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Kapitel 3 Hochzeit im Haus des Henkers

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Das erste Grau des Morgens schimmerte durch die Pergamentscheibe des winzigen Dachfensters, als Jos die Decke von sich warf und von seinem Strohsack aufsprang. Rasch schlüpfte er in Hemd, Beinlinge und den warmen Kittel. Claus schnarchte noch, aber das kümmerte ihn nicht. Sollte der Geselle zu spät kommen, Jos jedenfalls würde sich an seinem ersten Tag keinen Rüffel vom Meister einhandeln. Ob der Schmied wegen gestern Nacht noch etwas sagen würde? Vermutlich nicht. Schließlich hatte er Jos geraten, nicht mehr daran zu denken. Das allerdings konnte Jos nicht. Die unheimlichen Männer in ihren Kapuzenumhängen standen ihm deutlicher denn je vor Augen und hatten seine Träume vergiftet.

In der Küche war niemand. Allerdings hatte irgendwer bereits die über Nacht sorgfältig abgedeckte Glut wieder angefacht und frisches Holz aufgelegt. Ein Kessel hing an einem Dreibein über den Flammen. Jos beschloss, in die Schmiede hinunterzugehen. Die anderen würden ihm schon Bescheid sagen, wenn es eine Morgensuppe gab.

Auf der Treppe begegnete er der Magd Emma, die zwei Eimer Wasser hinauf in die Küche trug. Sie lächelte ihn freundlich an und wünschte einen Guten Morgen. Sie schien eine nette junge Frau zu sein, kräftig gebaut mit roten Wangen und flachsblondem Haar. Mit ihr würde er sicher keine Schwierigkeiten bekommen – ganz im Gegensatz zu der Meisterin, das war Jos klar, seit er den ersten Blick auf die Buchnerin geworfen hatte. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, wenn es Emma nicht gegeben hätte – zumindest nicht hier in diesem Haus. Dann hätte der Schmied vielleicht zugestimmt, Sara als Magd aufzunehmen.

Während er in die große Halle im Erdgeschoss hinunterstieg, in der sich die Werkstatt der Schmiede befand, träumte Jos davon, wie es wäre, mit Sara zusammen in diesem Haus zu leben. Sie könnten sich immer sehen, würden bei Tisch nebeneinander sitzen und sich heimlich an den Händen berühren oder Küsse tauschen, wenn sie einander in einer düsteren Ecke begegneten. Und dennoch stünde sie unter der Verantwortung des Hausherrn. Er würde dafür Sorge tragen müssen, dass sie satt wurde, etwas zum Anziehen und ein Lager hatte und nicht Jos. Ein wenig schämte er sich für seine Gedanken. Natürlich würde er für Sara sorgen, sobald er eigene Heller verdiente. Er würde das Bürgerrecht erwerben und sie heiraten. Doch spätestens bei diesem Gedanken fühlte Jos wieder den altbekannten Druck auf seiner Brust, der es ihm schwer machte, frei zu atmen. Zum Glück trat er in diesem Augenblick in die Schmiede und eine Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

»Ah, unser neuer Lehrbub hat sich schon von seinem Lager erhoben. Einen Guten Morgen wünsche ich!«

Jos grüßte zurück. Er hatte die Stimme des alten Meisters sofort erkannt. Bis sich seine Augen an die Düsternis in der Werkstatt gewöhnt hatten, dauerte es noch einige Augenblicke. Ruprecht Buchner saß in einem bequemen Stuhl neben der Esse, in der es noch leicht glühte.

»Du kannst das Tor öffnen und das Feuer schüren«, wies ihn der Alte an. Jos gehorchte. Kühle Morgenluft schlug ihm entgegen, getränkt von den Gerüchen des feuchten Morasts auf der Gasse. Es regnete leicht und die Wolken drückten düster auf die Stadt herab.

»Dass Ihr so früh schon hier unten seid, Meister Ruprecht«, sagte Jos erstaunt, während er Holzkohle in die Esse schaufelte.

»Ach, ich bin jeden Morgen noch vor den Hähnen auf«, erwiderte der Alte. »Der Schlaf ist mir ein scheuer Gefährte geworden. Und hier unten war ich die ganze Nacht.« Er nickte in Richtung eines Bretterverschlags im Hintergrund der Schmiede. »Ich meide diese Treppen, so oft ich kann, seit meine Beine so schwach geworden sind wie die eines neugeborenen Füllens. Die Tage, an denen ich nicht einmal zum Nachtmahl die Küche aufsuchen kann, werden immer häufiger.« Er seufzte. »Nun, ich will nicht ungerecht sein. Gestern war ein guter Tag. Mal sehen, was der Herr im Himmel heute für mich bereithält.«

Jos blieb mit dem Schürhaken in der Hand vor dem alten Mann stehen. »Darf ich Euch etwas fragen?«

»Nur zu!«, ermunterte ihn Meister Ruprecht. »Im Moment gibt es für mich nichts anderes zu tun, als zu warten, dass mir das Feuer die alten Knochen wärmt und das Reißen im Rücken verjagt.«

»Woher wusstet Ihr gestern, dass es der Huf war, der die Stute quälte, und nicht eine Verletzung in den Beinen? Wie konntet Ihr Euch da sicher sein? Ihr habt das Tier ja nicht einmal angefasst. Ist das eine Art Zauber?«

Der alte Schmied kicherte vergnügt. »Nein, mein Junge, ich bin weder ein Zauberer noch ein Hexenmeister. Und dennoch bin ich mir meiner Sache sicher.«

Jos zog sich einen Schemel heran und ließ sich erwartungsvoll vor dem Alten nieder.

»Ich habe zwei Dinge gesehen: die Art, wie die Stute aufgetreten ist, und das Eisen, das das ganze Übel verursacht hat.«

»Ihr sagtet, es sei hohl geschmiedet.«

Der Alte nickte mit zufriedener Miene. »Ja, das hast du dir recht gemerkt. Wenn du es dir aufmerksam angesehen hättest, dann wäre dir aufgefallen, dass seine Oberfläche nicht eben war. Der innere Bogen lag im Vergleich zum äußeren tiefer, die Oberfläche war also nach innen geneigt.«

Jos nickte. »Das heißt, das Pferd trat immer nur auf der äußeren Kante auf.«

»Schlaues Bürschchen!«

»Und warum ist das schlimm? Gut, das Eisen nützt sich ungleichmäßig ab, aber sonst?«

Der Alte kaute auf seiner farblosen, faltigen Unterlippe. »Hm, wie erkläre ich es dir? Der Huf ist kein totes Stück Horn, das am Ende eines Pferdebeins hängt und an dem jeder Pfuscher ohne Folgen herumschneiden und -nageln kann. Ein Huf lebt. Dein Fingernagel scheint auch hart und empfindungslos. Aber schlage dir einen Nagel hindurch, dann wirst du sehen, wie schnell darunter das Leben beginnt.«

Bei dieser Vorstellung zuckte Jos zusammen und schob seine Finger unter den Hosenboden.

Der Alte lächelte. »Wenn du einem unbeschlagenen Pferd genau auf den Huf schaust, dann siehst du, wie der Huf jedes Mal flacher und breiter wird, wenn es auftritt. Sicher behindert jedes Eisen diese Ausdehnung ein wenig, aber so ein verhunztes Ding, wie ich es gestern in der Hand hatte, führt zu einer umgekehrten Bewegung. Bei jedem Schritt wird der Huf zusammengequetscht und drückt schmerzhaft auf den inneren, empfindlichen Teil. Was glaubst du, wie oft du deinen Nagel mit deinem ganzen Gewicht einklemmen kannst, bis sich Eiter unter ihm sammelt?«

»Und das habt Ihr alles gesehen, als das Pferd ein paar Schritte ging?«

»Nein. Ich wusste nur, dass das Leiden im unteren Teil des Beines liegt. Ein Pferd kann, wenn es lahmt, auf verschiedene Weise hinken. Sitzt das Übel im oberen Teil des Beines, macht das Pferd mit dem schmerzenden Bein einen kürzeren Schritt. Wenn das Übel unten liegt, belastet es zaghafter, macht aber einen längeren Schritt. Ist es der Huf, stellt es ihn beim Stehen etwas vor und tritt beim Gehen nur mit dem vorderen Teil des Hufs auf. Es tritt die Fessel nicht vollkommen durch und hebt den Huf nach dem Schritt so schnell wie möglich in einem Ruck wieder auf.«

»Und das habt Ihr während der paar Schritte alles gesehen?« Jos sah ihn verblüfft an. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch ein wenig Zauberkunst beherrscht?«

Man sah es ihm an, dass der Alte sich geschmeichelt fühlte. »Weißt du, Jos, viele denken, der Hufschmied müsse nur mit dem Hammer und der Zange umgehen können, ein kräftiges Feuer schüren und den Blasebalg in Bewegung halten, bis das Eisen glüht und geschmiedet werden kann. Doch mit dem Hufeisen in deiner Hand fängt die wichtigste Arbeit erst an. Mit guten Eisen kannst du das Beste aus einem Ross herausholen. Mit schlechten Eisen kannst du es im Handumdrehen vernichten.« Er streckte seine abgemagerten Finger aus. »Es liegt in unseren Händen. Wir sind der Schuster, der Altreuß und vor allem der Bader der Pferde.«

»Amen!«, sagte eine Stimme hinter Jos. Er fuhr herum. Meister Hermann Buchner stand mit in die Hüften gestützten Händen hinter ihm. »Wenn du deine Morgenpredigt beendet hast, Vater, dann können wir nun mit dem Tagewerk beginnen.«

»Ich habe dem Jungen nur gesagt, was für ihn wichtig ist«, sagte der Alte empört.

»Und ihn dazu gebracht, einen Berg meiner wertvollen Kohlen sinnlos zu verbrennen«, brummte der Meister.

Jos sah ihn ängstlich an, aber er schien ihm nicht böse zu sein.

»Ich habe dich auf meinen Händen getragen, dich ernährt und dir alles beigebracht, was du heute kannst«, schimpfte der Vater zurück. »Und nun gönnst du mir nicht mal ein paar deiner Kohlen!«

»Es sind harte Zeiten«, sagte der Schmied und seufzte. »Mir wäre es lieber, wenn du dir in der Schale drüben ein paar Holzscheite anzünden würdest. – So, und nun, Jos, komm mit nach oben, die Milchsuppe ist fertig. Wenn du gegessen hast, bringst du dem Altmeister seine Schale, und dann fangen wir an.«

Den ganzen Tag über hatte Jos die beiden Blasebälge bedient, Holzkohle geschaufelt oder dem Meister Werkzeuge gebracht, während der zusammen mit seinem Gesellen Claus neue Hufeisen aus Eisenstäben oder aus alten, abgelaufenen Hufeisen fertigte. Pauschen nannte er die, und machte aus drei alten zwei neue, indem er eines in der Mitte zerteilte. Ein zweites Alteisen wurde im Feuer glühend gemacht und aufeinandergeklappt – eine der abgeschlagenen Hälften dazwischen. Der Geselle hämmerte solange auf die Eisenstücke ein, bis sie sich zu einer Masse verbanden. Auch die Eisenstäbe, die der Meister einkaufte, mussten ausgeschmiedet werden. Jos sah zu, wie Claus sie ins Feuer hielt, bis sie weiß glühten, und sie dann auf dem Amboss von allen Seiten mit dem Hammer beschlug.

»Das Eisen muss rein und dicht werden«, erklärte der Meister, der die ausgeschmiedeten Stücke übernahm und sie zu neuen Hufeisen formte.

Meister Hermann gönnte Jos kaum eine Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. Den ganzen Tag hielt er ihn in Atem. Wenn Jos Holzkohle verschüttete oder etwas fallen ließ, rügte er ihn, schlug jedoch nicht gleich zu, wie manch anderer Meister es getan hätte. Und wenn Jos Fragen stellte, beantwortete er sie geduldig. So dankte Jos im Stillen den Heiligen im Himmel, die ihn in diese Schmiede geführt hatten.

Weniger glücklich war Jos allerdings mit dem Gesellen Claus Dürbach. Er piesackte den neuen Lehrbuben, sobald der Meister ihnen den Rücken zuwandte. Manch Werkzeug ließ Jos fallen, weil Claus ihn anrempelte oder ihm ein Bein stellte. Den Rüffel des Meisters nahm er dennoch mit demütig gesenktem Haupt an. Er wusste: Wenn er den Gesellen verpetzte, dann würde der sich rächen. Und sicher hieß auch der Meister es nicht gut, wenn er in die Streitereien seiner Burschen mit hineingezogen wurde. War es nicht ohnehin immer dasselbe? Die Älteren zeigten den Neuen, dass sie das Sagen hatten, und dass es gesünder für sie wäre, sich die Gunst der »Eingesessenen« zu erarbeiten. So war es bei den Siedern und ihren Knechten auch gewesen. Jos dachte beschämt daran, dass auch er einige Buben hatte spüren lassen, wer von ihnen auf der höheren Sprosse der Leiter stand! Also bat er den Meister für seine Ungeschicklichkeit um Verzeihung und schlug um den breit grinsenden Claus einen weiten Bogen.

Es war bereits Nachmittag, als der Meister den Hammer aus der Hand legte und sich mit einem schmutzigen Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. Der Hof der Schmiede war leer. Kein Pferd wartete mehr darauf, beschlagen zu werden.

»Wir brauchen einen Sack Holzkohle«, sagte er zu Jos. Er gab ihm Geld, nannte ihm den Namen des Händlers, der mit seinesgleichen unten am Mainufer die Schiffe entlud, und beschrieb ihm den Weg. »Das ist für heute alles. Wenn die Glocken drüben in St. Stephan zur Vesper läuten, bist du zurück. Wer zu spät zum Nachtmahl erscheint, muss hungern.« Der Meister verschwand im Haus. Jos sah sich unschlüssig den großen Sack an, der nun schlaff und fast geleert in der Ecke hing.

»Ja, das gibt einen krummen Rücken«, spottete Claus.

Dennoch schien es Jos, als wäre er verärgert. Würde er lieber an seiner Stelle in die Stadt gehen und den Auftrag dazu nutzen, ein wenig durch die Gassen zu schlendern oder in einer der zahlreichen Weinstuben einzukehren? Vielleicht. Um den schweren Sack auf dem Rücken jedenfalls beneidete er den Lehrling sicher nicht.

»Den besonders großen Sack, sag ihm das. Und dass du dir keinen Kohlenträger aufschwatzen lässt!«, fügte Claus noch hinzu, ehe er begann, die Schmiede auszufegen, wie der Meister es ihm aufgetragen hatte.

Jos verkniff sich eine Grimasse, ließ den Gesellen bei seinem Besen und eilte auf die Gasse hinaus. Sein erstes Ziel war das Haus der Beginen, wo er Sara von einer langweiligen Flickarbeit erlöste. Freudig begrüßte sie ihn und folgte ihm auf die Gasse. Sie drängte ihn, ihr alles zu berichten, was vorgefallen war, seit sie sich am Abend getrennt hatten. Jos überlegte, ob er die finsteren, verhüllten Männer erwähnen sollte. Mit wem sollte er sonst seine Gedanken und Befürchtungen teilen?

Da der Meister ihn erst beim Vesperläuten zurückerwartete, beschloss Jos, sich erst einmal in der Sandervorstadt umzusehen, die ihm nun vielleicht zur zweiten Heimat werden würde. Sie schlenderten um die Kirche St. Peter herum und folgten einer schmalen Gasse, in der sich verschiedene kleine Werkstätten drängten. Ein öffentliches Bad gab es auch. Links von ihnen erhoben sich die Mauern des Reunerinnenklosters St. Maria-Magdalena.

Jos erzählte von dem Maskenmann und seinen Begleitern und von den Worten, die er belauscht hatte. Sara unterbrach ihn immer wieder und stellte Fragen. Schließlich schwiegen beide. Sie folgten der Pfisterstraße, in der sich die Backstuben der Bäcker aneinanderreihten. In der eng bebauten inneren Stadt waren ihre ständig brennenden Öfen nicht mehr gern gesehen, von denen manche nicht einmal ordentliche Schlote hatten. Die Feuergefahr schien dem Rat einfach zu groß und so waren die Bäcker in die Vorstädte gezogen. In die Semmelgasse vor dem Spitaltor im Osten oder in die Pfistergasse im Süden in der Sandervorstadt.

»Und du bist dir sicher, dass du das nicht missverstanden hast?«, bohrte Sara nach.

»Was sollte man denn an diesen Worten missverstehen können?«, gab Jos zurück. »Fällt dir eine harmlose Erklärung für so etwas ein?«

Sara kaute auf ihrer Unterlippe und schüttelte dann den Kopf. »Nein.« Sie seufzte. »Ach, Jos, in was werden wir da wieder verwickelt? Sind wir nicht gerade erst aus Hall hierhergekommen, um in Frieden in Würzburg zu leben?«

Jos nickte. »Ja, und hier in Würzburg werden wir in nichts verwickelt, dafür sorge ich! Die Männer planen etwas Böses, aber das hat mit uns nichts zu tun, und es geht uns nichts an. Wer weiß, vielleicht hat derjenige, um den es geht, den Tod ja verdient? Wer sind wir, dass wir das entscheiden könnten?«

Sara schwieg, in ihrer Miene jedoch spiegelten sich ihre widerstreitenden Gefühle. Jos war es fast, als könne er in ihrem Gesicht lesen wie Mönche in einem Buch. Einerseits widerstrebte es ihrer Neugier und ihrem Sinn für Gerechtigkeit, eine solche Sache auf sich beruhen zu lassen, anderseits wünschte sie sich nichts so sehr wie ein friedliches, ordentliches Leben!

Der Klang einer Fiedel riss die Freunde aus ihren Grübeleien. Eine Flöte setzte ein und spielte eine lustige Weise, die zum Tanzen lud. Neugierig folgten Sara und Jos der Musik, bis sie die Stadtmauer am Main erreichten. Die Häuser waren nicht bis an die Mauer vorgebaut. Sie ließen einen breiten Streifen frei, auf dem nur einige Schuppen standen, Brenn- und Bauholz lagerte oder andere unempfindliche Dinge, die in den Kellern keinen Platz fanden. Im Hintergrund erhob sich ein halb runder Turm zwei Stockwerke über der Mainmauer. Die der Stadt zugewandte Seite der Letze, wie man diese Türme nannte, war nur mit Brettern vernagelt. Doch Jos gönnte weder Turm noch Mauer einen Blick. Er war am Ausgang der Gasse stehen geblieben und starrte mit offenem Mund zu dem einzigen von einem Garten und einer Mauer umgebenen Haus auf dem Grasstreifen vor der Stadtmauer. Vor seiner offenen Tür standen die beiden Spielmänner und spielten eine Weise, die häufig auf Hochzeiten zu hören war. Genauer gesagt starrte Jos auch nicht das Haus an, sondern das junge Mädchen, das gerade aus der Tür trat.

»Rebecca!«, stieß Sara aus und drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu Jos um. »Hast du das gewusst?«

»Nein – ja – ich meine, vielleicht hat sie es einmal erwähnt, dass sie den Würzburger Henker heiraten wird«, stotterte er und spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann.

»Deshalb wolltest du nach Würzburg!«, rief Sara. Tränen schossen ihr in die Augen. »Und ich Närrin habe dir angeboten, den einsamen Weg in die Fremde mit dir zu teilen! Einsam!« Sie spuckte ihm das Wort vor die Füße. »Da, geh zu deiner Rebecca. Sie wartet auf dich. Nimm nur auf mich keine Rücksicht!« Blind vor Tränen wollte Sara davonlaufen, aber Jos hielt sie am Arm fest.

»Sie ist nicht meine Rebecca«, sagte er traurig. »Sieh hin! Ist dir nicht klar, was hier gerade geschieht?«

Widerstrebend wandte sich Sara erneut dem Geschehen vor dem Haus des Würzburger Henkers zu. Rebecca, das Sara nur zu gut bekannte Mädchen aus Haller Zeiten, trug ein einfach geschnittenes Kleid aus teurem Tuch. Ihre schwarzen Locken fielen ihr offen bis auf die Hüften. Auf dem Kopf trug sie einen Kranz aus frischem Grün, in den ein paar Blumen eingeflochten waren, und ein kurzes Schleiertuch. Ein Mann mit dichtem grauem Haar hielt sie an der Hand und führte sie nun die Stufen hinunter. Ein jüngerer Mann, ebenfalls in teures Tuch gekleidet, trat vor sie hin und verbeugte sich vor ihr. Neben ihm stand ein junges Mädchen, das ihm ähnlich sah. Sie knickste vor Rebecca.

Ein Stück abseits erkannten Sara und Jos den Haller Henker und seinen Sohn Michel. Außer ihnen gab es nur eine Handvoll Gäste. Verständlich, denn wer würde schon mit dem Henker zusammen Hochzeit feiern, wo doch bereits eine Berührung durch seine Hand einen ehrlichen Mann seiner Ehre beraubte und ihn für alle Zeiten aus der Gemeinschaft ausschloss? Der Henker und seine Familie mussten unter ihresgleichen bleiben, den Unehrlichen, wie die Abdecker, die Gassenkehrer und Kloakenreiniger. Gerade einmal Schäfer und Bader gaben sich noch mit diesen Leuten ab, ohne selbst Schaden zu nehmen. Sie standen irgendwo dazwischen, waren nicht unehrlich, aber auch nicht zu den Ehrlichen zu rechnen. Jedenfalls gehörten ihre Kinder ebenfalls nicht zu den erwünschten Ehepartnern für einen Handwerker oder anderen Bürger der Stadt. Die Tochter des Henkers konnte nur einen anderen Henker ehelichen, wenn sie weiterhin in einem soliden Haus leben, gute Kleider tragen und immer satt werden wollte. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Jos wusste das, dennoch schnitt es ihm ins Herz, sie dort vorn neben dem jungen Henker stehen zu sehen, dessen Lager sie von nun an teilen musste. Ach, wie sehr hatte er sich jeden Tag danach gesehnt, sie wiederzusehen, sie noch einmal heimlich zu berühren. Wie dumm von ihm, diesen verbotenen Gefühlen nachzugeben! Jos war sich der Eifersucht wohl bewusst, die Sara quälte. Und dennoch konnte er nicht anders: Er musste Rebecca einfach ansehen und jede Einzelheit des schönen Mädchens in sich aufnehmen. Fast fünfzehn Jahre war Rebecca jetzt alt, so wie Sara. Alt genug, um zu heiraten.

»Einen Tanz für die hübsche Braut!«, wehten die Worte des Fiedelspielers zu ihnen herüber.

Jos wandte sich abrupt ab. Er wollte es nicht sehen. Wie gern hätte er Rebecca jetzt bei der Hand genommen und auf den grasigen Platz geführt, um sie im schnellen Takt des Tanzes herumzuwirbeln, dass ihre Röcke nur so flogen. Er wusste, dass es heute und hier in Würzburg genauso unmöglich war wie früher in Hall. Es schien ihm erst gestern gewesen zu sein, als Rebecca ihm traurig die Worte ihres Vaters wiederholt hatte: »Die einzige Hochzeit, auf der du jemals tanzen wirst, wird deine eigene sein.«

Nun war es also so weit. Heute tanzte Rebecca ihren Tanz und morgen war sie die Frau des Würzburger Henkers. Jos hatte immer gewusst, dass es nur ein Nebelfetzen eines verbotenen Traums gewesen war, den er mit ihr hatte erleben dürfen: die ersten heimlichen Berührungen, der erste Kuss, von dem niemals jemand erfahren durfte. Und doch tanzte ihr Gesicht seit diesem Tag durch seine Träume, und er konnte noch immer den Duft ihrer Haut riechen, vermischt mit den Kräutern, die sie stets bei sich trug.

»Braut oder nicht«, sagte Sara, die Jos beobachtet hatte. »Du kannst und willst sie nicht vergessen. Oder willst du leugnen, dass du noch immer zärtliche Gefühle für sie hegst?«

Das konnte er nicht. »Ich hege für dich Gefühle, Sara«, sagte er stattdessen, um nicht direkt antworten zu müssen. Das war nicht gelogen und dennoch war auch Rebeccas Anziehungskraft ungebrochen. Eine gefährliche Schwäche, die ihn leicht vernichten konnte. Jos wusste das. Er spürte Rebeccas Blick in seinem Rücken. Sie hatte ihn entdeckt. Nein, er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Nicht in diesem Moment. Nicht während sie mit ihrem Bräutigam tanzte.

»Lass uns gehen«, sagte er zu Sara. »Ich muss die Holzkohle für den Meister besorgen und darf nicht zu spät zum Nachtmahl kommen.«

»Gut, ich komme mit dir.« Sie legte ihre Hand an seinen Arm. Vermutlich weil sie wusste, dass Rebecca zu ihnen herübersah. Jos ließ es geschehen. Gott hatte sicher einen Sinn darin gesehen, als er die Welt so errichtete, wie sie nun war. Der Mensch war zu klein, um all seine Absichten zu verstehen.

Zusammen gingen sie zurück zur breiten Hauptstraße, die von der Vorstadt Sand in die innere Stadt führte. Die Stadtmauer, die die Vorstadt einst abgetrennt hatte, war längst eingerissen. Nur hier und da war der Graben noch nicht ganz verfüllt. Wagner hatten sich zu beiden Seiten niedergelassen. Sara und Jos traten durch das Tor, das unter dem Chor der Augustiner Klosterkirche hindurchführte, und überquerten die Domgasse, in der jeden Tag Markt gehalten wurde. Hinter dem Grafeneckart, dem Rathaus der Stadt, bogen sie in Richtung Mainufer ab. Die Gasse führte sie zur Kohlenpforte.

Auf dem Uferstreifen des Mains, außerhalb der Stadtmauer, herrschte reges Treiben. Schiffe wurden entladen, Händler riefen ihre Waren aus, Käufer drängten sich um Säcke und Kisten, um die Qualität ihres Inhalts zu begutachten. Und dazwischen eilten Kohleträger und Kärrner umher, die den reichen Kunden ihre Waren bis in ihre Häuser und Keller brachten. Es erinnerte Jos ein wenig an die Arbeit der Flößer auf dem Unterwöhrd in Hall, bei denen er so manche Woche im Jahr ausgeholfen hatte.

Jos riss sich von seinen Erinnerungen los, ehe das Heimweh zu stark wurde. Er hatte nun eine neue Heimat und eine neue Arbeit – und einen Meister, den er nicht erzürnen wollte! Jos fragte sich zu dem Kohlenhändler durch, den Meister Buchner ihm genannt hatte. Er streckte ihm die abgezählten Münzen hin.

»Einen großen Sack Holzkohle«, sagte er. »Von der besten, die Ihr habt.«

Der Händler rieb sich die Nase und fügte so den schwarzen Flecken in seinem Gesicht noch einen weiteren hinzu.

»Weiß nicht, ob ich noch was habe. Und für den Preis schon gar nicht. Da musst du noch ein paar Heller dazulegen!«

»Der Meister hat mir aber diese Summe genannt und mir Euren Namen gesagt!«, widersprach Jos, dem es schon ganz angstvoll zumute wurde. Was würde Hermann Buchner sagen, wenn er ohne die Kohle zurückkommen würde?

»Mag sein, doch Holzkohle bekommen hier in der Stadt zuerst die Schmiede. Nur wenn noch was übrig ist, liefere ich auch an andere Meister. So lautet der Beschluss des Oberrats.«

Jos stieß erleichtert die Luft aus. »Aber die Kohle ist für einen Schmied. Meister Hermann Buchner in der Sandervorstadt. Ich bin sein neuer Lehrjunge. Jos Zeuner aus Hall.«

»Warum sagst du das nicht gleich, Bursche?«, brummte der Kohlenhändler und strich die Münzen ein. Er musterte Jos nachdenklich. »So, so, ein neuer Lehrbub. Dann sollst du sicher den ganz großen Sack mitbringen?«

»Ja, das hat der Geselle Claus gesagt.«

»So, so, der Geselle Claus.« Der Händler grinste breit. Er machte sich an einem riesigen Sack zu schaffen und lud ihn Jos auf den Rücken.

»Lass ihn nur nicht fallen!«, riet er. »Wenn er aufplatzt und du die Holzkohle im Morast verteilst, dann wirst du keine Freude mehr an diesem Abend haben!« Er grinste noch breiter.

Jos dankte unter einem Stöhnen und stakste schwankend davon. Er dachte, seine Knie würden nachgeben, so sehr drückte die Last auf seinen Rücken. Sara ging voran und bemühte sich, ihm den Weg frei zu machen, damit er nicht auch noch ständig den Leuten in den Gassen ausweichen musste. Jos schwitzte. Er fürchtete schon, die Hörrleingasse nie mehr zu erreichen, doch als es ihm gerade schwindelig vor den Augen wurde und er glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, schob sich eine abgewetzte Lederschürze in sein Blickfeld, und er hörte die Stimme seines Meisters.

»An dir ist mehr dran, als es den Anschein hat!« Zwei kräftige Hände packten den Sack und hoben ihn von seinem Rücken. Jos blinzelte und griff nach dem Torbalken, um nicht zu straucheln.

»Hier die Kohle, Meister«, stieß Jos keuchend hervor. »Der ganz große Sack, wie Claus gesagt hat.«

»Das sehe ich!« Der Meister schnürte den Sack auf und entnahm ihm ein paar mächtige Steinbrocken, die auf der Kohle lagen.

Jos traute seinen Augen nicht. »Aber, aber wie konnte das passieren?« Er zog den Kopf ein wenig ein und sah in Erwartung eines Donnerwetters zu seinem Meister auf.

Dessen Miene schwankte zwischen Ärger und Belustigung. »Ein alter Scherz zwischen Schmiedegesellen und den Kohlehändlern, der nicht auszurotten ist«, erklärte er. »Na, wenigstens hast du ihn nicht fallen lassen und meine Kohle auf der Gasse verteilt. Bring den Sack in die Schmiede, die Steine wirf in den Graben hinter das Haus. Und dann wasch dir Gesicht und Hände und komm hinauf in die Küche.« Meister Buchner ging davon.

»So eine Gemeinheit«, schimpfte Sara.

Jos wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und nickte. »Ja, und es war sicher nicht der letzte Streich, den er auf meine Kosten ausheckt.« Er warf einen Blick in den Sack. »Na, wenigstens ist noch Kohle darunter und ich muss nicht noch einen Sack durch die ganze Stadt schleppen!«

Sara bückte sich und hob einen der Steine auf. Jos nahm sich zwei weitere. Gemeinsam brachten sie die Steine in den Graben und den Sack in die Schmiede. Die Glocken von St. Stephan begannen zu läuten. Hastig nahmen sie Abschied. Sara kehrte zum Haus der Beginen zurück, Jos wusch sich die Hände, rannte dann die Treppe hinauf und setzte sich neben Niclas. Die Magd Emma verteilte die gefüllten Schalen.

Während Jos seinen Eintopf löffelte, wanderten seine Gedanken zu Rebecca zurück. War der besondere Stand der Henker überhaupt Gottes Wille? Oder hatten sich die Menschen diese Gebote von Unehrlichkeit und Ausgrenzung gegen seine Ordnung ausgedacht? Rebecca war dieser Meinung. Aber warum unternahm Gott dann nichts dagegen? War er nicht mächtig genug, alles in seinem Sinn zu ändern? Schließlich war dies seine Welt, die er mit eigenen Händen erschaffen hatte! Eines jedenfalls war sicher: Die Ehe des neuen Henkerspaars war in seinem Sinn und Gott hatte sie geheiligt. Es gab nicht viel, das schlimmer war, als gegen das Gebot der ehelichen Treue zu verstoßen. Und Rebecca war nun eine verheiratete Frau. Nie wieder würde er sie berühren. Nie wieder ihre Lippen spüren.

»Ich wüsste zu gern, wovon unser Lehrbub gerade träumt, dass er es nicht einmal mehr schafft, seinen Löffel zum Mund zu führen.« Meister Ruprechts Stimme drang in Jos’ Gedanken.

Hastig schob sich Jos das Gemüse in den Mund und kaute darauf herum, ohne etwas zu schmecken. Er durfte nicht daran denken, was im Haus des Henkers gerade vor sich ging. Dies hier war nun seine Familie. Er lächelte Emma an und stieß Claus wie aus Versehen gegen den Ellenbogen, sodass sich der Löffel Brühe, den er gerade zum Mund führen wollte, über seinen Kittel ergoss. Emma kicherte und Claus schoss ihm einen bösen Blick herüber.

»Das wirst du büßen, Kleiner«, zischte er Jos zu.

»Ich wollte mich nur für den Rat mit dem Sack bedanken«, raunte Jos zurück. »Der ganz große!«

Nun grinste der Geselle. »In Ordnung. Für heute sind wir quitt. Für heute, wohlgemerkt!«

Die Maske der Verräter

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