Читать книгу Das Antlitz der Ehre - Ulrike Schweikert - Страница 9
Kapitel 5
ОглавлениеWas? Ich soll nach Kitzingen ins Frauenkloster gehen?« Friedlein schlug sich die Hand auf die Brust. In seinem Gesicht stand Entsetzen. »Euer Exzellenz, auch wenn ich der holden Weiblichkeit nicht abgeneigt bin, ein Frauenkloster ist ganz sicher nicht der rechte Platz für mich.«
»Hör auf mit deinen Scherzen. Es ist mir durchaus ernst damit«, polterte Bischof von Brunn.
»Mir auch, verehrter Herr«, gab der Narr zurück.
»Dann pack dich, und lass dir ein Pferd satteln.«
»Nicht so hastig, Exzellenz. Solch eine Sache will nicht überstürzt sein. Ich bin ein Narr mit einem kurzen Bein, und alt, oh ja, schon alt. Das Reißen hat in diesen kalten, feuchten Tagen wieder Einzug in meine Glieder gehalten und schmerzt mich, dass ich keinen Gaul erklimmen könnte. Und sagt nun nicht, ich solle eine Kutsche nehmen, denn das Geschüttel wäre nicht minder schmerzhaft.«
»Dann wirst du für deinen Herrn eben ein wenig leiden müssen«, entgegnete der Bischof mitleidslos. »Wir alle müssen Opfer bringen, und Gott im Himmel wird es dir einst vergüten.«
»Dieses Vorhaben? Ja, indem er den Erzengel mit flammendem Schwert an die Himmelspforte stellt, der mir den direkten Weg zur Hölle weist!«
Der Bischof machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach was, du wirst deine Taten vor deinem Tod beichten und bereuen. Dann kostet dich das höchstens ein wenig mehr Zeit im Fegefeuer.«
»Wie beruhigend«, murrte der Narr, der nicht bereit war nachzugeben. »Nein, haltet ein, mein Fürst, und überlegt Euch die Sache noch einmal. Es wäre doch nicht in Eurem Sinn, wenn man Euch sofort mit dieser Sache in Verbindung brächte. Dann könntet Ihr auch offen einen Eurer Ritter mit blankem Schwert schicken. Im Gegenteil, entscheidend ist es, unauffällig zu bleiben, und da wäre es der Sache nicht dienlich, wenn Ihr die auffälligste Person schicktet, die Euer Gefolge zu bieten hat.« Der Narr breitete die Arme aus. »Wer würde sich nachher nicht an den kleinen, hinkenden Mann mit dem schiefen Gesicht erinnern, der stets im Schatten von Johann von Brunn zu finden ist?«
Der Bischof machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ja, du hast recht. Das wäre nicht von Vorteil. Vielleicht ist es besser, jemand anderen mit diesem Auftrag zu bedenken.«
Erleichterung breitete sich im Gesicht des Hofnarren aus. »Ihr seid wie immer die Weisheit in Person, Exzellenz.«
Elisabeth betrat hinter Meister Thomas die Offizin, deren Name sich aus dem lateinischen officina – Werkstatt – herleitete. Diese Bezeichnung traf sicher nur für den hinteren Teil zu. Mehr als die Hälfte diente dem Apotheker als Verkaufsraum. Zu beiden Seiten reckten sich hölzerne Regale bis an die Decke, gefüllt mit den verschiedenen Arten von Behältnissen, die Meister Thomas Elisabeth bereits in seinem Laboratorium gezeigt und erklärt hatte.
Ja, hier schien alles vorhanden: fein bemalte Dosen und Schachteln aus den unterschiedlichsten Materialien, alle fein säuberlich aufgereiht, der Größe nach sortiert. Obwohl Meister Thomas betont hatte, wie wichtig das rechte Gefäß für jede Zutat sei, um das Ausdampfen seiner heilenden Stoffe zu verhindern, roch es in der Offizin nach den verschiedensten Kräutern und anderen Materialien. Elisabeth versuchte die Duftnoten zuzuordnen. Da waren angenehme Gerüche nach Minze und Lavendel und weniger angenehme wie nach Baldrian und vielleicht auch Kampfer. Dann hing da noch etwas Stechendes in der Luft und der saure Geruch von Essigwasser.
Elisabeth ließ den Blick weiter schweifen. Die Mitte des Raumes nahm ein mächtiger Eichentisch ein, über dem ein ausgestopftes Krokodil mit blitzend roten Augen hing. Auch in einem der Regale im hinteren Bereich reihte sich eine Sammlung von seltsamen Kreaturen und Naturerscheinungen, manche getrocknet, andere in klarer Flüssigkeit in einem Glasbehälter. Elisabeth konnte schlangenartige Wesen, riesige geflügelte Insekten, Eier und ungewöhnlich geformte Wurzeln erkennen. Auf dem Tisch daneben, dessen Platte im Gegensatz zu dem stattlichen Eichenmöbel roh und voller Flecken war, wurde offensichtlich gearbeitet. Es standen Schalen mit verschieden grobem Inhalt neben einem Mörser aus Stein und einem aus Bronze. Auf der anderen Seite unterschiedlich große Waagen und Schachteln mit Gewichten.
Elisabeths Aufmerksamkeit glitt zur Mitte und dem prächtigen Eichentisch zurück, hinter dem der Meister stand, ein Stück Pergament in der Hand, das ihm der Mann auf der anderen Seite – offensichtlich ein Kunde – gereicht hatte. Der Meister runzelte die Stirn, entzifferte die Anweisungen, die vermutlich der Arzt dem Patienten notiert hatte, und zog dann einen ledergefassten Folianten zu sich, um das ein oder andere nachzuschlagen, derweil der Kunde unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Die Haut seines Gesichts war von unnatürlich roter Farbe, und immer wieder lösten sich Schweißperlen von Stirn und Schläfe, um hinab bis in den Kragen zu rinnen. Er zog ein Tuch aus seinem Rock und wischte sich mit einem Stöhnen über Gesicht und Hals. Der Mann wankte und musste sich an der massigen Eichenplatte des Tisches festhalten, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
»Wie lange wird das dauern?«, drängte der sichtlich Leidende.
»Geduld, Meister Gerlach, Geduld. Ich muss erst nachsehen, ob ich all die Zutaten hierhabe, die das Rezept unseres verehrten Doktors nennt. Schafgarbe und Salbei sind natürlich kein Problem, auch Silberweidenrinde ist vorhanden und Eisenhut, mit dem man sehr sorgfältig zugange sein sollte.«
»Jaja«, wehrte der Kranke mürrisch ab. »Es reicht, wenn Ihr wisst, was zu tun ist. Kocht mir nur schnell meine Medizin, denn wie soll ich meiner Arbeit nachgehen, wenn ich – so schwach wie ein Hänfling – mich kaum auf den Beinen halten kann.«
»Gute Medizin dauert ihre Zeit. Sie verliert ihre Wirksamkeit, wenn man sich nicht ganz genau an die Zubereitung hält, die uns die Erfahrung und die Großen der Heilkunde gelehrt haben. Wie schnell ist durch Hast eine Rezeptur verdorben! Aber Ihr müsst nicht hier warten, Meister Gerlach. Ich schicke Euch den Lehr jungen, wenn der Fiebertrank und die Paste gegen den Schmerz in den Ohren fertig sind. Ihr müsstet mir die Rezepturen nur sogleich bezahlen. Und wenn Ihr möchtet, kann ich Euch auch noch einen Taler Terra sigillata mitgeben. Seht nur den Abdruck des Siegels. Es stammt tatsächlich von Lemnos, vom sagenumwobenen Hügel Moschylos und ist damit eines der sichersten Mittel gegen allerlei Pestilenzen. Ihr müsst nur Euren Wein damit versetzen. Am besten legt ihr den Taler stets in Euer Trinkgefäß, sodass seine segensreiche Wirkung sich bei jedem Schluck, den Ihr zu Euch nehmt, entfalten kann.«
Als der Kunde den Preis hörte, zögerte er zwar, doch ein erneuter Schwächeanfall ließ ihn den Geldbeutel zücken und einige Münzen auf den Tisch werfen. Die wertvolle Siegelerde fest in der Hand, wankte er aus der Offizin. Der Apotheker warf noch einen Blick auf die Rezeptschrift, dann nahm er sich ein zweites Buch, das offen auf dem Tisch gelegen hatte, schlug die Seite um und begann zu schreiben.
»Das ist das Arzneimittelbuch«, raunte Meister Thomas Elisabeth zu. »Das darf in keiner Apotheke fehlen. Der Meister ist verpflichtet, alle Rezepturen fein säuberlich einzutragen, sodass man jede bei Bedarf leicht wieder nachschlagen kann.«
Endlich legte Meister Heinrich die Feder nieder und hob den Blick, um abwechselnd Elisabeth und Meister Thomas anzublicken. Jeanne, die sich ebenfalls staunend umsah, beachtete er nicht. Er hatte sofort erkannt, welche der Besucher einen gefüllten Beutel am Gürtel trugen.
»Edle Dame, werter Herr, womit kann ich dienen?«
Meister Thomas begrüßte den Apotheker und stellte sich vor. Dessen Miene begann zu strahlen. »Ah, ein Meister vom rechten Fach und gar mit seltenen Ingredienzien aus fernen Ländern?«
»Aber ja!«, rief Meister Thomas, trat vor und wickelte das kleine Päckchen aus, das er aus der Kutsche mitgebracht hatte. Es enthielt verschiedene Proben, die Meister Heinrich zu Ausrufen des Entzückens veranlassten.
Elisabeth beugte sich ein wenig vor, konnte aber nichts erkennen, das diese Reaktion in ihren Augen rechtfertigte.
»Habt Ihr noch andere Substanzen aus dem heißen Bauch der Mutter Erde gesammelt?«
»Ich habe Bittersalze und Schwefel, Zinnober und grünes Kupfersalz, aber auch sauberes Alaun und reines Quecksilber!«
»Das ist ja ganz vortrefflich. Darf ich Euch bitten, mir in mein Laboratorium zu folgen?« Eifrig ging er voran. Er hatte einen seltsam watschelnden Gang, was von seinen ungewöhnlich auswärts gedrehten Füßen zu kommen schien. Ansonsten war der Apotheker ein dürrer, hochgewachsener Mann, dessen grauer Haarkranz ein wenig aussah, als hätten bei Nacht die Mäuse an ihm genagt. Das war aber auch das Einzige an ihm, das ein wenig unordentlich wirkte. Abgesehen davon war der Mann wie aus dem Ei gepellt und konnte es durchaus mit den Ratsherren und anderen Honoratioren der Stadt aufnehmen.
So ging er ihnen voran in einen schmalen Flur, dessen linke Seite von einem übermächtigen Schrank eingenommen wurde. Eine der Türen stand ein wenig offen und zeigte zahlreiche Fächer mit noch mehr Dosen, Krügen und Schachteln. Das unterste Fach jedoch enthielt einen dünnen Strohsack, ein Kissen und eine Decke und war vermutlich die Schlafstatt des Lehr jungen.
Einige Schritte weiter stand eine Tür auf der rechten Seite offen. Elisabeths Blick schweifte durch ein Kontor mit einem prächtigen Sekretär, aber auch einer schmalen Bettstatt und einer Kleidertruhe im hinteren Bereich des Zimmers, das dem Apotheker offenbar auch als Schlafkammer diente. Die Tür am hinteren Ende des Flurs führte in einen kleinen Hof hinaus, der zur Hälfte überdacht war. Hier stand ein riesenhafter Mörserbecher, dessen Keule am oberen Ende einen Ring aufwies, durch den ein Seil führte, das mit einem Schwibbalken verbunden war. Trotz dieser Erleichterung war das Zerstoßen von Zutaten in diesem Steinmörser noch immer Schwerstarbeit, und so wunderte es Elisabeth nicht, dass dem Jüngling, der dort bei der Arbeit war, der Schweiß in Strömen herablief, sein Hemd nass und sein Gesicht tief rot waren.
Meister Heinrich beachtete ihn nicht. Er durchquerte mit seinen Gästen das Sonnengesessene und trat auf der anderen Hofseite in einen kühlen, steinernen Raum mit gewölbter Decke, der seine Alchimistenküche enthielt, wie er sie mit Stolz bezeichnete.
»Oben unter dem Dach nenne ich noch einen der Böden mein, um die Waren zu lagern, die ich neben den Arzneien noch vertreibe. Mein Sortiment ist nicht zu verachten«, sagte er und reckte sich ein wenig, als er mit der Aufzählung begann. »Balsam und Duftharz, Pestkugeln, Schluckbildchen und heilende Steine, Kerzen, Fackeln und Talg, Schlafschwämme, aber auch Zucker und süßer Sirup, Honigpastillen und Würzwein und vieles mehr.«
Meister Thomas nickte anerkennend. »Ihr seid gut sortiert. Ich denke, es findet sich einiges unter meinen Waren, das für Euch von Interesse sein könnte. Doch ich habe nicht nur Dinge mitgebracht, die Ihr für Eure Tränke, Pastillen und Pflaster gebrauchen könnt.« Er trat an den Tisch, auf dem eine einfache Apparatur zur Destillation aufgebaut war. »Ich habe wertvolle Gläser, fein und klar in schönen Formen mitgebracht, die Euch nicht nur die Herstellung von Aqua arden, dem gebrannten Wasser erleichtern.«
Die bislang strahlende Miene des Apothekenmeisters wurde zurückhaltend. »Ich habe von solch feinem Glas gehört. Auch einige meiner Kolben stammen aus Venezien, doch ich fürchte, sie haben auch einen feinen Preis?«
Meister Thomas lächelte noch immer. »Wir werden uns einig werden. Ich zeige Euch meine Waren, Ihr prüft sie, und dann werden wir sehen, wie viele Gulden Ihr aufbringen wollt und was ich Euch im Gegenzug dafür geben kann.«
Meister Heinrich nickte. »Ja, wir werden sehen.«
»Welche Ehre, dass Ihr uns besucht.« Die Mutter Oberin sank vor dem Pfleger des Bistums in die Knie und küsste seinen Ring.
»Erhebt Euch, Mutter, und sagt mir, wie es um Euer Haus steht«, antwortete Johann von Wertheim freundlich. »Ich weiß, dass so vieles im Bistum im Argen liegt, und so muss ich zusehen, mir selbst ein genaues Bild der Lage zu verschaffen, um den schlimmsten Missständen sofort Abhilfe schaffen zu können.«
»Ach, Exzellenz, Ihr seid zu gütig«, hauchte die alte Frau. »Der Herr im Himmel hat uns viele Jahre geprüft, doch nun schickt er uns einen rettenden Engel!«
»Ich will nicht zu viel versprechen. Es scheint überall am Nötigsten zu fehlen, und ich brauche ein göttliches Wunder, um auch nur einem Teil gerecht werden zu können, gar nicht zu sprechen von den erdrückenden Schulden und den Gläubigern, die Zins und Zahlung verlangen, oder von den Städten und Dörfern, die eiligst aus der Verpfändung gelöst werden müssen, sollen sie dem Bistum nicht auf ewig verloren gehen.«
»Dann beginnen wir Euren Besuch am besten mit einer kleinen Andacht, in der wir Gottes Hilfe erflehen, und mit einem einfachen gemeinsamen Mahl mit den Schwestern.«
Der Pfleger neigte das Haupt. »Gerne, Mutter Oberin. Wenn Ihr vorangehen wollt?«
Die Oberin schob ihre Hände in die Ärmel und ging lautlos über die unebenen Steinplatten neben dem Gast her. Sie schwieg, bis sich ihnen die Schwestern im Kreuzgang anschlossen, dann stimmte sie den Lobgesang an, unter dem sie in die Kirche einzogen.
Das adelige Frauenkloster mit seiner Kirche war ein Teil der Stadt Kitzingen. Vor allem ihre steinerne Brücke über den Main machte sie zu einem für den Handel in Franken wichtigen Ort. Mit ihren siebzehn gewölbten Schwibbogen und den beiden hohen Türmen war die Brücke ein beeindruckendes Bauwerk und so auch das Wahrzeichen der Stadt. Die Bürger waren sich ihrer Wertigkeit im Land durchaus bewusst, und ebenso klar war ihnen, wie wichtig es war, die Hoheit über die Brücke sicherzustellen. So war die Gemarkung rechts des Mains mit aufgeworfenen Gräben und steinernen Landwehrtürmen, Zwinger und Schranken versehen. Die Stadt selbst wurde von zwei Mauerringen und tiefen Gräben bis zum Mainufer umschlossen. Stolze achtundzwanzig Türme konnte sie zählen. Sechs Tore, von denen allerdings meist nur drei geöffnet waren, stellten eine reibungslose Durchfahrt für Händler mit ihren Waren sicher. Im inneren Stadtring erhob sich die Pfarrkirche St. Johannes mit dem Pfarrhof. Das Kloster mit der Kirche und seinem Spital lag außerhalb im Vorstadtring. Neben dem Klostertor ragte der imposante runde Marktturm auf. Seit jeher war das Kloster recht gut ausgestattet gewesen. Schon in alten Zeiten hatten die Schwestern ein Kaufhaus besessen, in dem die Bürger sich einmieteten, um es auch als Rathaus zu nutzen. Und auch das neue Kaufund Rathaus am Markt in der inneren Stadt war mit seinen Brot- und Fleischbänken und dem Gewandhaus dem Kloster zu eigen. Der Rat hatte hier eine Ratsstube und die Gemeinde den bürgerlichen Tanzboden. Und dennoch waren die fetten Jahre des Klosters längst vorbei. Auch die Schwestern spürten seit Jahren, wie sich die Bischöfe auf dem Marienberg an den fränkischen Landen gütlich taten. Die Erträge gingen Jahr für Jahr zurück, und so setzte die Mutter Oberin große Hoffnungen in den Besuch des Pflegers von Wertheim.
Nach der Andacht trafen sich die Schwestern im Refektorium, wo ihnen und dem hohen Gast mit seinem Gefolge Mus, Brot und Käse und ein Trunk von saurem Wein gereicht wurde. Während eine der Schwestern erbauliche Worte aus einem Buch gesammelter Viten heiliger Männer las, versuchte die Mutter Oberin dem Gast zu entlocken, mit welchen Mitteln zur Rettung des Klosters sie konkret rechnen durfte, doch der Pfleger wand sich und ließ sich kein Versprechen abringen. Nur, dass er sie alle in seine Gebete einschließen würde, versprach er. Die Mutter Oberin ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken.
Schwester Marthe beendete die Lesung, klappte das Buch behutsam zu und ging zu ihrem Platz zurück, wo sie rasch einen Bissen Brot in den Mund schob, ehe sich die Mutter Oberin erhob und das Mahl damit beendete. Rasch erhoben sich auch die Schwestern und stimmten ein Dankgebet für Speis und Trank an. Ihre hellen Stimmen klangen vom Gewölbe wider. Auch die Gäste hatten sich erhoben und warteten geduldig, bis die Schwestern ihren Gesang beendeten und sich dann lautlos im Gänsemarsch entfernten.
Aus den Augenwinkeln sah die Oberin, wie sich der Pfleger wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. Überrascht wandte sie sich um. Der junge Vikar, der bisher stets an seiner Seite geblieben war, beugte sich über ihn.
»Hochwürden, was ist mit Euch? Wollen wir nicht aufbrechen? Wir kommen sonst in die Dunkelheit, ehe wir den Schutz des Marienberges erreichen. Und das ist in diesen unsicheren Zeiten nicht ratsam. Nicht einmal für Euch. Das Bistum liegt noch mit zu vielen Rittergeschlechtern des Umlandes in Fehde. Und so manche Bande von Strauchdieben macht die Wege unsicher.«
Der Pfleger antwortete nicht. Stattdessen sackte er noch ein wenig tiefer in sich zusammen und gab ein röchelndes Geräusch von sich.
»Bitte? Was sagtet Ihr?« Der Vikar blickte verwirrt in die Runde; dann wagte er, seinem Herrn an die Schulter zu fassen.
»Fehlt Euch etwas? Ist Euch nicht gut?«
Johann von Wertheim hustete krampfhaft. Er schwankte zur Seite. Vergeblich versuchte der Vikar, ihn zu stützen, doch der Körper bäumte sich auf und rutschte vom Stuhl. Der Mutter Oberin entschlüpfte ein Aufschrei. Sie warf sich auf die Knie und versuchte den Körper des Pflegers aufzurichten, der sich nun in Krämpfen wand. Ihr Schrei drang bis zu den Schwestern, die sich ob des ungewohnten Lauts aus dem Mund ihrer Äbtissin umwandten. Der Zug kam ins Stocken, und bald umringten alle Schwestern den zuckenden Körper des Mannes, der doch ihr geistlicher Vater und Landesherr werden sollte. Sie vergaßen sich gar so weit, dass sie die Stille brachen und aufgeregt miteinander tuschelten.
Der Vikar sank ebenfalls auf die Knie und sah die Mutter Oberin flehend an. »Was ist nur mit ihm? Was kann ich tun?«
Endlich gelang es der Ordensfrau, ihn umzudrehen. Sein Gesicht war rot und begann sich nun bläulich zu verfärben. Der Brustkorb hob und senkte sich krampfhaft. Schaum trat ihm vor den Mund.
»Schnell, holt Wein«, herrschte sie die beiden Schwestern an, die sich am weitesten vorgewagt hatten. »Und Salz, viel Salz!«
»Salz?« Der Vikar sah sie verständnislos an. »Ach, warum hat er nicht wie Bischof von Brunn stets einen Leibarzt an seiner Seite? Der wüsste jetzt, was zu tun ist.«
»Der könnte im Moment auch nichts anderes tun«, erwiderte die Mutter Oberin barsch und nahm den Weinbecher entgegen, den die junge Novizin ihr reichte. »Wir müssen ihn dazu bringen, sich zu erbrechen, um seinen Körper rasch von dem Gift zu befreien.«
Der Vikar senkte die Stimme. »Gift? Wie kommt Ihr dazu, von Gift zu reden? Er hat einen Anfall.«
Auch die Ordensfrau sprach nun sehr leise. »Weil alle Anzeichen dafür sprechen. Pfleger von Wertheim ist ein junger, gesunder Mann von nicht zu mächtiger Körperfülle. Nichts spricht dafür, dass er eine schwere Krankheit in sich trägt oder einen plötzlichen Schlagfluss erleiden könnte. Außerdem habe ich schon Menschen den Schlag treffen sehen. Die Symptome waren andere. Seht nur diesen Schaum und die verfärbten Lippen. Nein, auch wenn es mir mehr als nur unrecht ist, dass so etwas in meinem Haus geschehen muss. Ich fürchte, jemandem ist es gelungen, ihm hier unter meinen Augen etwas Giftiges einzugeben. Und nun fasst endlich mit zu, und helft mir! Seht Ihr nicht, dass ich mich hier vergeblich mühe, ihm den Wein einzuflößen?«
Sichtlich widerwillig hob der Vikar den Kopf des unkontrolliert Zuckenden, während die Oberin mit Gewalt seinen Mund öffnete und den mit Salz versetzten Wein hineingoss.
Pfleger Johann von Wertheim hustete, rollte mit den Augen und würgte dann. Er bäumte sich auf. Ein warmer Schwall ergoss sich über das Ordenskleid der Äbtissin, dann versteifte sich sein Körper, der Blick wanderte zur Decke und erstarb.
Der Glanz des Lebens in seinen Augen erlosch in dem Moment, da seine Seele sich vom Körper löste. Dann erschlaffte er. Die leere, menschliche Hülle glitt der Oberin aus den Händen und blieb auf dem kalten Steinboden liegen, die Augen noch immer starr nach oben gerichtet.
Wie seltsam und doch auch wunderbar ist der Augenblick, da das irdische Band gelöst wird, dachte die Ordensfrau und bekreuzigte sich. Dann beugte sie sich vor, um dem hohen Kirchenmann die Augen zu schließen, dem es nur vier Wochen und sechs Tage vergönnt gewesen war, das Schicksal des Bistums Würzburg und des Fürstentums Franken zu leiten. Traurig sah sie auf ihn hinab und betete für seine Seele. Doch auch für all die Menschen des Landes, deren weiteres Schicksal nun wieder im Ungewissen lag. Wie würde es weitergehen? Wer würde nun ihr Herr und Hirte auf Erden sein?
Erst nach einer Weile bemerkte die Oberin die Unruhe um sich, und sie wandte ihren Blick von dem Toten. Eine junge Schwester half ihr auf.
»Was soll denn nun geschehen?«, wagte die Bursnerin die Frage auszusprechen, die alle Schwestern und auch die vor Schreck noch immer sprachlosen Besucher bewegte.
»Wir werden den Körper seiner Exzellenz in der Kirche aufbahren und so lange mit unseren Gesängen und Gebeten über ihn wachen, bis die Abordnung aus Würzburg eintrifft, um ihn zu seinem Begräbnis dorthin zurückzubringen.«
Sie nannte die Namen der Schwestern, die ein Brett holen und den Toten darauf in die Kirche tragen sollten, und führte dann die Reisebegleiter zum Tor. Mit wenigen Worten verabschiedeten sie sich und stiegen dann stumm in ihre Kutschen. Nein, keiner von ihnen hätte auch nur ahnen können, dass diese Reise so enden würde.