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Kapitel 4 Nächtliches Treffen am Galgenberg

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Wohin bringst du mich?«, fragte der Mann.

Sein Begleiter konnte die Angst in seiner Stimme zittern hören. Gut so! Das würde die Sache einfacher machen.

Der Mann umklammerte seine Armbrust. Wo war die Wache am Tor gewesen? Warum hatte sie niemand aufgehalten und gefragt, was sie mitten in der Nacht vor der Stadt zu suchen hatten? Nun gut, die Rennwegpforte, die eigentlich nur für Bürger zu Fuß bestimmt war, wurde niemals bewacht. Allerdings wurde sie am Abend stets verschlossen und nur Amtspersonen besaßen einen Schlüssel – das hatte er jedenfalls bisher gedacht.

Es war nicht einfach gewesen, die beiden Pferde über den schmalen Steg auf die andere Grabenseite zu führen. Der faulige Gestank des Wassers stieg ihnen in die Nase. Dann lag der innere Befestigungsring der Stadt hinter ihnen. Den Weg zur äußeren Mauer legten sie zwischen stillen Gärten zurück. Nur im Nordosten flackerten ein paar Lichter in der Nacht, dort, wo die Kartause Engelgarten lag.

Ohne einem Menschen zu begegnen, erreichten sie das Rennwegtor in der äußeren Mauer. Vier Wege trafen sich hier vor dem Tor nach Osten. Anders als in den anderen Vorstadtbereichen standen nur vereinzelte Katen zwischen den Obstbaumwiesen und Gemüsebeeten. Schwarz erhob sich der rechteckige Turm mit dem Tor vor ihnen in den Nachthimmel. Es war still. Zu still und zu dunkel. Keine Fackel flackerte in einem eisernen Halter. Kein Wächter rief sie an und fragte nach ihrem Begehr. Sein Begleiter zog noch einmal den großen Schlüsselbund aus seiner Tasche, öffnete die kleine Pforte in einem der Torflügel und winkte weiter.

Dem Armbrustschützen wurde es immer mulmiger zumute. Mächtige Männer mussten in diese Sache verwickelt sein. Aber wer? Noch wusste er weder, wer das Opfer sein sollte, noch, wer hinter der geplanten Tat stand. Und plötzlich wollte er es auch gar nicht mehr wissen. Wie viel wäre sein Leben noch wert, wenn er heute Nacht seinem Auftraggeber gegenüberstand?

Die beiden Männer führten ihre Pferde über die Brücke. Anders als der Graben um den alten Mauerring, der die innere Stadt einschloss, war dieser trocken und von Unkraut und Gebüsch fast zugewachsen. Sie passierten das Zollhäuschen und die Schranke, dann erst saßen sie wieder auf und ritten langsam weiter.

Sie brauchen mich, redete er sich ein, während er auf den dunklen Rücken seines Vordermanns starrte. Ich bin der beste Armbrustschütze der Stadt!

Das war nicht von der Hand zu weisen. Würden sie ihn jedoch auch nach der Tat noch brauchen? Die Unruhe in seinem Leib steigerte sich zu fiebriger Angst, als ihm klar wurde, wohin sie ritten.

Heilige Jungfrau, betete er im Stillen. Sei mir gnädig und beschütze mich! Ich habe ein Weib und sieben unmündige Kinder, die ich ernähren muss. Was sollen sie ohne mich tun?

Doch die Muttergottes schwieg und über ihm ragte düster der Galgen in den sternenlosen Nachthimmel.

Sie hielten an und stiegen ab. Was für ein grausiger Ort, dachte der Armbrustschütze und sah zu der leeren Schlinge hinauf, die lautlos im Nachtwind hin und her schwang. Sie waren allein. Ihr Auftraggeber war noch nicht angekommen. Der Armbrustschütze zuckte zusammen, als ihre Schritte zwei Raben aufscheuchten, die verschlafen krächzten und davonflogen. Ein Pferd schnaubte ganz in der Nähe. War er doch schon hier? Der Schütze fuhr herum. Hinter ihm löste sich ein Schatten von dem steinernen Rund, auf dessen Plattform schon so mancher Sünder mit einem Schwertstreich seinen Kopf verloren hatte. Ihm war, als könne er das vergossene Blut riechen.

»Ein schauriger Ort, nicht wahr?«, sagte der Schatten. Er hatte eine wohlklingende Stimme, und er sprach, wie es die Leute von Adel taten.

Der Schütze war nicht überrascht. Eine Windböe jagte die Wolken am Himmel vor sich her und riss eine Lücke. Silbernes Mondlicht erhellte den Galgenberg. Der Armbrustschütze wandte sich rasch ab.

»Wie? Ich dachte, du wolltest genau wissen, was hier gespielt wird? Hast du meinen Boten nicht deshalb immer wieder bedrängt, bis er zu mir kam und um ein Treffen ersuchte?«

»Ja, schon«, gab der Mann zu.

»Und nun willst du mir nicht in die Augen sehen?«

»In die Augen schon – aber nicht in Euer Gesicht – Herr.«

Der Schatten lachte. »Ah, du hast verstanden. Ja, es ist gefährlich zu wissen. Doch binde ich mich nicht auch an dich, wenn ich mich dir offenbare? Ich stehe hier, um dir zu versichern, dass du deinen Lohn erhalten wirst und dass wir dafür sorgen, dass dich niemand mit dieser Tat in Verbindung bringen wird. Sind deine Bedenken nun zerstreut? Dann dreh dich um und schwöre mir, dass du meinen Anweisungen Folge leisten wirst.«

Er wollte es nicht und dennoch drehte er sich langsam um. Es war, als habe der schattenhafte Mann die Macht über seinen Körper übernommen. Zaghaft hob er den Blick und sah in das Gesicht, dem das Mondlicht eine geisterhafte Blässe verlieh. Dennoch erkannte er es.

»Ihr?« Ein Adelsmann, da hatten ihn seine Ohren nicht getrogen, aber nicht nur das!

»Heilige Jungfrau«, stöhnte der Armbrustschütze und taumelte einen Schritt zurück. »Ihr Heiligen im Himmel, steht mir bei.«

Sonntag. Nach der Frühmesse versammelten sich alle Bewohner der Schmiede Buchner in der Küche. Emma hatte Apfelkuchen gebacken. Die Meisterin achtete zwar streng darauf, dass sich – vom Meister abgesehen – keiner zwei Stücke nahm, aber auch dieses eine war himmlisch, und Jos bedauerte es, dass er Sara nichts davon mitbringen konnte. Neben ihm reckte Claus den Kopf und starrte auf einen zweiten Kuchen, der noch auf der Holzplatte neben der Feuerstelle stand.

Margret bemerkte den gierigen Blick des Gesellen. »Glaube ja nicht, dass du von diesem da auch nur einen Krümel bekommst«, sagte sie und hob drohend den Holzlöffel.

Für wen die zweite Köstlichkeit bestimmt war, musste Jos nicht fragen, denn nun waren Stimmen und Schritte auf der Treppe zu hören. Claus, Emma und die Kinder standen von der Bank auf und ließen die Besucher Platz nehmen. Jos gesellte sich zu der Magd.

»Das sind die Brüder des Meisters«, erklärte ihm die Magd. »Hannes, der Messerbuchner, und seine beiden Töchter Annemarie und Gunda, dann Michel Hert, der Geselle, und Ditz Katzbach, der Lehrjunge. Und dort drüben ist der jüngste der Brüder, Georg Nagelbuchner, seine Frau Linda, die er vor ein paar Monaten geheiratet hat, und der Lehrjunge Kilian Rulein.«

Der Lehrjunge des Nagelschmieds war gerade einmal elf Jahre alt, und auch Ditz, der beim Messerschmied lernte, war mindestens drei Jahre jünger als Jos. Da es nicht genug Platz auf der Bank gab und auch alle Schemel bereits belegt waren, verabschiedete sich Claus.

Emmas Blick folgte ihm. »Dürfte ich auch ein wenig in die Stadt gehen?«, fragte die Magd schüchtern.

Die Meisterin kniff die Lippen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie ermahnte die junge Frau, sich züchtig zu benehmen, und sprach davon, dass es viele Sünden gäbe, denen man sich während des Müßiggangs am Sonntag hingeben könnte: Völlerei und Würfelspiel, Naschsucht und unzüchtiges Singen und Tanzen. Als sie zu übermäßigem Weingenuss kam, mischte sich der alte Meister Ruprecht ein: »Nun lass sie schon aus deinen Fängen, bevor der Tag vergangen ist. So viele Sünden an einem einzigen Sonntag schafft sie sicher nicht!«

Es gelang Emma nur unzureichend, ein Kichern zu unterdrücken, und auch Jos lächelte.

Die Meisterin schien die Worte ihres Schwiegervaters allerdings nicht lustig zu finden. »Ach ja? Dann kennst du die jungen Leute aber schlecht. Wehe, wenn man ihnen die Zügel ein wenig lockert. Sie schlagen über die Stränge, kaum hat man den Blick abgewendet. Und dann ist das Unglück geschehen! Schließlich trage ich die Verantwortung für unser Haus.«

Der Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der Teufel wird sie schon nicht gleich holen, und dann kann sie beim Pfarrer ja immer noch beichten und ihre Seele wieder reinigen, nicht?« Er zwinkerte Emma zu.

»Wie Ihr meint, Vater«, sagte sie Meisterin steif. »Also lauf. Und du, Jos, kannst auch gehen. Aber dass ihr mir pünktlich zum Abendläuten wieder im Haus seid!«

Die beiden nickten, dankten der Meisterin und liefen dann eilig die Treppe hinunter, ehe es sich die Buchnerin anders überlegen konnte. Im Hof wartete Claus.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen«, begrüßte er die Magd.

»Das dachte ich auch«, seufzte sie und strahlte dann den Gesellen an. »Heute ist sie wieder fürchterlicher Laune.«

»Wann nicht?«, fragte Claus. Er nahm Emma bei der Hand und zog sie auf die Gasse hinaus.

Ach, so ist das, dachte Jos und sah den beiden nach, wie sie die Gasse in Richtung altem Graben entlanggingen. Ein Stück folgte er ihnen und klopfte an die Tür des Beginenhauses, aber Sara war nicht da. Sie sei mit einer der Schwestern zu einem Krankenbesuch unterwegs, sagte ihm die Frau im unförmig grauen Gewand, die ihm die Tür öffnete. Jos versprach, später noch einmal vorbeizusehen. Ein wenig enttäuscht schlenderte er die Gasse entlang. Er dachte an Claus und Emma, die sich nun einen vergnüglichen Tag machen konnten, während er den Sonntag alleine verbringen musste. Wer konnte schon sagen, wann Sara zurückkam? Sehr viel Hoffnung hatte die Begine ihm nicht gemacht, dass er sie vor dem späten Nachmittag hier antreffen würde. Und dann blieben ihnen nur noch wenige gemeinsame Stunden.

Ziellos ging Jos durch die Gassen der Vorstand Sand. Er folgte der Mauer, die das Kloster St. Stephan umschloss, und dann der südlichen Stadtmauer. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bereichen der äußeren Umfassungsmauer war dieser Teil gut ausgebaut. Die Vorstadt Sand war auch die erste gewesen, die man an die innere Stadt angeschlossen hatte.

Hinter den letzten Häusern erhob sich die acht bis zehn Schritt hohe Stadtmauer mit dem Wehrgang. An einigen Stellen wurde gebaut. Jos erkannte, dass sie die Räume zwischen den Zinnen vermauerten und nur noch Schießscharten frei ließen. Hinter der ersten Mauer lag der Zwinger, der immer wieder mit Unkraut und Gebüsch zuzuwachsen drohte. Die Zwingermauer, die einen Mann eine Armeslänge überragte, schloss den grasigen Streifen außen ab. Sie wurde immer wieder von halb runden Letzen unterbrochen, die jedoch lange nicht so groß und stark waren wie die mächtigen Rundtürme in der inneren Stadtmauer. Zu Füßen der Zwingermauer senkte sich auf der anderen Seite die Böschung in den Graben ab, der meist unter Wasser stand. Es stammte aus der Kürnach und wurde zu beiden Seiten um die Stadt herumgeleitet. Damit das Wasser nicht sofort in den Main abfloss, stauten einige Querdämme es auf. Am anderen Ufer des Wassergrabens verlief der Karrenweg, der sich einmal um die ganze Stadt zog.

Jos schritt durch das Sandertor und betrachtete die große Baustelle, die ihm schon am ersten Tag aufgefallen war, als er mit Sara Würzburg erreicht hatte. Heute am Sonntag lag sie natürlich still und verlassen da, sodass sich Jos in Ruhe umsehen konnte.

Offensichtlich sollte das Tor verstärkt werden. Es erhob sich auf der anderen Seite der Brücke bereits ein zweiter Turm mit Torbogen, um den nun in einem weiten Halbkreis eine Bastion aufgeschüttet wurde – ein hoher, mit einer Mauer verstärkter Erdwall, mit Wehrgang und Schießscharten. Um ihn herum wurde ein weiterer Graben ausgehoben, den eine zweite Brücke überspannen würde. Was für ein mächtiges Bauwerk! Wenn sie die ganze Stadt auf diese Weise befestigen würden, dann könnte kein Heer der Welt sie einnehmen, davon war Jos überzeugt.

Er ging zurück. Ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, wohin ihn seine Beine führten, tauchte schon der Turm vor ihm auf, zu dessen Füßen das Haus des Henkers stand. Jos blieb stehen. Was tat er hier? Er sollte so schnell wie möglich verschwinden, ehe er nicht nur seine Seelenruhe verlor. Was sollte er sagen, wenn der Henker ihn hier sah?

Die Tür des Hauses öffnete sich. Jos schrak zurück. Aber es war nicht der Henker, der über die Schwelle trat. Es war Rebecca. Zögernd kam sie auf ihn zu und blieb dann in Entfernung einiger Schritte vor ihm stehen.

»Ich wusste, dass du wiederkommen würdest.« Sie seufzte.

»Ich habe es befürchtet! – Nein, Jos, du musst nicht so gekränkt dreinschauen. Du weißt, dass es weder für dich noch für mich gut ist, wenn wir uns sehen und in alten Zeiten kramen. – War das gestern Sara an deiner Seite?« Jos nickte. »Ich kann mir nicht denken, dass sie es gutheißt, dass du mich besuchen kommst, oder?«

»Sie weiß es nicht«, sagte er leise und sah zu Boden.

Rebecca nickte langsam. »Das habe ich mir gedacht. Ach, Jos, du bist ein hoffnungsloser Narr. Ich dachte, wir hätten das in Hall bereits geklärt. Und nun stehst du vor mir und siehst mich an, dass ich nicht weiß, ob ich weglaufen oder dich – äh, ich meine, weiter mit dir sprechen soll.« Ein Schimmer Rot huschte über ihre Wangen.

»Empfindest du denn nichts mehr? Hast du alles vergessen, was zwischen uns war?«

Rebecca verschränkte abweisend die Arme. »Schon alleine dafür sollte ich dich ohrfeigen! Schlimm genug, dass du es nicht vergessen hast, aber hierherzukommen und auch noch darüber zu sprechen? Willst du uns beide ins Unglück stürzen? Ist dir nicht klar, was du gestern gesehen hast?«

Jos schluckte. »Doch, ich weiß. Du hast den Würzburger Henker geheiratet.«

Rebecca nickte.

Jos versuchte, den Gedanken an die Hochzeitsnacht zu verdrängen, die den Feierlichkeiten zwangsläufig gefolgt sein musste. Die Eifersucht drohte ihn zu ersticken. »Und, sind dein Vater und Michel bereits wieder abgereist?«, fragte er, um sich von den quälenden Gedanken abzulenken.

»Ja, heute Morgen in aller Frühe sind sie aufgebrochen. Vater kann unseren Knecht nicht solange alleine lassen. Es sitzen einige Strauchdiebe in den Türmen ein. Und ein paar Sieder, die so betrunken waren, dass sie einen Schuppen in Brand gesetzt haben.«

Jos nickte. Beide schwiegen und starrten auf die eigenen Füße. Es war alles gesagt – zumindest das, was man aussprechen konnte. Die Fragen, die Jos wirklich beschäftigten, durfte er nicht stellen.

Wie ist er so, dein neuer Ehemann? Hat er dich rücksichtsvoll behandelt oder hat er dir wehgetan? Magst du ihn, oder fürchtest du jeden Moment, den er in deiner Nähe ist? Glaubst du, du wirst ihn eines Tages lieben? Freust du dich darauf, ihm Kinder zu schenken?

Es wäre jetzt gut gewesen, sich zu verabschieden, aber Jos brachte keinen Laut über die Lippen, und Rebecca stand noch immer vor ihm, ohne sich zu rühren. Wenn er den Arm ausstrecken würde, könnte er sie berühren. Seine Finger zuckten.

»Rebecca! Wo steckt dieses Weib nur?«

Der Ruf ließ Jos zusammenfahren. Die Stimme klang ärgerlich. Die Haustür wurde aufgerissen, und der Mann, den Jos gestern bei Rebecca gesehen hatte, kam die Stufen herab. Wie jung er noch war! Er konnte kaum zwei Jahre älter sein als Jos und doch war er schon Henker von Würzburg?

»Da bist du! Was machst du hier? Wer ist das? Ich habe dir gesagt, du sollst anfeuern und das Gemüse für heute Abend schneiden. Glaubst du, das Essen richtet sich von allein? Was hat dein Vater dir nur beigebracht?«

Rebecca drehte sich langsam um. Der Mann stürmte über die Wiese und blieb neben Rebecca stehen. Er fasste sie hart am Arm, doch die junge Frau riss sich los und funkelte ihn wütend an.

»Fass mich nicht an!«, fauchte sie.

»Dann komm herein und erledige deine Pflichten als Hausfrau!« Er spie das Wort geradezu aus. »Und treib dich nicht mit Burschen hier draußen herum. Bist du nicht nur faul, sondern auch noch ein Flittchen?«

Rebecca hob die Hand und schlug dem Mann ins Gesicht. »Wage es nicht, so mit mir zu sprechen!« Sie schrie nicht. Sie sprach ruhig mit drohendem Ton. »Du hast mir gar nichts zu befehlen, merke dir das. Sonst ist das die längste Zeit dein Zuhause gewesen!«

»Drohst du mir?«

»Warum nicht? Da du es anscheinend nicht anders haben willst. Ich habe nicht damit angefangen. Ich bin dir freundlich begegnet. Wenn du jedoch lieber einen schmutzigen Kampf haben willst, bitte. Am Ende werden wir sehen, wer die besseren Karten auf der Hand hat. Begehe nicht den Fehler, mich zu unterschätzen. Jetzt könnt ihr noch wählen, welchen Weg ihr einschlagen wollt. Das kannst du auch deiner Schwester sagen.«

Jos sah verwirrt von einem zum anderen. So konnte sie doch nicht mit ihrem Ehemann sprechen, mit dem Henker! War das überhaupt der Henker? Konnte das sein? So jung? Aber wer war er dann?

»So, und nun pack dich fort – oder möchtest du dich gleich über mich beschweren? Da kommt mein Gemahl! Sollen wir vor ihm unsere Unterhaltung wiederholen?«

Ein hochgewachsener Mann mit kräftigen Armen und Schultern kam auf sie zu. Er trug ein Gewand aus teurem Tuch und hatte den roten Mantel um die Schultern geworfen. Sein dichtes graues Haar trug er im Nacken kurz geschnitten. Nun verstand Jos gar nichts mehr.

Der Mann trat heran und neigte das Haupt. »Nun, wertes Weib, gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?«, fragte er ruhig.

Rebecca warf dem jungen Mann, dessen Züge dem des Henkers glichen, einen scharfen Blick zu, schüttelte dann aber den Kopf.

»Nein, mein Gemahl. Darf ich dir Jos Zeuner vorstellen? Ehemals Siedersknecht in Hall und nun, wie ich annehme, zur Lehre bei einem Würzburger Schmied.«

Jos riss die Kappe vom Kopf und verbeugte sich. »Gottes Segen mit Euch. Ich bin Lehrjunge bei Meister Buchner – dem Hufschmied Buchner, in der Hörrleingasse.« Der Henker nickte ihm zu.

Rebecca wandte sich an Jos. »Und dies sind mein Gatte Konrad Keßler, Henker von Würzburg, und mein neuer Stiefsohn Simon. Seine Schwester Luzia kann ich dir im Augenblick nicht vorstellen. Sie ist irgendwo in der Stadt unterwegs.«

Jos konnte es nicht fassen. Der Henker war mindestens so alt wie Rebeccas Vater und ihr Stiefsohn älter als sie selbst. Wie hatte ihr Vater ihr das antun können? Hatte Rebecca das vorher gewusst?

Die dichten Augenbrauen des Henkers zogen sich zusammen. »Sie ist alleine in der Stadt unterwegs? Das solltest du ihr nicht erlauben!«

Rebecca seufzte leise. »Das würde ich auch nicht, doch sie hat mich nicht um Erlaubnis gebeten.«

»Dann wird sie das in Zukunft tun!«, bestimmte er harsch.

Rebecca wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Sie ist bereits dreizehn und war viele Jahre ohne Mutter auf sich allein gestellt«, gab sie zu bedenken. Der Henker ließ das nicht gelten.

»Mag sein, aber die Lage hat sich nun geändert. Du bist jetzt die Hausherrin und die Kinder haben dir zu gehorchen.«

Rebecca warf Simon einen herausfordernden Blick zu. Dessen Miene hatte sich verfinstert.

»Vielleicht wäre es klug, wenn du mit ihnen darüber sprichst«, schlug sie ihrem Gatten vor.

»Das wird nicht nötig sein«, wehrte der Henker ab. »Meine Kinder wissen, was ihre Pflicht ist und was die Höflichkeit gebietet. Und nun verabschiede dich und komm mit ins Haus.«

Er wandte sich ab. Simon machte noch einen Schritt auf sie zu und reckte drohend das Kinn vor, ehe er sich umdrehte und dem Vater folgte.

»Du wirst es nicht leicht haben«, sagte Jos.

Rebecca schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich auch nicht.«

»Wie ist er so, der Henker?«, wagte Jos nun doch zu fragen.

»Ich denke, mit ihm ist besser auszukommen als mit seiner verwöhnten Brut! Er mag vielleicht hart sein, aber ich glaube, er ist offen und gerecht. Kein so hinterhältiges Großmaul wie sein Herr Sohn!«

»Schon, aber er ist so alt!«

Rebecca zuckte mit den Schultern. »Das stimmt. Ein wenig erinnert er mich an meinen Vater.« Sie lächelte versonnen und ein wenig traurig. Vielleicht hatte sie Heimweh nach Hall, nach dem Bruder und dem Vater. Eine Mutter hatte Rebecca schon lange nicht mehr. Sie war bei der Geburt ihres Sohnes Michel gestorben, weil der Henker außer Haus war und keiner ihr bei der Geburt zur Seite stand. Keine anständige Bürgerin hatte sich die Hände an der Frau des Henkers schmutzig machen wollen!

»Du solltest jetzt gehen, Jos«, mahnte Rebecca. »Meine Pflichten rufen mich. Ich denke, es ist nicht ratsam, wenn ich die Gunst meines Gatten schon an unserem ersten Ehetag verspiele. Lebe wohl und Gottes Segen!« Sie wandte sich ab und ging ins Haus.

»Dir auch, liebste Rebecca«, sagte Jos ins Leere hinein.

Dann ging er hastig davon. Er lief in die Stadt, durchquerte das innere Brückentor und trat auf die Brücke hinaus. Während der Woche war sie meist mit Karren verstopft, vor allem seit bei einem Hochwasser vor ein paar Jahren ein Teil der Brückenbögen eingestürzt waren, die danach nur provisorisch mit Brettern ausgebessert worden waren. Jos blieb stehen und starrte ins Wasser hinunter. Die Fluten des Mains schäumten um die steinernen Stützen und eilten dann weiter nach Norden. Drüben, nahe des anderen Ufers, steuerten ein paar kräftige Kerle ein Floß stromaufwärts. Es war schwer mit Fässern und Kisten beladen. Ein gedrungenes Pferd stapfte am Uferweg entlang und zog das Floß an seinem langen Ledergeschirr. Ein Treiber schritt hinter ihm, um es gefügig zu machen, sollte es seinen Dienst verweigern wollen, aber der kräftige Braune setzte unbeirrbar einen Huf vor den anderen.

Jos ließ den Blick über die Mainvorstadt mit seinem Kloster St. Burkhard wandern und dann die Felsen und den steilen, mit Weinstöcken bewachsenen Hang hinauf bis zur Festung »Unser Frauen Berg« mit ihren Mauern und Türmen. Trutzig und ein wenig finster wirkte sie mit ihrem doppelten Mauerring. Dort oben wohnte also der Bischof. Der Landesherr der Franken. Nicht nur ihr geistlicher Vater, auch ihr Fürst, der die Blutgerichtsbarkeit innehatte. In Hall entschied der Rat über Recht und Gesetz und auch darüber, wer für welche Tat seinen Kopf verlor. Hier in Würzburg gab es zwei Räte: einen Stadtrat der Bürger und einen Oberrat, in dem vor allem Stiftsherren und Ritter saßen. Und dann gab es natürlich noch den Bischof: Gottfried Schenk von Limpurg. Wer hatte hier in Würzburg nun wirklich etwas zu sagen? Jos beschloss, bei Gelegenheit den alten Meister Buchner zu fragen.

Zwei Frauen betraten, von der Mainvorstadt her kommend, die Brücke und schritten auf Jos zu. Er beachtete sie nicht, bis sie stehen blieben und er seinen Namen hörte.

»Jos, was für eine schöne Überraschung«, rief Sara aus. »Wartest du auf mich?«

»Äh, ja«, log er. Schließlich konnte er schlecht sagen, dass er hier ins Wasser starrte, um seinen trüben Gedanken an Rebecca nachzuhängen. Außerdem freute er sich, Sara zu sehen. Sie würde ihn ablenken.

»Schwester, darf ich bleiben? Ich komme nicht zu spät, ich verspreche es.«

Die Begine lächelte Jos an. »Aber sicher. Du bist frei zu tun, was du möchtest. Vielen Dank, dass du mir so tatkräftig zur Hand gegangen bist. Alleine hätte ich es nicht geschafft. Der alte Tenner ist schwerer, als man es in seinem Zustand vermuten sollte. Ich kann ihn alleine nicht einmal aufrichten, geschweige denn drehen und waschen.«

Sara zog eine Grimasse, lächelte dann aber die Begine an. »Ich habe doch gerne geholfen«, sagte sie. Jos vermutete, dass das eine fromme Lüge war, aber die Schwester nahm sie mit einem Kopfnicken an.

»Dann bis heute Abend. Ich wünsche euch eine schöne Zeit.« Gemessenen Schrittes ging sie davon.

Sara strahlte Jos an und griff nach seiner Hand. »Und wohin werden wir gehen?«

»Wohin du willst!«, bot Jos großzügig an.

»Dann lass uns einen Ort suchen, an dem es gut riecht!« Sara zog ihre mit Sommersprossen betupfte Nase kraus. »Ich habe das Gefühl, dass ich den Gestank des alten Mannes nie mehr loswerde.«

Jos hakte sich bei ihr unter. »Gut, dann lass uns die Stände in der Domgasse ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass der Duft der Honigbäckereien jeden üblen Geruch verjagt.«

So schlenderten sie über die Brücke und folgten der breiten Straße, die geradewegs auf das Portal des Doms zuführte. Zu beiden Seiten hatten die verschiedensten Händler ihre Tische aufgebaut. Am Sonntag durften natürlich nicht alle Waren verkauft werden und so blieben die Buden der Krämer und der Händler feiner Lederwaren heute geschlossen. Dafür wurden allerlei Köstlichkeiten angeboten: dunkles Brot mit Griebenschmalz, süße Brezeln, schweres Früchtebrot und Honigkringel, Zimttaler und Mandelgebäck. Ein Junge ging mit einem Korb Würste durch die Menge. Ein anderer verkaufte sauer eingelegte Gurken und Zwiebeln. Über einem Feuer wurden Heringe gebacken.

Obwohl Jos sich vorgenommen hatte, seine wenigen übrig gebliebenen Münzen nicht zu verschwenden, kaufte er Sara einen Zimttaler. Sie seufzte beglückt, als sie das erste Stück abbiss. Genießerisch schloss sie die Augen und kaute.

»Und du? Möchtest du gar nichts?«, fragte sie verwundert, als ihr auffiel, dass sich Jos nichts gekauft hatte.

»Ich habe keinen Hunger«, log er.

»Unsinn!«, sagte sie, brachte ihn aber nicht in Verlegenheit, indem sie weiter in ihn drang. Sie brach den Taler in zwei Hälften und reichte ihm eine. »Ich hatte bei den Schwestern heute auch ein reiches Morgenmahl«, sagte sie.

Sie lächelten einander an und schlenderten dann weiter, den Geschmack der Süßigkeit noch im Mund.

In einer Seitengasse kamen sie an einer der zahlreichen Weinstuben vorbei. Ein paar Handwerksburschen saßen an einem Holztisch beisammen, tranken, würfelten und lachten. Ein paar Mägde saßen auch unter ihnen. Jos erkannte Claus und Emma. Der Geselle zog gerade den Würfelbecher zu sich heran und hielt ihn Emma hin. Sie tat so, als würde sie dreimal darauf spucken, um das Glück auf diesen Wurf zu lenken. Dann warf Claus die Würfel. Die Männer johlten. Jos konnte nicht erkennen, ob er gewonnen hatte. Jedenfalls ließ ein anderer junger Mann einen Weinkrug kreisen. Emma lachte hell. Ihre Wangen glühten und ihre Augen wirkten schon ein wenig glasig. Ihre Hand ruhte vertrauensvoll auf Claus’ Oberschenkel. Ganz so verkehrt waren die Befürchtungen der Meisterin also nicht gewesen!

»He, was schaut ihr so?«, sprach einer der Burschen. »Nimm dein Mädel und setz dich zu uns!«, forderte er Jos auf. Nun sah auch Claus zu ihm hinüber. Er schien nicht begeistert. »Das ist unser neuer Lehrjunge. Hat gerade erst angefangen, obwohl er in seinem Alter längst schon Geselle sein sollte. Hat sich vermutlich jahrelang nur faul auf der Straße rumgetrieben und das Brot der Fleißigen gegessen.«

Sara kniff die Augen zusammen. »Ha!«, rief sie erbost und drängte sich an den Tisch. »Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber du sprichst über Dinge, von denen du keine Ahnung hast! Jos war Siedersknecht in Hall und hat immer hart gearbeitet! Er hat seine Mutter und seine drei Geschwister mit seiner Hände Arbeit ernährt, nachdem der Vater gestorben ist. Also hüte dich, jemals wieder so über ihn zu sprechen!«

Claus lief rot an vor Ärger, seine Saufkumpane jedoch lachten. »Die hat es dir aber gegeben!«

»Ja, auf den Mund gefallen ist sie nicht, unsere Kleine.«

Emma verbarg ihr Lachen hinter der Hand. Sicher wollte sie Claus nicht noch mehr erzürnen, dennoch zwinkerte sie Jos zu.

»Ich bin nicht eure Kleine«, schnappte Sara zurück. »Ich bin Sara. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann sprecht anständig mit mir oder gar nicht!«

Damit packte sie Jos am Ärmel und zog ihn mit sich fort. Plötzlich blieb Jos stehen. Er legte den Arm um Saras Taille und schob sie in den Schatten einer Nische zwischen einem Schuppen und dem daneben aufragenden Haus.

»Was ist?«, fragte sie und sah verblüfft zu ihm auf.

Er schlang den zweiten Arm um ihren Rücken, presste sich gegen ihren Körper und schloss seine Lippen über den ihren. Saras Überraschung wich, sie gab nach und erwiderte den stürmischen Kuss bald nicht minder heftig.

Jos spürte ihre Wärme durch den Kleiderstoff und das Blut pulsierte ihm durch die Adern. Saras Hände tasteten über seinen Rücken. Sie war ganz offensichtlich nicht bereit, ihn so schnell wieder loszulassen. Und so küssten sie sich, bis ihnen die Luft ausging.

Die Maske der Verräter

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