Читать книгу Der Vergangenheit dunkle Zeiten - Ulrike Eschenbach - Страница 5

Kapitel 1

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Ein wunderschöner, lauer Spätsommertag neigte sich dem Ende zu. Die untergehende Sonne verschwand als rot glühender Ball langsam hinter dem Horizont. Die letzten roten Streifen, die durch die grauen Abendwolken schimmerten, verliehen dem Ganzen ein Gefühl des Friedens.

An Gerda, die gedankenversunken am Fenster ihres kleinen, notdürftig eingerichteten Zimmerchens stand, zog dieses Naturschauspiel jedoch unbemerkt vorüber. Zu sehr war sie mit sich und der bevorstehenden Geburt ihres zweiten Kindes beschäftigt. Zudem machten sich unendliche Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit in ihr breit. Warum nur, dachte sie, hatte sie diesem Mann noch einmal Glauben und Vertrauen geschenkt? Warum noch einmal an seine Lügen geglaubt?

Schon einmal hatte er sie betrogen und belogen. Sie unmittelbar nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes verlassen. Verlassen wegen einer anderen Frau, die noch dazu einst ihre beste Freundin gewesen war. Einige Monate später kam er, um Verzeihung bittend, wieder zu ihr zurück. Er machte ihr überzeugend glaubhaft, nur sie und seinen Sohn zu lieben. Von der anderen Frau, behauptete er, hätte er sich endgültig und für immer getrennt.

Gerda liebte diesen Mann mit allen Fasern ihres Herzens und verdrängt somit alles mit ihm negativ Erlebte. All seinen Schwüren und Versprechungen glaubend, begann sie eine erneute Partnerschaft mit ihm. Er war zu ihr zurückgekommen, was für sie bedeutete, dass er seine kleine Familie doch sehr liebte. Gerda genoss diese neu auflebende Liebe und Gemeinsamkeit in vollen Zügen. Überaus glücklich und zufrieden schwebte sie auf rosa Wolken. Doch die Realität sollte sie sehr bald einholen.

Gerda wurde zum zweiten Mal schwanger. Sie bekam das zweite Kind von diesem Mann. Dieses Mal verließ er sie schon während der Schwangerschaft. Lapidar erklärte er ihr, sie nicht mehr zu lieben. Kalt und herzlos offenbarte er ihr dann noch, diese andere Frau – von der er mittlerweile auch Vater eines Sohnes sei - heiraten zu wollen. Sein letzter Satz, bevor er ging, war: „Gerda, du musst nun zusehen, wie du alleine klar kommst! Da ich nun selbst eine Familie habe, kann ich dich auch nicht mehr unterstützen.“

Was war dieser Mann für ein Mensch? Unendlicher Hass gegen ihn brodelte in ihr. Er hatte sich für diese andere Frau, ihre einst beste Freundin, entschieden und somit auch gegen sie und ihre beiden Kinder. Warum nur ließ er sie mit den beiden Kindern einfach im Stich? Warum? Zählte bei seiner Entscheidung nur Hab und Gut? Sie selbst war arm wie eine Kirchenmaus, ihre Freundin jedoch kam aus einer gut situierten Familie.

Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Wie sollte ihr Leben nun weitergehen? Von was sollte sie ihre Kinder ernähren? Sie bewohnte im Anbau eines Bauernhofes ein kleines Zimmerchen, ausgestattet nur mit dem Notdürftigsten. Eltern, die ihr hilfreich zu Seite stehen könnten, hatte sie nicht. Die Mutter war an Krebs gestorben, als sie 13 war, der Vater kam aus dem Krieg nicht mehr zurück. Ihre große Schwester Marianne, bei der sie bis zum 17. Lebensjahr lebte, konnte und wollte sich ihrer nicht mehr annehmen. Marianne hatte sich zwischenzeitlich gut verheiratet und lebte in Norddeutschland. Gerda, die durch den Krieg in das über 500 Kilometer entfernte Bayern verschlagen worden war, musste hier nun ihr Leben mutterseelenallein meistern. Außerdem wurde in dieser Zeitepoche ein uneheliches Kind, jetzt würden es dann sogar schon zwei sein, als eine große Schande angesehen, mit der sich Marianne, ihre Schwester, auf keinen Fall behaften und belasten wollte. Zudem waren die Zeiten mehr als karg, sodass jede Familie zusehen musste, ihre hungrigen Münder satt zu bekommen.

Der Krieg war zwar schon seit drei Jahren zu Ende, doch der erhoffte Aufschwung noch lange nicht in Sicht. Die erfolgte Währungsumstellung tat ihr Übriges für die all und überall herrschende Not. Gerda empfand mit ihren knapp einundzwanzig Jahren nur noch Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Zukunft. Ihre Gedanken kreisten beständig um das eine: kein richtiges Zuhause, keine Arbeit, nichts zu essen und dann noch die alleinige Verantwortung für zwei Kinder. Um jedoch weiter mit dem Schicksal hadern oder weiter über das vergangene Leben nachdenken zu können, blieb Gerda keine Zeit mehr. Die Wehen setzen ein. Die Geburt ihres zweiten Kindes stand bevor. Eine kleine Seele drängte an das Licht der Welt.

Am 1.9.1948 um 20:33 Uhr erblickte ich in einem kleinen Ort in Bayern das Licht der Welt. Ich erhoffte mir in diesem Dasein Liebe, Harmonie und Geborgenheit. Wünsche, die jede kleine Seele unbewusst mit auf Erden bringt.

Die Hebamme legte mich meiner Mutter mit den Worten „Ein zierliches, aber gesundes Mädchen“ in die Arme. Aber, oh Gott! Was war das, was ich da fühlte? Liebe, Geborgenheit? Freude über meine Geburt - über mein Dasein?

Nein!!! Es war eher Abneigung und Gleichgültigkeit.

Mit aller Kraft meiner kleinen Seele versuchte ich, mich an Mutter zu kuscheln, ihre Nähe und Wärme zu spüren, mir ihren Geruch einzuprägen. Doch nein, das wollte sie nicht! Mutter legte mich ziemlich forsch neben sich auf das Bett und drehte sich, ohne mich weiter zu beachten, zur Seite. Da lag ich nun – ungewollt, ungeliebt, suchend nach ein bisschen Wärme und Geborgenheit. Noch kam die Hebamme jeden Tag zu meiner Mutter, um nach dem Rechten zu sehen. Es ging mir soweit gut. Ich wurde immer frisch zu Recht gemacht, bekam genug zu essen und hatte ein schönes, warmes Bettchen. Was ich jedoch schmerzlich vermisste, war die Nähe und Wärme meiner Mutter.

Getauft hatte man mich zwischenzeitlich auf den Namen Ulrike. Mein um zwei Jahre älterer Bruder Leon krabbelte des Öfteren zu mir in mein Bettchen, um mit mir zu kuscheln und zu schmusen. Dies tat mir sehr gut, da ich dadurch wenigstens etwas menschliche Nähe und Wärme erfahren durfte.

Leon wurde ab und an von der Mutter über den Kopf gestrichen oder durfte auf ihren Schoß zum Kuscheln, ich jedoch lag unbeachtet in meinem Bettchen. Auf Nachfragen der Hebamme, die die Lieblosigkeit meiner Mutter mir gegenüber bemerkt hatte, erklärte Mutter: „Ich liebe dieses Mädchen nicht! Es ist schuld an meiner ganzen Misere!“ Außerdem meinte sie, mit nur einem Kind, ihrem Sohn, würde sie zu jeder Zeit über die Runden kommen, mit zwei Kindern jedoch seien ihr in jeglicher Hinsicht die Hände gebunden.

„Diese Ablehnung wird sich über kurz oder lang legen“, entgegnete die Hebamme. Doch damit hatte sie weit gefehlt. Im Gegenteil: Mutters Gefühle schlugen nicht in Liebe, sondern teilweise sogar in Hass um.

Die Betreuungszeit der Hebamme war zu Ende. Mutter war von nun an auf sich alleine gestellt. Oft vergaß sie nun einfach, mir etwas zu essen zu geben. Nicht einmal mein Geschrei erinnerte sie dann daran. Ich war ihr verdammt gleichgültig und somit hilflos ausgeliefert. Oftmals nahm sie meinen Bruder an die Hand und verschwand einfach für einige Stunden. Egal, ob ich Hunger oder Durst hatte: Sie ging.

Hin und wieder kam die Bäuerin, welche auch unsere Vermieterin war, um nach mir zu sehen. Sie war besorgt über mein oft stundenlanges Schreien. Mutter jedoch sagte zu ihr, sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, ich sei halt ein Schreikind! Nein! Ich war kein Schreikind! Ich hatte ganz einfach nur Hunger und Durst. Überdies lag ich oft stundenlang in meinen durchnässten, eingekoteten Windeln, wodurch der Po immer wunder wurde und teilweise sehr schmerzte.

Seit einigen Tagen war mein Bruder jetzt wieder öfters bei mir zu Hause, in unserem kleinen Stübchen. Mutter ging von nun an alleine weg und kam oftmals erst nach mehreren Stunden wieder zurück. Es hatte allmählich den Anschein, dass Mutter auch für meinen Bruder nichts mehr empfand. Auf Nachfragen der Bäuerin, die bei Mutters Abwesenheit ab und an nach uns sah, erzählte Mutter ihr, sie sei zur Arbeitssuche unterwegs.

Wer aber stellte eine Mutter mit zwei Kleinkindern ein, die dadurch nur bedingt arbeiten konnte? Niemand! Mutter bekam keine Arbeitsstelle, so sehr sie sich auch bemühte. Ferner war die Zeit um 1948 von sehr hoher Arbeitslosigkeit geprägt. Einen Arbeitsplatz bekamen nur jene, die Vollzeit mit mindestens fünfzig Stunden in der Woche arbeiten konnten.

Mutter wurde nach einigen Wochen der Arbeitssuche klar, dass sie so schnell keine Arbeit bekommen würde. Trotzdem ging sie täglich unter dem Vorwand, sie suche Arbeit, außer Haus. Sie floh vor uns Kindern und vor ihrer Verantwortung. Oftmals lief sie stundenlang in dem kleinen Ort, in dem wir wohnten, ziellos durch die Straßen, immer mit den Gedanken behaftet: Wie soll es weitergehen? Das bisschen Geld, welches sie sich vor meiner Geburt gespart hatte, war fast aufgebraucht. Es musste etwas geschehen! Wir brauchten dringend Kleidung, Nahrung und Holz zum Heizen. Noch war es Spätherbst und halbwegs warm, aber wie sollte es werden, wenn der Winter Einzug hielt? Ein soziales Netz, wie in der heutigen Zeit, gab es damals nicht. Ab und zu brachte uns die Bäuerin, eine gute, sanftmütige Frau, die selbst Mutter von vier Kindern war, ein Töpfchen heiße Suppe, dazu ein Stückchen Brot oder ein paar gekochte Kartoffeln. Für mich gab es dann meist eine leckere, dicke Milchsuppe. Milch, angereichert mit Haferschleim und Honig, die so richtig schön satt und zufrieden machte.

Mutter war am Verzweifeln; haderte mit sich, mit uns Kindern und der ganzen Welt. Immer öfter, wenn sie so planlos durch den Ort lief, kam bei ihr der Gedanke hoch, sich einfach davonzustehlen. Sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. An unserer Situation hatte sich noch nicht viel verändert. Mutter arbeitete zwar jetzt stundenweise auf dem Bauernhof, auf dem wir wohnten, sowie auf dem Nachbarhof. Somit hatten wir wenigstens genug zu essen sowie ein warmes Stübchen. Ansonsten aber herrschte noch die gleiche Verzweiflung und Armut. Zu Heiligabend brachte die Bäuerin meiner Mutter und meinem Bruder einen deftigen Schweinebraten mit Knödeln. Für mich hatte sie einen leckeren Grießbrei zubereitet mit Ei und Honig. Ein Heiligabend-Menü, welches für die damaligen Verhältnisse nicht exklusiver hätte sein können. Wir waren in dieser Heiligen Nacht alle satt und zufrieden, dank dieser lieben Frau.

Im Januar unterbreitete die Bäuerin, welche ja auch unsere Vermieterin war, meiner Mutter das Angebot, sie könne ja im Sommer voll auf ihrem Hof sowie dem Nachbarhof mitarbeiten, um etwas Geld zu verdienen. Kost und Wohnen für uns wäre zusätzlich frei. Wir Kinder, schlug sie vor, würden dann zusammen mit ihren Kindern von der auf dem Hof lebenden Oma betreut werden. „Dieses Angebot klingt eigentlich sehr gut“, antwortete Mutter. Ihre Gedanken jedoch gingen schon seit Längerem andere Wege. Sie wollte wieder frei sein, keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Das Leben wieder in vollen Zügen genießen können und nicht am Tag hart auf dem Bauernhof arbeiten, um abends dann todmüde noch uns Kinder versorgen zu müssen. Nein! Das wollte sie nicht. Behielt diese Gedanken aber aus gutem Grund für sich.

Einige Tage später fuhr Mutter mit der Bahn in die nahe gelegene Kreisstadt, in der Hoffnung, vielleicht dort Arbeit zu finden. Arbeit, die nicht so schwer war, wie die auf dem Bauernhof. Doch wiederum kehrte sie am Abend erfolglos zurück. Verzweifelt über ihre Situation, machte sich in ihr immer mehr der Gedanke breit, einfach davonzulaufen und alles hinter sich zu lassen. Mit diesen Gedanken behaftet, setzte sie sich in die Bahnhofsgaststätte, um schnell noch, bevor sie wieder in das Elend zu uns nach Hause musste, einen Kaffee zu trinken. Ein junger Mann, der an der Theke stand, spürte und sah die Niedergeschlagenheit von Mutter. Er sprach sie an und fragte, ob er ihr behilflich sein könne. Mutter schüttelte traurig den Kopf und antwortete: „Mir kann nichts und niemand helfen!“

„Es gibt keine Probleme, die man nicht lösen kann“, meinte Joe, wie der junge Mann hieß. Es entstand ein nettes Gespräch zwischen beiden, wobei sich Mutter mehr und mehr verstanden und geborgen fühlte. Sie schüttete ihm ihr Herz über ihrer Arbeitslosigkeit, Not und Einsamkeit aus. Was sie jedoch verschwieg, waren wir: ihre beiden Kinder.

Joe lebte, wie sich herausstellte, im gleichen Ort wie Mutter. Er arbeitete bei den Schaustellern, die mit ihren Wohnwagen den Winter am Rande des Ortes verbrachten. Mutter traf sich von nun an fast jeden Abend mit ihm. Durch ihre nächtlichen Ausflüge waren wir Kinder nun nicht nur tagsüber, sondern auch noch des Nachts sehr oft alleine. Dieses häufige Alleinsein machte uns Angst! Außerdem juckte und biss es uns am ganzen Körper. Von der Kälte, da den Ofen, wenn Mutter nicht anwesend war, ja niemand heizte, ganz zu schweigen. Als Mutter wieder einmal nach durch Gaukelter Nacht frühmorgens nach Hause kam, stand für sie fest: Sie würde ihr Leben ändern!

Ändern zu ihrem Vorteil. Sie wollte wieder leben, wieder frei sein. Frei, ohne Kinder und Verantwortung. Sie meinte, dem Glanz und Rausch der großen weiten Welt folgen zu müssen. Nachdenklich sah sie auf uns beide herab. Leon, ihren Sohn, dachte sie, liebte sie ja. Das Mädchen aber hasste sie. Es erinnerte sie durch die jetzt schon frappierende Ähnlichkeit mit ihrem Vater stets an den Mann, der sie betrogen und verlassen hatte. Der Schuld an ihrer Not trug. Nein, eigentlich wollte sie keines der beiden Kinder mehr! Sie waren ihr nur ein Klotz am Bein!

Mutter sprach im Laufe des Vormittags mit der Bäuerin. Erklärte ihr, sie müsse Morgen in aller Frühe ganz dringend, zwecks Familienangelegenheiten, zu ihrer Schwester nach Hamburg fahren und käme erst in ein oder zwei Tagen wieder zurück. Sie bräuchte sich aber nicht um uns Kinder zu kümmern, da eine gute Freundin von ihr uns versorgen würde. Ferner meinte sie, sei sie vielleicht sogar schon am nächsten Tag wieder zurück.

Am darauffolgenden Morgen verließ uns Mutter. Sie ging, wie sie dachte, in ein schöneres, sorgenfreieres und glanzvolleres Leben. Gewissenlos und ohne sich noch einmal umzudrehen, schloss sie die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel im Schloss herum, legte diesen unter den Fußabstreifer und verschwand. Sie ließ alles, ihre Kinder kalt und hartherzig ihrem Schicksal überlassend, hinter sich.

Leon fing gegen Abend an zu weinen. Er fror, hatte Hunger und fühlte sich verdammt einsam. Wo war Mutter? Warum kam sie nicht? Er liebte sie doch so sehr! Doch alles Weinen half nichts. Niemand kam! Leon versuchte verzweifelt, die Tür zu öffnen. Er wollte zur Bäuerin ins Haupthaus laufen und sie um Essen bitten. Doch so sehr er sich auch bemühte, es half nichts. Die Tür war und blieb verschlossen. Das Feuer im Ofen war schon, kurz nachdem Mutter gegangen war, erloschen. Die Außentemperaturen dieser Wintertage betrugen weit unter zehn Grad minus. Unser Zimmerchen wurde kälter und kälter. Ich selbst konnte vor lauter Schwäche, Hunger und Kälte nicht mehr schreien oder weinen, sondern nur noch vor mich hin wimmern. Leon legte sich hoffend, dass Mutter vielleicht des Nachts zurückkäme, zu mir ins Bettchen. So konnten wir uns gegenseitig in dieser eisigen Januarnacht etwas wärmen.

Ein gleißender Sonnenstrahl stahl sich am nächsten Morgen in unser Stübchen und schmolz mit seinem warmen Lichtstrahl kleine Löcher in die zugefrorene, mit Eisblumen verzierte Fensterscheibe. Blinzelnd blickte Leon in das grelle Sonnenlicht und entdeckte dabei die wunderschönen Eisblumen. Schlaftrunken kletterte er aus unserem Bettchen, um diese aus der Nähe betrachten zu können. Er presste sein Gesicht an die zugefrorene Fensterscheibe und blickte durch das kleine, geschmolzene Eisblumenloch hinaus in den Hof.

Dort draußen jedoch herrschte Totenstille. Nichts und niemand wart zu sehen. Leon wurde in diesem Moment wieder bewusst, dass wir alleine und eingesperrt waren. Beide empfanden wir mächtigen Hunger und Durst, doch keiner war da, der uns etwas geben konnte. Leon schrie, heulte und stampfte mit den Füßen an die Tür, doch niemand hörte ihn. Entmutigt gab er nach einiger Zeit auf. Verzweifelt fing er an, unser Zimmerchen nach etwas Essbarem zu durchsuchen. Das Einzige, was er fand, war - ein Würfel Rama.

Bewaffnet mit einem Glas Leitungswasser und dem Rama- Würfel, schlüpfte er zitternd vor Kälte wieder unter meine Bettdecke. Leon schleckte fast die Hälfte des Würfels hungrig in sich hinein. Anschließend schmierte er auch mir jede Menge davon in den Mund. Danach tranken wir Wasser. Unser Bettzeug war mittlerweile von Rama und Wasser gezeichnet. Aber egal, Hauptsache war: Wir hatten etwas zu essen und zu trinken.

Nach langen, endlos wirkenden Stunden, hörten wir ein Geräusch. Es wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht. Wer kam da? War es Mutter? Nein! Die Bäuerin kam, um kurz mal nach uns zu sehen. Sie erschrak zutiefst, als sie uns in dem eiskalten Zimmer vorfand. Sie war der festen Überzeugung gewesen, die von Mutter besagte Freundin würde sich um uns kümmern und uns versorgen. Mit Entsetzen erkannte sie, dass wir den ganzen vergangenen Tag sowie die darauf folgende Nacht frierend und hungrig in unserem kalten Zimmer, alleine und eingesperrt, verbracht hatten. Sofort heizte sie den Ofen an und brachte uns etwas Warmes zum Essen. Sie nahm uns in die Arme und gab uns Trost. „Mutter“, meinte sie, „kommt bestimmt bald zurück.“ Was sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht wusste oder ahnte, war, dass weder sie noch wir Kinder Mutter so schnell wiedersehen würden.

Mutter war nun schon seit vier Tagen verschwunden. Keiner wusste, wo sie war und wie es weitergehen sollte. Da weder unsere Mutter noch die sogenannte gute Freundin auftauchte, kümmerte sich, soweit es ihr möglich war, unsere Vermieterin, die Bäuerin, um uns. Mit Bestürzung stellte sie fest, wie verdreckt und verwahrlost wir gelebt hatten. Unsere Köpfe waren von Läusen und Wanzen zerfressen. Die Körper von Leon und mir übersät mit Krätze. Mein Po und das Geschlechtsteil waren durch das ausgebliebene Säubern von Urin und Kot entzündet und eitrig.

Fünf Tage nach dem Verschwinden meiner Mutter verständigte die Bäuerin die Gemeinde unseres Ortes. Jene wiederum gab die Sachlage an das Jugendamt sowie die Polizei weiter. Daraufhin wurden wir in ein nahegelegenes Kinder- und Waisenheim gebracht. Die Bäuerin ließ es sich aufgrund der Nähe nicht nehmen, uns einmal wöchentlich dort zu besuchen. Somit war sie über das Haus sowie unseren weiteren Werdegang informiert.

Jahrzehnte später erzählte mir die Tochter der Bäuerin, Frau Zach, alles hier vorab Geschriebene. Da sie damals unsere Situation hautnahe miterlebt hatte, konnte sie mir bis ins kleinste Detail darüber berichten. Laut der Ärzte, erinnerte sie sich, hätte ich angeblich nur durch das Essen der Rama und Trinken des Wassers überlebt. Ihre Mutter, meinte sie, wäre auch sehr um mich und mein weiteres Wohl besorgt gewesen. Als sie erfuhr, dass ich in eine Pflegestelle vermittelt worden war, setzte sie alle Hebel in Bewegung, mich auch in jener besuchen zu können. Ihre Gedanken waren stets: Sollte sich für das kleine Mädchen kein geeignetes Zuhause finden lassen, würde sie es, trotz ihrereigenen vier Kinder, zu sich nehmen. Leider, erzählte Frau Zach, hätte ihre Mutter mich in der Pflegefamilie nur ganze zwei Mal besuchen dürfen. Jene Familie hätte panische Angst gehabt, mich wieder hergeben zu müssen. Aufgrund dessen verboten sie ihr jegliche weiteren Besuche.

Was mich bei den Erzählungen beziehungsweise den Gesprächen mit Frau Zach sehr traurig machte, war, dass mich ihre Mutter bis zu ihrem Tod nicht vergessen hatte. Trotz des Besuchsverbots meiner zukünftigen Adoptiveltern fragte sie bei jenen noch einige Male nach meinem Befinden. Sehen durfte sie mich nicht mehr. In all den Jahren hatte sie immer wieder über Umwege versucht, etwas von mir zu erfahren.

Ihre Worte in schon sehr hohem Alter waren: „Ich möchte nur eines wissen: Ist mein kleines Mädchen glücklich geworden? Hat sie gut sorgende Eltern bekommen? Und wie sieht sie heute aus?“ Leider, und dies bedauere ich sehr, wollte es das Schicksal nicht, dass sie mich je wieder sah. Letzteres machte mich trauriger als das von Frau Zach über uns Kinder erzählte.

Wie sich anhand von polizeilichen Nachforschungen ergab, hatte sich unsere Mutter mit Joe, der gebürtiger Franzose war, nach Frankreich abgesetzt. Eine Freundin gab es zu keiner Zeit. Wie es aussah, wollte Mutter mit dieser angeblichen Freundin nur Zeit gewinnen, um einen Vorsprung zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war ich knapp fünf Monate alt und hatte schon sehr viele Unschönheiten des Lebens kennenlernen müssen.

Der Vergangenheit dunkle Zeiten

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