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Kapitel 5

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Tags darauf lief ich zum Bahnhof, um mich nach den Abfahrtszeiten sowie den Fahrkarten-Preisen zu erkundigen. Sorgfältig schrieb ich mir alle Zeiten sowie Umsteigemöglichkeiten auf einen Zettel auf. Gott sei Dank besaß ich etwas gespartes Geld, um mir eine Fahrkarte kaufen zu können. Jedes Jahr pflückte ich mit Mama eimerweise Heidelbeeren, die wir dann an die hiesige Marktfrau verkauften. Was ich hierbei verdiente, durfte ich auch behalten. Mein größter Wunsch war, mir Rollschuhe zu kaufen. Also sparte ich eisern jedes Zehnpfennigstück dafür. Leider musste ich nun auf diese noch etwas länger sparen, aber dafür fuhr ich ja zu meiner Mutter. Da ich noch nie alleine mit einem Zug unterwegs gewesen war, beschlich mich des Nachts zuvor große Angst, die lange Zugfahrt nicht zu schaffen.

Die Schule hatte Herbstferien und Mama sowie Papa waren arbeiten, so konnte ich meinen Plan ungestört durchführen. Notdürftig packte ich einige persönliche Sachen zusammen und lief los zum Bahnhof. Überglücklich landete ich Stunden später bei meiner Mutter. Jene nahm mich weinend vor Rührung und Freude in die Arme. Mutter setzte sich sofort telefonisch mit dem Jugendamt auseinander und gab dem Amt alles, was ich erzählt hatte, weiter. Schon eine knappe Stunde später stand ein Mitarbeiter des Jugendamtes vor Mutters Tür. Mit versteinerter Miene hörte er sich an, was ich ihm erzählte. Zur Bestätigung zeigte ich ihm noch meine Prügelstellen, die mittlerweile in den Farben eines Regenbogens auf meinem Rücken schillerten.

Jener Jugendamt-Mensch meinte daraufhin jedoch: „Wahrscheinlich waren diese Prügel nicht ganz unberechtigt. Ihr beide, deine Mutter sowie du, seid uns hinlänglich bekannt.“ Barsch sagte er dann noch zu mir: „Entweder du gehst zurück zu deinen Adoptiveltern oder du kommst in ein Schwererziehbaren-Heim. In diesem“, blaffte er mich an, „herrschen noch viel strengere Regeln.“ Außerdem erklärte er mir: „Bei deiner leiblichen Mutter kannst und darfst du nicht bleiben. Das schreibt das Gesetz nach einer Adoption so vor.“ Zu meiner Mutter gewandt meinte er: „Und sie hätten sich das mal früher überlegen sollen, wem sie ihr Kind anvertrauen. Sie hatten alles selbst in der Hand. Jetzt jedoch ist es zu spät. Sie haben keinerlei Rechte, über das Leben sowie den Aufenthalt ihrer Tochter zu bestimmen. Falls sie sich nicht an die Gesetze halten, leiten wir strafrechtliche Maßnahmen gegen sie ein. Zudem machen sie sich schon mal mit dem Gedanken vertraut, ihre Tochter heute zum letzten Mal gesehen zu haben. Eine Adoption“, setzte er noch barsch hinzu, „ist unwiderruflich und endgültig.“

Über die Worte jenes Jugendamt-Mitarbeiters geschockt, waren wir beide unfähig, etwas darauf zu antworten. „Lieber, lieber Gott“, dachte ich, „warum? Warum darf ich alles, was mir lieb ist, nicht behalten?“ Unendliche Wut stieg in mir auf und ich maulte den Jugendamt-Menschen ohne darüber nachzudenken mit den Worten an: „Auch sie haben nicht über mich zu entscheiden. Ich gehe dahin“, trotzte ich, „wohin ich will, und wenn es sein muss eben in ein Heim!“

Entsetzt über meine Reaktion schrie er mich daraufhin an, ich solle die Klappe halten, sonst würde er mich sofort in ein Erziehungsheim einweisen. Mutter, die durch das ganze Szenario nur noch am Heulen war, versuchte, indem sie mich umarmte, mich zu beruhigen. Doch ich war derart aufgewühlt und aufgebracht, dass ich mich ziemlich unwirsch aus ihren Armen löste und sie anschrie: „Hättest du mich nicht einfach hergegeben, wäre alles anders.“

Für den Jugendamt-Menschen war ich durch diesen Auftritt erst recht ein ungezogenes Gör, wie er sagte. Noch am gleichen Tag abends musste ich auf Geheiß des Amtes wieder zurück nach Hause. Gegen zehn Uhr abends kam Mama, die zwischenzeitlich ein Taxi geordert hatte, um mich zurückzuholen. Mutter nahm mich ein letztes Mal in die Arme. Tränenüberströmt sagte sie zu mir: „Mädel, ich habe dich lieb! Der größte Fehler meines Lebens war, dich zur Adoption frei zu geben. Bitte verzeih mir! Gott schütze dich auf deinem weiteren Lebensweg.“

Bei den letzten Worten meiner Mutter riss mich Mama aus deren Arme und schob mich energisch in das auf uns wartende Taxi. Mama versicherte mir bei der Heimfahrt immer wieder, mich zu lieben und nur mein Bestes zu wollen. Ständig umarmte und küsste sie mich. Bittend flehte sie mich an, doch bei ihr zu bleiben. Sie bräuchte mich so sehr und sie könne ohne mich nicht leben. Auch würde sie mich mehr als ihr eigenes Leben lieben. Wortlos hörte ich mir ihr Gejammer sowie ihre Liebesbezeugungen an. Gedanklich fragte ich mich: Ist das alles Wahrheit? Denn die Wirklichkeit hatte nichts mit diesen Worten zu tun. Die sah bis jetzt ganz anders aus.

Zu Hause angekommen, nahm mich Papa wortlos in die Arme. Er drückte mich an sich und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Ich spürte, dass er weinte. Dies tat mir unendlich weh, denn ich liebte ihn, trotz seiner Alkoholabhängigkeit, nach wie vor sehr. „Bitte weine nicht“, flüsterte ich ihm ins Ohr, „ich bleibe ja bei dir.“

Papa und Mama gaben sich von diesem Tag an sehr, sehr viel Mühe. Es herrschte absolute Ruhe und Harmonie, welches für mich schon fast wieder beängstigend war, da ich dieses noch nie so erlebt hatte. Mama schlug mich nicht mehr, auch ansonsten war sie nicht mehr so streng und zornig. Langsam fing ich an, wieder an ein halbwegs friedliches Leben mit meinen Eltern zu glauben. Nach gut zwei Wochen jedoch wusste ich, warum alles auf einmal so voller Harmonie ablief. Das Jugendamt hatte sich angesagt. Sofort nach meinen Ausbüchsen wurden Mitarbeiter bei meinen Eltern vorstellig und forderten einen Gesprächstermin mit mir. Beauftragte hierfür war Jugendamt-Schwester Magdalena.

Schwester Magdalena war eine christliche Ordensfrau sowie Vorsteherin des Jugendamtes. Sie trug eine bodenlange, dunkelblaue Tracht. Die Haare wurden von einem Häubchen verdeckt, an dem ein fast rückenlanger Schleier befestigt war. Um den Hals trug sie eine grobe, lange Kette, an deren Ende ein großes, bronzefarbenes Kreuz baumelte. Ich kannte diese Schwester aus Zeiten, wo ich noch nicht adoptiert war und sie laut Gesetz einmal im Monat einen Kontrollbesuch bei uns tätigen musste. Sie sollte sich hierbei ein Bild über meine Erziehung sowie meinen Pflegeeltern machen. Ob und in wie weit sie damals in meiner Familie nichts sah oder sehen wollte, ist mir bis heute ein Rätsel.

Magdalena war mir noch nie sehr sympathisch gewesen! Sie hatte schon, als ich noch ein kleines Kind war, immer etwas an mir auszusetzen gehabt und wenn es nur war, dass ich nicht gerade und aufrecht bei Tisch saß. Mehrmals hörte ich unter anderem, wie sie zu Mama sagte: „Die sieht aus wie ihre Mutter. Das Mädchen wird das nämliche, kleine Biest. Erziehen sie sie so streng wie möglich, dass sie nicht in die Fußstapfen der Mutter tritt.“ Damals verstand ich diese Worte noch nicht, doch jetzt wusste ich, was sie mit diesen Sätzen meinte.

Mir schauderte es, als sie mir befahl, mich neben sie zu setzten. Barsch fragte sie mich nun, was mich denn veranlasst hätte, so aus heiterem Himmel zu meiner leiblichen Mutter zu fahren? Und woher ich das Geld dafür gehabt hätte? Ich wollte ihr antworten, ihr erzählen, was mich dazu bewegt hatte. Doch als ich in ihr unbewegliches, hartes Gesicht blickte, aus dem mich zwei eiskalte Augen streng musterten, verließ mich mein Mut, ihr die Gegebenheiten zu erklären. Da ich nicht antwortete, herrschte sie mich mit den Worten, ich sei ein verstocktes, ungezogenes Kind, an.

Streng und bestimmend meinte sie, ich hätte absolut kein Recht, zu meiner Mutter zu gehen. Würde ich dies nochmals tun, würde sie dafür sorgen, dass ich in ein geschlossenes Heim käme. Das Geld für die Zugfahrt, unterstellte sie mir, hätte ich bestimmt gestohlen. Extrem verächtlich fuhr sie fort: „Deine Mutter hat dich noch nie gemocht. Sie hat dich und deinen Bruder fast verhungern lassen. Sie hatte immer nur Vergnügungen und Männer im Kopf. Bilde dir ja nicht ein, dass sie sich gebessert oder geändert hat. Lügen und Stehlen war bei ihr an der Tagesordnung. Eben ein Mensch der untersten Kategorie. Sie war und ist eine Rabenmutter, der alles andere wichtiger gewesen ist als ihre eigenen Kinder. Und vergiss nicht, sie hat dich noch nie geliebt und wird dich auch niemals lieben! Umsonst hat sie dich nicht zur Adoption freigegeben.“

Barsch fragte sie mich: „Hast du zugehört, was ich dir gesagt habe?“ Ich konnte nur mit dem Kopf nicken, denn in meinem Hals würgte es verdächtig und ich wollte vor dieser Frau partout nicht weinen.

In diesem Moment fasste sie derb mit ihrer Hand unter mein Kinn und hob meinen gesenkten Kopf auf ihre Augenhöhe hoch. Da ich meine Augen einfach geschlossen hatte, schüttelte sie meinen Kopf kräftig hin und her und brüllte mich an, sie anzusehen. Nochmals fragte sie mich, ob ich verstanden hätte, was sie mir von meiner Mutter erzählt hatte. „Ich möchte ein deutliches ‚Ja, von dir hören“, forderte sie mich schon fast kreischend auf.

„Ja“, murmelte ich mit immer noch geschlossenen Augen, damit sie zufrieden war. „Du sollst die Augen aufmachen, du kleines Miststück“, schrie sie mich nun, schon fast hysterisch werdend, an. Doch ohne Erfolg! Ich hielt meine Augen geschlossen. Sie meinte dann noch, was die Schule anginge, sollte ich mich endlich mal etwas anstrengen, sonst müsse sie öfter vorbei kommen und mir die Leviten lesen. Denn sie wolle nicht, dass ich so ein Vögelchen wie meine Mutter würde. Da ich immer noch, reglos wie ein Stock, mit geschlossenen Augen vor ihr saß, rastete sie komplett aus. Sie griff in meine Haare und zog meinen Kopf, soweit es ging nach hinten in den Nacken. Obwohl dies schmerzte, kam keine Träne aus meinen Augen, kein Laut über meine Lippen. Als sie ihre Erfolglosigkeit einsah, ließ sie abrupt von mir ab. Anschließend wandte sie sich Mama zu und befahl ihr, sofort jeglichen Kontakt zur Mutter sowie zu meinem Bruder zu unterbinden. „Auch lassen sie bitte absolute Strenge walten, denn Ulrike zeige jetzt schon Ansätze ihrer Mutter.“

Schwester Magdalena redete noch längere Zeit auf Mama ein, doch was sie ihr alles sagte oder anriet, flog an mir vorbei. Ich konnte nach allem, was mir Schwester Magdalena so einfach hingeschmissen hatte, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wem konnte ich denn eigentlich noch vertrauen, wem noch glauben?

Waren Mutters Tränen sowie ihre Worte, sie hätte den größten Fehler ihres Lebens gemacht und diesen schon bitter, bitter bereut, eine Lüge? Mochte sie mich wirklich nicht? Ja, sie hatte mich einfach hergegeben, mich in einen Lebensweg geschoben, der oftmals schwer und fast unerträglich für mich war. Ich fühlte mich in dem Moment auch von ihr zutiefst verletzt und betrogen. Nein! Ich wollte auch sie nie mehr sehen! Wieder einmal war ich mit meinen Gefühlen gegen eine Wand gerannt und musste damit fertig werden.

Der Vergangenheit dunkle Zeiten

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