Als sie sah, wie schwer ich atmete, forderte sie mich erneut auf: „Schauspielere jetzt bitte nicht und geh zu Bett.“
Ich wollte ihr antworten, doch mir fehlte die Luft dazu. Außerdem wurde mir von jetzt auf gleich übel und schwindelig sowie mein Gesicht schneeweiß. Mama bemerkte, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmte. Sie holte Papa aus der Werkstatt, der sofort einen Arzt benachrichtigte. Als jener eintraf, hatten sich meine Lippen durch die immer stärker werdende Atemnot schon bläulich verfärbt. Die Diagnose: Asthma! Eine Cortison- und Beruhigungsspritze brachte mir Erleichterung. Zwei Stunden später war alles vorbei und mir ging es wieder gut. Nach mehreren eingehenden Untersuchungen stand fest, dass keine Bronchial- oder Lungen-Erkrankung dahintersteckte. Die einstige, ständig immer wiederkehrende Bronchitis im Kleinkindalter war seit Längerem ausgeheilt. Kein Arzt fand je heraus, woher diese Bronchialverkrampfungen kamen. Die Anfälle häuften sich zwar, doch nach Einnahme von Medikamenten, die ich immer nur im akuten Fall nehmen musste, klang alles ziemlich schnell wieder ab. Mama war jetzt sehr besorgt um mich. Schimpfe und Prügel gab es von nun an keine mehr.
Als der Winter, den ich durch meine nicht diagnostizierbare Krankheit nur täglich eine halbe Stunde erleben durfte, zu Ende war, schickte man mich zu einer vierwöchigen Kinder- Kur. Dort wurde, da ich in den vier Wochen Kuraufenthalt trotz Sport und sonstiger körperlicher Belastungen keine Anfälle mehr hatte, die Diagnose „psychisch bedingt“ gestellt.
Diese vier Wochen Kur waren für mich der Himmel auf Erden. Ich genoss es, mal so richtig mit anderen Kindern toben und spielen zu dürfen, ohne ausgeschimpft zu werden. Ich fühlte mich überaus glücklich. Besonders erfreut war ich, dass ich nun auch das Einnässen im Griff hatte. Mehr als super und wohltuend empfand ich auch die Abende in diesem Kinder-Kurheim. Nach dem Abendessen saßen wir Kinder mit unseren Betreuerinnen bei Kerzenschein in der Runde. Es wurden Geschichten vorgelesen oder mit Begleitung einer Gitarrenspielerin im Reigen gesungen. Anschließend brachten uns die Betreuerinnen liebevoll zu Bett. Diese mir im Kurheim entgegengebrachte Liebe und Geborgenheit stabilisierte mich körperlich sowie seelisch.
Wieder zu Hause, holte mich ganz schnell das alte Leben wieder ein. Durch die Diagnose „psychisch bedingtes Syndrom“ unterstellte mir Mama des Öfteren, ich sei eine Schauspielerin und genauso raffiniert wie die Alte. Wieder dieser Satz. Diese Alte. Diese Andere. Wenn ich Mama danach fragte, wer diese Andere oder Alte denn sei, bekam ich zur Antwort: „Ach, du bist manchmal genauso wie Tante Gerda!“
Tante Gerda? Ja, sie kam immer noch hin und wieder zu Besuch. Ich liebte sie nach wie vor sehr. Jedes Mal, wenn sie nach ihren Besuchen bei uns wieder nach Hause fuhr, gab es bei ihr und mir reichlich Tränen. Aber was sollte ich mit ihr gemeinsam haben? Ich verstand dies nicht!
Mama ging seit Kurzem halbtags arbeiten, was für mich bedeutete, etwas weniger unter ihren Argusaugen zu stehen. Meine Psyche hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt. Die Anfälle verringerten sich mehr und mehr. Was ich aber trotz halbwegs guter Psyche nicht in den Griff bekam, waren meine schulischen Leistungen. Mathe und Deutsch lagen meist bei vier oder fünf. Ich konnte mich noch so anstrengen, es klappte nicht. Mir fehlte es an der Konzentration. Tausend Gedanken sausten durch meinen Kopf, nur nicht die Mathe-Zahlen.
Wieder einmal hatte ich eine Fünf in Mathe geschrieben. Noch abends, als ich schon im Bett lag, haderte ich mit mir, dass es wieder nur eine Fünf war. Wie würde da das Zeugnis ausfallen? Was wird Mama dazu sagen? Gibt es wieder Prügel von ihr? An all dies denkend, sah ich auf meinen Nachttisch das Handarbeitszeug aus meiner Schule liegen. Obenauf steckte eine große Sticknadel. Gedankenverloren nahm ich sie und setzte sie an meinen Oberschenkel an. Schmerzen durchzogen mein Bein, als ich die stumpfe Nadel in die Haut und dann weiter ins Gewebe bohrte. Es war ein einmalig schöner, wohltuender Schmerz. Von diesem Abend an war das Stechen in meine Oberschenkel oder Arme ein fast allabendliches Ritual. Je stärker ich den Schmerz spürte, desto besser fühlte ich mich. Die Materialien bestanden mittlerweile aus größeren Stopfnadeln, feinen Stricknadeln oder Nagelscheren. Dieses Stechen gab mir eine gewisse Befriedigung sowie Kraft und innere Ruhe. So zumindest empfand ich es damals.
Es hatte Zeugnisse gegeben. Oh Gott, mein Zeugnis war, wie zu erwarten gewesen, grottenschlecht. Was kam da nun wieder auf mich zu? Langsam und mit einem unguten Gefühl im Bauch schlenderte ich nach Hause. Erwartungsvoll und forschend zugleich sah mich Mama, als ich die Küche betrat, an. „Ich habe die Versetzung geschafft!“, erklärte ich ihr zaghaft.
„So, na dann lass mal sehen.“ Mama las es, sah mich an und schon legte sie los. „Du faules Stück, du bist es nicht wert, dass wir dich aus dem Dreck gezogen haben. Du bist nicht nur verlogen und frech, sondern auch noch strohdumm und faul. Das ist der Dank dafür, dass wir dich großgezogen haben. Wir hätten dich lassen sollen, wo du gewesen bist.“ Enttäuscht und entsetzt über Mamas Worte kroch unwahrscheinlicher Zorn in mir hoch. Mit den Füßen aufstampfend erwiderte ich: „Ich mag nicht mehr, ich gehe zu meiner Patin Helene oder zu Tante Gerda, dann kannst du mich nicht mehr schimpfen und schlagen.“
Oh nein! Das hätte ich nicht sagen sollen! Mama griff nach der Hundepeitsche, die wie immer in der Küche parat hing. Was dies nun bedeutete, wusste ich leider zu genau. Ich rannte, so schnell ich konnte, in mein Zimmer und warf mich bäuchlings auf mein Bett. Hinter mich langend, zog ich meinen Schlüpfer vom Po und wartete mit zusammengebissenen Zähnen auf die Hiebe, die da nun kommen würden. Mama war von meiner Reaktion derart geschockt, dass sie erst mal einige Sekunden reglos hinter mir stand. Dann jedoch schlug sie mit einem unvorstellbaren Jähzorn auf mich ein. Ich hatte das Gefühl, dass meine Passivität sie noch mehr anstachelte. Sie schlug mich dieses Mal nicht nur auf den Po, sondern verteilte ihre Peitschenhiebe auf alles, was sie gerade treffen konnte. Ich gab keine Regung von mir. Keine Träne floss aus meinen Augen. Bei dem ganzen Szenario versuchte ich mir vorzustellen, dass ich mir den Schmerz selbst zufügte. Dass ich mich fest und tief stach, was sogar ein leichtes Glücksgefühl in mir aufkommen ließ. Als Mama merkte, dass keine Reaktion von mir kam, ließ sie allmählich von mir ab und ging wortlos aus dem Zimmer.
Noch lange danach lag ich auf meinem Bett und überflog gedanklich mein bisheriges Leben. Ich war nun zwölf Jahre alt und konnte die schönen Stunden, die ich in meinem jungen Leben erlebt hatte, an fast nur einer Hand abzählen. Was würde ich noch erleben müssen? War solch ein Leben überhaupt lebenswert? Oftmals, wenn ich des Nachts im Bett lag und an den scheußlichen Wasser-Traum dachte, den ich hin und wieder immer noch träumte, stellte ich mir vor, den Traum zur Wirklichkeit zu machen. Das wäre die beste Lösung, um in eine andere, bessere Welt zu gehen. Ich dachte bei mir: „Sich einfach in ein großes Wasser fallen lassen. Schwimmen kann ich eh nicht, also würde das Ganze wie in meinem Traum enden. Aber was kommt danach? Und wie ist diese andere Welt? Bestraft mich der liebe Gott dann, wenn ich dies mache? Nein, ich darf das nicht tun! Ich möchte ja auch leben!“ Meine nächsten Gedanken waren: Irgendwann bin ich volljährig, dann gehe ich. Aber was wird dann aus Papa? Nun ja, eigentlich liebe ich sie ja beide. Es sind ja meine Eltern. Und Mama mag ich auch irgendwie. Sie hat auch gute Seiten. Wenn sie nur nicht manchmal so verdammt streng und oftmals auch ungerecht wäre. Vielleicht, wenn ich mich in der Schule etwas mehr anstrenge, wird Mama zufriedener und ist dann nicht mehr so zornig. Und ich könnte auch gar nicht weggehen. Papa würde ohne mich noch mehr trinken, als er es eh schon tut.
Gedanken über Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Oh! Ich hörte Papas Stimme. Er war nach Hause gekommen. Leise schlich ich mich zu meiner nur angelehnten Zimmertür und lauschte den ziemlich lauten Worten meiner Eltern. Der Lautstärke nach, dachte ich, geht es mit Sicherheit um mein mieses Zeugnis. Ich versuchte, Papas Stimme zu erlauschen, um zu hören, wie er reagierte. Was ich jedoch nun zu Ohren bekam, hing zwar mit meinem Zeugnis zusammen, ließ mir aber bei jedem Wort, das ich hörte, den Atem mehr stocken.
Mein Gott! Tante Gerda war also meine leibliche Mutter! Ich hatte nichts und war ein Nichts! Kam mit null Habe aus einem Heim. Besaß denselben schlechten Charakter wie meine leibliche Mutter. Jene war eine Lügnerin, eine Hure, ein Abschaum der Gesellschaft. „Wie kann da das Kind anders sein?“, hörte ich Mama zu Papa sagen. Der nächste Satz von Mama war: „Wir werden noch viel Ärger mit Ulrike bekommen, sie hat die ganzen schlechten Eigenschaften ihrer Mutter geerbt, zudem ist sie auch noch strohdumm und faul. Wir hätten nie ein Kind adoptieren sollen. Man weiß eben nie, was man für einen Bastard groß zieht, das siehst du ja jetzt an Ulrike.“ Wie Papa darauf reagierte, beziehungsweise antwortete, registrierte ich nicht mehr. Das Gehörte brannte wie loderndes Feuer in mir. Tante Gerda war meine leibliche Mutter… Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schlagartig wurde mir nun auch klar, warum mich die Kinder im Dorf des Öfteren „Stiefmütterchen“ nannten. Fragte ich, warum sie mich so nannten, bekam ich zur Antwort: „Du bist halt ein Stiefkind!“ Was aber ein Stiefkind war, konnte oder wollte mir keines der Kinder erklären. Jeder in unserem Ort wusste also, dass ich ein Adoptivkind war, nur ich selbst wusste es nicht. Ich kam mir in dem Moment belogen und betrogen vor. Wie in Trance schlich ich zurück in mein Zimmer und legte mich wieder auf mein Bett. Mein Kopf und meine Seele waren wie ausgebrannt. Ich lag da, starrte an die Decke meines Zimmers und fragte mich nur immer wieder: „Was kommt noch?“
Mittlerweile war es Abend geworden. Immer noch lag ich auf meinem Bett und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Irgendwann hörte ich Papa rufen: „Ulrike, komm essen!“ Zögernd, da ich nicht wusste, ob ich jetzt zu ihnen gehen sollte oder nicht, stand ich auf. Erst als Papa nochmals rief, ging ich dann doch in die Küche zum Abendessen. Jeder Schritt, den ich machte, schmerzte. Mir war in diesem Moment jedoch nicht klar, was mehr weh tat: die vorher erhaltenen Prügel oder meine Seele. Stumm setzte ich mich an den Abendbrottisch. Weder Mama noch Papa sagten ein Wort zu mir. Mein Blick schweifte verstohlen über die beiden Menschen, die ich bis heute als meine Eltern bezeichnet hatte. Mit einem Schlag wurde mir klar, warum ich bei Tante Gerda immer das Gefühl der Liebe und Geborgenheit verspürte. Warum mir jeder Abschied nach ihren Besuchen weh tat. Es war das Blut, das zu Blut zog!
Bei Mama, auch wenn ich längere Zeit keine Schelte und Prügel bekam und sie mich dann ab und an auch mal herzte und küsste, spürte ich immer eine gewisse Kälte. Anders bei Papa, bei ihm spürte ich trotz alledem immer Wärme, Offenheit und Liebe, vor allem, wenn er nicht getrunken hatte. An diesem Abend stand für mich fest: Ich gehe! Ich gehe zu meiner leiblichen Mutter!