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Kapitel 4

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Exzellenz, der Bote hat dieses Schreiben für Euch abgegeben.« Friedlein hielt ihm den Brief so hin, dass das Licht der Kerzen auf das Siegel fiel. »Aus Würzburg, vom bürgerlichen Rat. Ah, endlich gibt es eine Antwort auf Eure Schreiben, die die Stadt wie eine Flut überschwemmt haben müssen – zumindest sagt mir der Schmerz in meiner Hand, dass ich den Brief so oft abgeschrieben habe.«

Er machte ein klägliches Gesicht, doch der Bischof ignorierte ihn. Er riss dem Narren nur das Schreiben aus der Hand, erbrach das Siegel und begann zu lesen. Friedlein beobachtete ihn gespannt und sah, wie sich die Farbe seines Gesichts wiederholt von Rot zu blass und dann wieder zu Rot wandelte. Zum Schluss, als er mit einem Ausruf das Blatt sinken ließ, war sein fleischiges Gesicht mit dem Doppelkinn von roten Flecken verunziert.

»Das scheint nicht die gewünschte Antwort zu sein«, sprach der Narr mehr zu sich selbst. »Was schreiben die Ratsherren?«

Zu seinem Erstaunen reichte ihm der Bischof das Blatt. Nein, er warf es ihm geradezu voll Abscheu vor die Füße. Friedlein fing das unschuldig herabsegelnde Pergament auf und begann in dramatischem Tonfall zu lesen.

Ehrwürdiger Herr, Herr Johann, Bischof zu Würzburg! Es sind auf den Straßen, in den Kirchen und an anderen Orten Briefe ausgestreut worden, welche Ihr an die Viertel der Stadt geschrieben habt, was einem würdigen Herrn wie Euch nicht geziemt. Doch wollen wir uns auf die in demselben gemachten Beschuldigungen freimütig verantworten. Ihr habt in diesen Briefen vorerst Euch beschwert, dass wir Euch ungerechter Regierung beschuldigten und deshalb verunglimpften. Wir erinnern Euch nun an die von Euch an uns verübte Gewalttätigkeit, da Ihr uns auf den Frauenberg laden und dort gefangen nehmen, auch die Stadt mit Kriegsvolk belagern ließet. Ihr wolltet glauben, dass wir den Vierteln der Stadt über die mit Euch gepflogenen Unterhaltungen mit Unwahrheit berichtet haben; wir haben denselben im Gegenteile alle auf der Versammlung zu Kitzingen gemachten Vergleichsvorschläge getreulich bekannt gemacht. Wenn Ihr ferner uns als die Urheber der Feindseligkeiten bezichtigt, so wollen wir dagegen nur Euer bisheriges, jedermann kundiges, gewaltsames Benehmen gegen uns anführen, gegen welches wir unsere stets gefährdete Ehre, Leib und Gut zu verteidigen genötigt und gezwungen waren. Auf Euer Versprechen, das Stift selbst mit Gottes und Euerer Freunde Beistande fürder löblich regieren zu wollen, erklären wir, dass Ihr dieses schon früher zu der Zeit, als Ihr zu dem würdigen Stifte Würzburg gelangt seid, wohl hättet tun können, damals aber das Gegenteil getan und das Stift in unabsehbares Elend gestürzt habt. Euer Vorhaben erscheint uns deshalb mit Recht unlauter und nicht ehrenhaft. Der allmächtige Gott und der heilige Märtyrer Kilian, unser Stiftspatron, mit seinen heiligen Gefährten, möge Euch erleuchten und bewegen, dass Ihr einsehet, in welches Unglück Ihr das löbliche Stift Würzburg gestürzt habt, und Euer Herz bekehren und bessern, damit dem äußersten Notstande des Landes endlich abgeholfen werde. Wollet Ihr aber, wie es scheint, absichtlich Gelegenheit zur Erneuerung und Fortspinnung des Zwistes zwischen Euch und uns suchen, so werden wir uns gemüßigt sehen, uns auf jede erlaubte Weise vor Euren Anfeindungen sicherzustellen.

»Hör endlich auf damit!«

Friedlein ließ den Brief sinken. »Das könnte man als ein eindeutiges »Nein« zu Eurem Ansinnen deuten.«

»Glaubst du, das ist mir entgangen?«, rief der Bischof erbost.

»Dass das einfache Volk immer so nachtragend sein muss«, meinte der Narr mit einem Kopfschütteln. »Es ist so fantasielos in seinen Gedanken und sieht nur, was sich direkt vor seinen Augen abspielt. Den höheren Zweck, der dahinter steht, will es nicht einsehen. Nun gut, einen Versuch war es wert.« Er warf den Brief achtlos hinter sich, wo er zu Boden flatterte.

»Wenden wir uns neuen Plänen zu. Was gedenkt Ihr nun zu tun, nachdem Eure höfliche Aufforderung ins Leere glitt?«

»Ich denke darüber nach«, sagte der Bischof unfreundlich. »Und nun geh. Ich werde es dich wissen lassen, wenn ich so weit bin, dass ich glaube, es wäre gut, meine Gedanken mit dir zu teilen.«

»Das hört sich vielversprechend an. Ich bin gespannt!«, rief Friedlein und hinkte mit seinen verschieden langen Beinen hinaus.

»Er ist wieder da!« Elisabeth schenkte Jeanne ein strahlendes Lächeln, dann raffte sie die Röcke und eilte den Gang entlang und die Treppe hinunter in den Hof, wo sie Albrecht auf der untersten Stufe beinahe umrannte. Lachend fing er sie auf, drückte sie kurz an sich, nahm aber dann Abstand und verbeugte sich, wie es sich gehörte.

»Mein Herz, ich brauche dich also nicht zu fragen, ob du mich vermisst hast«, sagte er mit einem Lachen. »Aber ich stehe dir in keiner Weise nach. Ich konnte an nichts anderes denken als an unser Wiedersehen. Komm, lass uns hineingehen. Hier draußen ist es zu unwirtlich, und ich sehe, dass es dich fröstelt.«

So traten sie in den Fürstenbau zurück, in dem ihr Vater früher gewohnt hatte und in dem nun der Pfleger Johann sich einrichtete. Am liebsten hätte sie Albrecht mit in ihr behagliches Gemach genommen, um mit ihm vor dem Kamin zu sitzen und zu plaudern, einen Becher Honigwein in den Händen und vielleicht einige kandierte Früchte aus der Schale, die Jeanne nie leer werden ließ. Gret hatte die Köstlichkeiten eigenhändig nur für die Freundin zubereitet, so viel wusste sie.

So setzten sie sich in den kleinen Speisesaal, in dem sie nun öfters mit ihrem Bruder und Meister Thomas zu speisen pflegte, wenn sie sich nicht zu dem neuen Hausherrn und seinen Gefolgsleuten setzen mochte. Kaufmann Johann und die anderen Begleiter des Handelszuges waren bereits weitergereist.

Sorgsam rückte Elisabeth zwei Sessel an den Kamin und schenkte Albrecht einen Becher Wein ein. »Nun, wie geht es auf Burg Wertheim? Sind dein verehrter Vater und deine liebe Mutter wohlauf?«

»Aber ja, danke der Nachfrage.«

Warum sah er ihr nicht in die Augen? Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Innern aus. »Was haben sie denn gesagt?«, fragte sie weiter, obwohl sie die Antwort fürchtete.

»Gesagt? Nichts Besonderes. Sie freuen sich über die Ehre, die Johann zuteilgeworden ist, und hoffen – nun ja, dass er bald Bischof wird.« Verlegen sah er zu ihr hinüber, doch im Moment interessierte es Elisabeth nicht, dass Albrechts Eltern auf den baldigen Tod ihres Vaters hofften. Das war nur verständlich und kein Grund, sich zu kränken. Wusste Albrecht nicht, dass sie auf eine andere Antwort wartete?

»Ich meine über mich!«, fügte sie ein wenig schärfer hinzu. »Was haben sie über mich gesagt?«

»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie dich erwähnt hätten...«

Elisabeth fiel ihm ins Wort. »Du hast nicht mit ihnen darüber gesprochen! Und frage nun nicht, worüber, denn das weißt du genau«, ereiferte sie sich. »Du sagst, ich solle dir getrost meine Zukunft anvertrauen und keine Furcht hegen, obwohl ich den Marienberg und damit meine Heimat schon bald verlassen muss, aber du sprichst nicht einmal mit deinen Eltern über unsere Vermählung!«

Albrecht hob resignierend die Hände. »Elisabeth, das ist kein Grund, an mir zu zweifeln. Ich habe dir geschworen, dass du getrost dein Leben in meine Hände legen kannst, und dazu stehe ich. Früher hätte der Vater gegen diese Verbindung nichts einzuwenden gehabt, doch ich weiß, dass er nun seine Zustimmung nicht mehr geben würde, daher kann ich ihn nicht fragen. Er wird es erst erfahren, wenn wir für immer untrennbar miteinander verbunden sind. Sicher wird er mir eine Zeit lang zürnen, aber dann wird er mir verzeihen. Und bis es so weit ist, wird mein Bruder Johann seine schützende Hand über uns halten.«

»Ach, und er findet nichts dabei, dass ich nur der Bastard eines abgesetzten Bischofs bin, der seine Macht und sein Geld verloren hat?«

»Du musst nicht so im Zorn mit mir sprechen«, erwiderte Albrecht sanft und griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Ich gebe zu, dass auch Johann dies nicht für eine kluge Verbindung hält und mir das offen sagt, doch er ist auch bereit, meine Entscheidung zu respektieren.«

»Dann sind wir stets von seinen Launen abhängig«, warf Elisabeth ein.

»Er ist kein launenhafter Mensch«, verteidigte Albrecht seinen Bruder. »Und nun halte ein, und lass uns den Tag genießen. Es gibt nichts, das uns trennen wird. Lass dein aufgeregtes Gemüt zur Ruhe kommen, meine Liebste.«

Elisabeth seufzte. »Es gibt viel mehr, das uns trennen wird, als du es dir vorstellen kannst. Ich muss es dir sagen, daher höre mir gut zu. Wenn du mich wirklich liebst und diesen Schritt auf ewig mit mir wagen willst, dann musst du die ganze Wahrheit kennen.«

Albrecht sprang auf, kam zu ihr herüber und verschloss ihre Lippen mit seiner Hand. »Quäl dich nicht so. Du musst mir gar nichts sagen. Ich vertraue dir und will dich, so, wie du bist. Aber nun entschuldige mich. Ich habe meinen Bruder noch nicht gesehen und muss ihm einige Dinge von unserem Vater bestellen.«

Und schon war er draußen. Elisabeth sah ihm mit offenem Mund nach. Das durfte nicht wahr sein. Jetzt hatte sie noch einmal ihren ganzen Mut für diese schwere Beichte zusammengenommen, und er war ihr schon wieder entwischt – geflohen, konnte man geradezu sagen. Ahnte er gar, was sie ihm sagen wollte, und wusste er, dass er diese Worte nicht würde ertragen können? Aber wie sollte das möglich sein? Oder war es so, wie Gret stets behauptete, dass die Männer gar keine Offenheit wollten?

»Ich kann aber nicht mit dieser Lüge leben!«, rief Elisabeth empört aus und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Oh, ich störe wohl. Das wollte ich nicht!« Eine Stimme von der Tür ließ sie herumfahren. Meister Thomas stand mit verlegener Miene im Türrahmen, bereit, sich zurückzuziehen. »Ich war auf der Suche nach Eurem Bruder Georg, der mich nach Würzburg hinunter begleiten wollte, um mit mir Meister Heinrich in seiner Offizin auf den Greden aufzusuchen. Aber wie ich sehe, ist er nicht hier, und so entschuldige ich mich und ziehe mich sogleich zurück.«

Elisabeth sprang auf und wischte sich die Zornestränen aus den Augenwinkeln.

»Ihr stört nicht, Meister Thomas, und wenn, dann war es eine Störung, die in diesem Moment das Rechte war.«

Sie eilte an seine Seite und stieg neben ihm die Treppe hinunter. »Meinen Bruder werdet Ihr vergeblich suchen«, sagte sie, als sie ihre Hand in seine Armbeuge legte. »Er ist zur Jagd geritten. Sie haben die Falken und einen Habicht mitgenommen und wollen sie noch einmal fliegen lassen, bevor sie an einen der Gefolgsleute verkauft werden, wie ich vermute«, fügte sie ein wenig traurig hinzu. Der Apotheker hielt inne und ließ sie als Erste durch die Tür auf die Freitreppe treten, die sie in den Hof hinunterführte.

»Es tut mir leid, aber ich fürchte, Georg hat Eure Verabredung vergessen.« Unvermittelt blieb Elisabeth auf der untersten Stufe stehen. »Aber könnte nicht ich Euch begleiten?«

Meister Thomas hielt inne und sah sie überrascht an. »Ja, wenn Ihr meint. Ich würde mich freuen, aber...«

»Ich weiß, es war eine dumme Idee, verzeiht. Ihr braucht den fachkundigen Rat des erfahrenen Kaufmanns und nicht das einfältige Geplapper seiner Schwester. Denkt nicht mehr daran.«

Meister Thomas lächelte auf sie herab. Er war ein großer Mann, wie Elisabeth wieder einmal feststellen musste. »Fräulein Elisabeth, wenn ich aus Eurem Mund bisher einfältiges Geplapper gehört habe, dann in diesem Moment! Euer Bruder mag auf unserer Reise zu einem gewitzten Kaufmann geworden sein, vom Handwerk eines Apothekers versteht er nichts, denn im Gegensatz zu Euch interessiert er sich nicht dafür und ist nicht bereit, aufmerksam zuzuhören. Ich würde jede Wette eingehen, dass Ihr noch jedes Wort wisst, das ich Euch in meiner Alchemistenküche erzählt habe.«

Elisabeth spürte, wie ihr Röte ins Gesicht stieg. Sie senkte den Blick. »Ja, das ist gut möglich. Es ist für mich ganz wunderbar, wenn Männer die Mühe auf sich nehmen, ernsthaft mit mir zu sprechen. Ich will wissen, was um mich herum vor sich geht, und es erstaunt mich immer wieder, welch interessante Dinge es auf Gottes weiter Welt gibt. Früher habe ich mich mit Albrecht stets vortrefflich über die große Politik gestritten.« Sie seufzte. »Im Augenblick hat er dafür keine Zeit. Er muss seinem Bruder zur Verfügung stehen und so manchen Auftrag für ihn erledigen. Vielleicht wird es wieder anders, wenn Pfleger Johann sich eingelebt hat und alles im Bistum wieder in ruhigeres Fahrwasser gerät.«

»Ja, vielleicht«, sagte Meister Thomas vage und kam dann wieder auf den Ursprung seines Anliegens zurück. »Und? Sollen wir fahren? Ich würde vorschlagen, Ihr nehmt Euer Kammermädchen mit, falls es die Sorge um Euren guten Ruf ist, die Euch zögern lässt. Ich denke, dann kann niemand Anstoß daran nehmen.«

»Wenn Ihr meint. Dann nehme ich das Angebot an. Ich muss mich nur rasch umkleiden. Ich bin sogleich zurück.«

Mit gerafften Röcken eilte sie in ihre vertrauten Gemächer, die sie noch immer nicht geräumt hatte. Wie viele Tage blieben ihr noch?

»Jeanne, beeile dich!«, rief sie ungeduldig. »Ich möchte Meister Thomas nicht warten lassen. Was machst du für ein Gesicht? Du kommst doch mit. Dann kann keiner Anstoß daran nehmen.«

Jeannes Miene blieb angespannt, während sie Elisabeth in ein ebenfalls edles, doch robusteres Gewand von dunkler Farbe half. »Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, was meine Herrin tut, zu rügen, und dennoch muss ich dich fragen, ob du das für klug hältst.«

»Er ist ein Freund meines Bruders, und ich lasse mich von einer Kammerfrau begleiten. Wir sind nur wenige Stunden unterwegs...«

»Das meine ich nicht!«, fiel ihr Jeanne ganz ungewohnt ins Wort. »Wir fahren nach Würzburg, in die Stadt hinein, und sind dort zu Fuß unterwegs. Fürchtest du nicht, wir könnten erkannt werden? Selbst wenn keiner auf den Gedanken kommt, mit der Tochter des Bischofs diese Vergangenheit zu verbinden. Wenn mich jemand wiedererkennt, wäre das ebenfalls nicht gut. Weder für mich noch für dich!«

Elisabeth zuckte zurück. Betroffen starrte sie die Freundin an. »Daran habe ich nicht gedacht. Nein, wie gedankenlos von mir! Es war nur die Freude, endlich mal aus der Festung herauszukommen und vielleicht mehr über Meister Thomas’ Reisen und die faszinierende Welt der Heilmittel zu erfahren. Doch wenn wir jetzt nicht gehen, wann dann? Wie lange muss man warten, bis die Welt ein paar unwichtige Dirnen vergessen hat?« Jeanne hob die Schultern.

»Siehst du! Auch du weißt darauf keine Antwort. Soll ich mich nun mein Leben lang auf dem Marienberg verstecken? Wobei dies nicht einmal möglich wäre, selbst wenn ich es wollte. Unsere Tage hier in diesen bequemen Gemächern sind gezählt. Der Pfleger kann und will uns hier nicht dulden. Haben wir nicht beschlossen, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen? Nun, dann müssen wir ab und zu auch etwas wagen. Und nun gib mir die Haube mit dem langen Schleiertuch, und lass uns gehen.« Sie reckte sich selbstbewusst, während Jeanne ihr den Schleier so steckte, dass er ihr Gesicht ein wenig verbarg. Niemand würde sich darüber Gedanken machen. Heute war ein schöner Tag, doch die Luft trotz der Sonne herbstlich kühl.

Meister Thomas erwartete sie bei der Kutsche und half ihr beim Einsteigen. Auf dem Dach hatte er einige Bündel verschnürt, die er vermutlich dem Würzburger Apothekenmeister anbieten wollte.

Die beiden kräftigen Pferde zogen an, und der Wagen rumpelte durch das äußere Tor und dann den steilen Weg hinunter der Vorstadt zu. Sie passierten das Zeller Tor und folgten der Straße, die auf die Mainbrücke zuführte. Links erhob sich das Deutschordenshaus in seiner seltsamen Bauweise. Neben dem Westturm der Kirche im unteren Teil des Langhauses wölbte sich ein Torbogen, durch den man unter dem Langhaus passieren und auf die Gasse hinter dem Ordenshaus gelangen konnte. Dessen Erbauern war nichts anderes übrig geblieben, als dieser seltsamen Bauweise zuzustimmen, verlegte das Ordenshaus mit der Kirche doch den seit Jahrhunderten üblichen Prozessionsweg hinaus zum Schottenkloster. In Zukunft auf dem großen Umgang mit dem Allerheiligsten einen anderen Weg zu wählen, kam für die Würzburger Geistlichkeit nicht infrage. Und so mussten sich die Deutschordensritter etwas ausdenken, wie sie diesen Forderungen gerecht werden konnten, ohne die Baupläne für ihr Ordenshaus aufgeben zu müssen.

Der Wagen passierte die steinerne Brücke mit ihren weit geschwungenen Bögen über den Main. Noch hatten die Herbststürme mit ihren reichhaltigen Regenfällen nicht eingesetzt, und so führte der Fluss nur wenig Wasser. Elisabeth sah aus dem Fenster. Ein langer, flacher Kahn mit Bauholz machte gerade am Ufer fest. Dann entschwand er ihren Blicken, als der Wagen das Brückentor passierte und in die Domstraße einfuhr, die – breit und prächtig – in gerader Linie auf den Dom zuführte. Links ragte der Turm des Grafeneckart, der Stolz der Ratsherren der Stadt, in den Himmel. Am Platz auf der rechten Seite stand die Münze.

Der Kutscher ließ die Pferde in langsamem Schritt laufen. Schneller wäre es eh nicht gegangen, denn an jenen Tagen, an denen in der Domstraße und den angrenzenden Gassen Markt gehalten wurde, war kaum ein Durchkommen, so viele Menschen waren unterwegs, mit ihren Waren und dem ein oder anderen Stück Vieh. Erinnerungen stiegen in Elisabeth auf, wie sie mit den anderen Dirnen des Frauenhauses hier entlanggeschlendert war, ein Stück Süßigkeit in den Händen, das sie an einem der Bäckerstände erworben hatten, einen Korb am Arm für die Einkäufe, die sie für die Eselswirtin erledigen sollten. Es war ihr, als könne sie die anderen scherzen hören. Ihre Gestalten tauchten in ihrem Geist auf: die zierliche Mara mit dem kastanienbraunen Haar, die jüngste unter ihnen, Anna, korpulent mit dem mausbraunen Haar und den schlechten Zähnen, Ester, die gute Seele, groß und knochig mit den Narben im Gesicht, die ein bösartiger Kunde mit seinem Messer hinterlassen hatte. Und dann Marthe. Die schöne Marthe mit dem Blondhaar. Sie würde allerdings nicht lächeln. Nein, das sparte sie sich für ihre Kunden auf. Für die Frauen hatte sie stets nur eine verkniffene Miene übrig. Die anderen dagegen waren zumeist erstaunlich fröhlich, wenn man bedachte, welch hartes Los sie getroffen hatte.

Waren sie wirklich irgendwo dort draußen unter den vielen Menschen? Elisabeth beugte sich ein wenig vor und ließ den Blick schweifen in der Erwartung, einen Rock mit dem verräterischen gelben Saum zu erhaschen. Sie spürte Jeannes Finger um ihren Arm. Dachte sie das Gleiche? Vielleicht. Jedenfalls hielt sie es offensichtlich nicht für ratsam, sich hinauszulehnen und zu riskieren, erkannt zu werden. Was, wenn eine der Frauen ihr unbedacht zuwinkte oder gar ihren Namen rief?

Jeanne schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie wisperte ihr zu: »Ich würde sie auch gerne wiedersehen, aber das wäre nicht klug. Gar nicht klug! Es ist ein Teil aus einem anderen Leben, das hinter uns liegt. Vergiss das nicht.«

Der Wagen hielt an. Meister Thomas öffnete den Schlag und half Elisabeth beim Aussteigen.

»Würzburg ist eine lebhafte Stadt, das muss ich sagen«, sagte er und ließ den Blick schweifen.

»Ja, Ihr habt recht«, stimmte ihm Elisabeth zu und trat neben ihn, die Stirn in Falten gelegt. »Und doch scheint mir das nicht normal. Solch eine Stimmung herrscht sonst nur an hohen Prozessionstagen oder wenn Jahrmarkt ist. Auch wenn hier in der Domgasse und auf den Stufen vor dem Dom stets Gedränge herrscht, kommt mir das doch ungewöhnlich vor. Was meinst du, Jeanne?«

Das Kammermädchen nickte. »Ja, hier geht etwas vor sich. Es scheint vom Grafeneckart her zu kommen. Hört ihr die Rufe?«

Sie reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts erkennen.

»Ich werde es herausfinden«, sagte sie und war auch schon zwischen den wogenden Leibern verschwunden, ehe Elisabeth etwas erwidern konnte. Meister Thomas führte sie die Stufen hoch, sodass sie nicht mehr zu sehr im Gedränge standen, dafür aber einen besseren Ausblick über die Domstraße hatten und über das, was dort vor sich ging.

Jeanne schien recht zu behalten. Der wogende Wirbel zog sich um das Rathaus, schien für einige Momente innezuhalten und begann dann einen Zug zu formen. Zuerst konnte Elisabeth die Spitzen der Hellebarden einiger Bewaffneter sehen, dann teilte sich der Strom der Menge, und ein bekanntes rotes Gewand blitzte auf. Ein Trommelwirbel erklang, und nun erkannte Elisabeth die hochgewachsene Gestalt in Wams und Mantel und mit dem roten Hut auf dem ergrauten Haar. Es schien ihr, als schreite Meister Thürner direkt auf sie zu. Der Anblick des Henkers jagte ihr einen Schauder über den Rücken, wie vermutlich vielen Passanten, ganz sicher jedoch aus einem anderen Grund. Elisabeth schätzte diesen ruhigen, klugen und weitsichtigen Mann gar, doch sein Anblick ließ Erinnerungen an Begebenheiten auf sie einstürmen, von denen sie viele gerne vergessen hätte.

Der Henker ließ seinen Blick schweifen, bis er bei Elisabeth verweilte. Er zögerte gar kurz in seinem Schritt. Die blauen Augen weiteten sich ein wenig, und die Stirn legte sich in Falten. Dann huschte ein Lächeln über seine Lippen, und er formte lautlos einen Namen. Kein Zweifel, er hatte sie erkannt.

Elisabeth machte einen Schritt rückwärts, ohne die Gestalt mit den breiten Schultern und dem kantigen Gesicht aus den Augen zu lassen. Ohne darüber nachzudenken griff sie nach Meister Thomas’ Hand. Er drückte beruhigend die ihre.

»Fürchtet Ihr Euch, Fräulein Elisabeth? Das müsst Ihr nicht. Der Henker und der Delinquent werden Euch hier nicht zu nahe kommen. Sie werden dort abbiegen und den Weg am Neumünster vorbei wählen, so wie es aussieht.«

»Ihr habt recht, verzeiht«, sagte sie schnell und nahm ihre Hand errötend wieder zu sich. Doch Meister Thomas schien sich weiter nichts dabei zu denken.

Nun erst wurde Elisabeth bewusst, dass sie es hier mit dem Zug eines Verurteilten zum Richtplatz vor der Stadt zu tun hatten. Deshalb waren so viele Menschen unterwegs. Sie hatten der Verlesung des Urteils vor dem Grafeneckart beigewohnt und folgten nun dem Karren zum Crambuhel – dem Hügel, um den die Krähen fliegen –, um die Vollstreckung zu sehen. Der Richtplatz mit der Hauptstatt und dem Galgen erhob sich auf dem kahlen Hügel und war bereits von Weitem als mahnendes Ensemble zu sehen, wenn man die Stadt durch das Hauger Tor verließ. Das erklärte auch die seltsam aufgekratzte Stimmung der Menge, die sich bereits an dem Blut berauschte, das schon bald unter dem Henkersschwert fließen würde. Oder würden sie den Mann auf dem Karren am Galgen aufziehen? Elisabeth betrachtete den vierschrötigen Mann mit den gefesselten Händen und Beinen, der sich stolz bemühte, seine Angst zu verbergen und den Spott der Menge an sich abprallen zu lassen. Kannte sie ihn? Hatte sie ihn nicht schon einmal gesehen?

Jeanne drängte sich zwischen die um den Karren wogenden Menschen und tauchte dann wieder an Elisabeths Seite auf.

»Eine Hinrichtung auf dem Crambuhel draußen«, keuchte sie. »Aber das hast du dir sicher bereits gedacht.« Sie stutzte. Anscheinend fiel ihr jetzt erst ein, dass sie nicht alleine waren, und so rückte sie ein kleines Stückchen von ihrer Herrin ab.

»Hans Bausback ist sein Name. Sie führen ihn zum Richtplatz, um ihn zu vierteilen und die vier Rumpfteile anschließend an den Haupttoren aufzuhängen.«

Elisabeth schauderte es. »Vierteilen?«, wiederholte sie tonlos und warf Meister Thomas einen Blick zu, der dem Bericht des Kammermädchens offensichtlich ebenfalls gelauscht hatte.

»Das ist keine übliche Strafe«, meinte der Apotheker. »Zumindest kenne ich es so aus meiner Heimatstadt. Dieser Mann muss etwas wirklich Übles verbrochen haben.« Beide blickten Jeanne an.

»Weißt du, wofür er dieses Urteil erhalten hat?«

Jeanne wand sich. Zuerst dachte Elisabeth, sie wisse die Antwort nicht, doch dann druckste sie: »Er ist ein treuer Gefolgsmann Bischof Johanns.«

Richtig, deshalb kam er Elisabeth bekannt vor. Hans Bausback hatte schon früher kleinere Dienste für ihren Vater übernommen, um die man nicht unbedingt einen Ritter von Ehre bitten würde. Es wurde ihr ein wenig flau im Magen.

»Und was hat er nun gemacht, dass er diese schwere Strafe verdient?«

»Ob er sie verdient, kann ich nicht sagen«, wehrte Jeanne ab. »Verurteilt wurde er jedenfalls, weil er unter anderem Briefe des Bischofs in den Vierteln verteilt hat. Und er soll auch welche unter dem Namen anderer geschrieben haben, um zwischen dem Domkapitel und der Bürgerschaft Unfrieden zu stiften und die Bürger gegen den Pfleger von Wertheim aufzubringen.« Sie sah Elisabeth nicht in die Augen.

»Er hat also getan, was mein Vater ihm aufgetragen hat, wurde dabei ertappt und muss nun auf eine scheußliche Weise mit dem Leben bezahlen«, fasste Elisabeth zusammen. Das Entsetzen war in ihrer Stimme zu hören. »Vierteilen, wegen ein paar Briefen!«, flüsterte sie fassungslos.

»Nun, da Bischof von Brunn der Regierungsgewalt enthoben wurde und sich von allem zurückziehen musste, ist das so zu sehen, als habe sich der Verurteilte mit einem fremden Feind eingelassen und versucht, dessen Interessen hier in der Stadt zu festigen. Das ist Hochverrat, und dafür verhängt man die höchsten Strafen«, erklärte Meister Thomas in sanftem Ton.

Elisabeth schluckte, dann schüttelte sie sich, als wolle sie die Umklammerung lösen, die ihre Glieder zu lähmen schien. »Ihr habt wohl recht, Meister Thomas, doch nun lasst uns tun, wozu wir nach Würzburg gekommen sind. Ich habe nicht vor, den Zug zum Richtplatz zu begleiten, und Ihr hoffentlich auch nicht.« Meister Thomas schüttelte energisch den Kopf.

»Gut, dann lasst uns zu Meister Heinrich gehen. Ich werde ganz still sein und Euren Gesprächen lauschen. Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, was es für mich noch alles Interessantes über Heilmittel zu lernen gibt.«

Meister Thomas verbeugte sich vor ihr und reichte ihr mit einem warmen Lächeln seinen Arm.

»Ja, lasst uns gehen, und ich verspreche, dass ich mich bemühen werde, Euch nicht zu langweilen. Sollte dies passieren, dann rügt mich sofort! Und fragt, wenn Euch etwas nicht verständlich ist. Ich werde mir jede Mühe geben, es Euch zu erklären.«

Und so wandten sie dem Hinrichtungszug den Rücken und schritten gemeinsam zur Offizin, die Meister Heinrich in seinen Räumlichkeiten unter der Oberratsstube betrieb.

Das Antlitz der Ehre

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