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Kapitel 5 Der Tote am Galgen

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Was ist denn das? Hast du wieder Geld für unsinnigen Tand verschwendet?«, sagte Simon, als er in die Stube trat, in der seine Schwester am Tisch stand, ein paar bestickte Borten und in der Farbe passende Bänder vor sich ausgebreitet. Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören. Luzia schob schmollend die Lippe vor.

»Gar nichts habe ich verschwendet«, protestierte sie. »Mein Sonntagskleid ist inzwischen nur noch schäbig zu nennen. So laufe ich nicht mehr herum! Zumindest die Borten und Bänder muss man ersetzen – wobei ich eigentlich finde, ich hätte einen neuen Rock verdient! Ich habe einen wundervollen Stoff auf dem Markt gesehen. Ich werde Rebecca fragen! Wenn sie Vater darum bittet, wird er sicher nicht ablehnen.«

Simons Miene wurde noch düsterer. »Du hast dich ja schnell mit den neuen Verhältnissen angefreundet!«

»Warum nicht? Rebecca ist nett zu mir. Nicht wie eine strenge Mutter, die mich zu beherrschen versucht. Es ist eher, als habe ich eine Freundin gefunden. Sie sagt, das Mieder, das ich mir genäht habe, steht mir sehr gut!«

»Ah, eingeschmeichelt hat sie sich bei dir, um den Keil noch ein wenig tiefer in die Familie zu treiben! Siehst du nicht, was sie da tut? Sie will uns gegeneinander ausspielen!«

Luzia sah ihn unsicher an. »Wie kommst du denn auf so was?«

»Weil ich die Menschen besser kenne als du, kleine Schwester. Rebecca ist eine Zerstörerin. Sie hat den Teufel im Blick! Lass dich warnen! Wenn du ihr dein Herz gibst, dann wird sie es vernichten. Halte dich lieber von ihr fern.«

Tränen standen in Luzias Augen. »Dabei habe ich mich so gefreut, als sie hier in Würzburg ankam. Ich hatte befürchtet, dass Vater uns ein grässliches Weib aufladen würde, das sich in alles einmischt. Mit Rebecca im Haus fühle ich mich nicht mehr so einsam.«

Simon trat näher und legte seiner Schwester den Arm um die Schultern. »Nicht weinen, Luzia. Du hast doch mich! Lass es nicht zu, dass sie uns beide entzweit. In unseren Adern fließt das gleiche Blut, ist das nicht wichtiger als eine Fremde, die uns aufgedrängt wurde?«

»Ja, schon«, gab Luzia kläglich zu.

»Also, dann höre auf mich und halte dich von diesem Weib fern!« Er drückte sie kurz an sich und verließ dann die Stube.

Luzia sank auf einen Hocker. Sie sah auf ihre Einkäufe herab, doch ihr Anblick schenkte ihr keine Freude mehr. Es war nur ein schöner Traum gewesen. Ein kurzer Traum.

Rebecca kam mit ein paar Hemden des Henkers, die geflickt werden mussten, in die Stube und lächelte Luzia an. »Und? Kommst du mit reicher Beute nach Hause? Hast du etwas Schönes für deinen Rock bekommen?«

Luzias Miene wurde abweisend. Hastig stopfte sie die Borten und Bänder in ihren Beutel.

»Ich finde, du solltest ein neues Sonntagskleid bekommen. Wollen wir morgen auf dem Markt nicht nach Stoff sehen, der dir gefällt? Es wäre eine Schande, die neuen Bänder und Borten an dein altes Kleid zu nähen.« Rebecca sah Luzia an, doch die mied ihren Blick.

»Ist nicht nötig«, murmelte sie, drückte ihren Beutel an die Brust und stürzte aus der Stube. Rebecca sah ihr nach. Sie seufzte. Was hatte sie getan, das diesen plötzlichen Sinneswandel erklären konnte? Ihr fiel nichts ein. Im Gegensatz zu Simon hatte Luzia sie fast wie eine lang ersehnte Freundin aufgenommen.

Aber vielleicht war ihre Ablehnung ja auch gar nicht so gemeint. Nur ein Anflug von übler Laune, die Mädchen in diesem Alter zuweilen heimsuchte. Vielleicht würde morgen alles schon ganz anders aussehen. Und auch Simon würde sich bald an sie gewöhnen und seine feindselige Haltung aufgeben.

So ganz allerdings vermochte Rebecca ihren eigenen beruhigenden Gedanken nicht zu trauen.

»Du sollst zum Galgenberg gehen, sagt der Vater. Sofort!«

Rebecca musterte den jungen Mann, der ohne einen Gruß am anderen Morgen in die Küche polterte. Schön war er, mit seinem gleichmäßigen Gesicht, dem kantigen Kinn und den ersten Bartstoppeln um die Wangen. Er strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht und sah sie herausfordernd aus tiefblauen Augen an. Rebecca hielt mit ihren dunklen Augen seinem Blick stand.

»Dir auch einen gesegneten Morgen, Simon«, sagte sie und wusch weiter das Geschirr, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen.

Simon brummte, nahm sich einen Krug unverdünnten Wein, warf sich auf einen Schemel und begann zu trinken. Sein Vater würde das sicher nicht gutheißen, vor allem da seine geröteten Wangen und der Glanz in seinen Augen davon sprachen, dass dies heute Morgen nicht die ersten Becher Wein waren. Dennoch schwieg Rebecca. Sie wusste, dass sie mit ihrer Ermahnung nur noch mehr Widerstand hervorrufen würde. Trotz der klaren Worte des Henkers war der Sohn nicht bereit, sich seiner jungen Stiefmutter unterzuordnen. Sie beschloss, die Kämpfe mit Simon auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

»Was soll ich auf dem Galgenberg tun?«, fragte sie stattdessen.

Simon nestelte an seinem Gürtel und legte drei leere Lederbeutel auf den Tisch. »Die hier unter dem Galgen mit Erde füllen.« Er lächelte. »Der Saft der Gehängten ist gefragt!«

Rebecca wusste, dass es eine stete Nachfrage nach Amuletten und fragwürdigen Säckchen gab, die ein Stück eines Hingerichteten enthielten. Natürlich war ein Finger oder ein Knochen teurer als ein Beutelchen mit Erde, die unter dem Gehängten zusammengescharrt worden war. Die Armen der Stadt gingen nach Hinrichtungen häufig selbst hinaus zum Galgenberg, um sich die begehrten Schutzzauber zu holen, daher musste der Henker zusehen, dass er seine Trophäen schnell in Sicherheit brachte und gegen Münzen an die reichen Bürger und Adeligen liefern konnte. Ja, selbst Kirchenmänner zählten zu seinen Kunden, die sich bei Nacht zum Haus des Henkers schlichen. Die Eigentümer der Herrenhöfe gingen allerdings nicht selbst in die Vorstadt, um den Henker aufzusuchen. Sie schickten Boten und ließen sich das Gewünschte bringen. Rebecca wusste, wie es in Hall gewesen war. Sie gab sich nicht der Illusion hin, in der Bischofstadt könnte es anders sein, nur weil hier ein kirchlicher Herr statt einem Stadtrat das Sagen hatte.

Rebecca trat an den Tisch und steckte die Lederbeutel ein. »Gab es in den vergangenen Tagen eine Hinrichtung? Soll ich sonst noch etwas besorgen?«

»Nein, du musst dir nicht vor Angst die Röcke beschmutzen. Obwohl dir eine stinkende Leiche zur Abhärtung sicher nicht schaden würde.« Simon kicherte gehässig.

»Du scheinst zu vergessen, dass auch der Rat von Hall mit seinem Gesindel umzugehen weiß«, erwiderte Rebecca. »Ich bedarf keiner weiteren Abhärtung, glaube mir. Um mir Entsetzen einzujagen, bedarf es mehr als einen Gehängten!« Sie sah kühl auf ihn herab, was natürlich nur ging, weil er saß und sie stand. Wenn er sich erhob, überragte er seine junge Stiefmutter um einen ganzen Kopf.

Er sah zu ihr hoch, und was sie in seinem Blick erkannte, ließ sie unwillkürlich zurückweichen. War das der Grund für seine abwehrende Haltung ihr gegenüber? Dieser Gedanke war ihr bisher noch gar nicht gekommen.

Rebecca schloss die Tür hinter sich und ging hinaus. In der Nacht hatte es geregnet. Rebecca durchquerte den Wiesenstreifen und blieb vor einer großen Pfütze stehen. Sie betrachtete ihr Spiegelbild: das junge Gesicht mit den vollen Lippen und den dunklen Augen. Ihr langes schwarzes Haar war nun unter einer Haube verborgen, unter der sich jedoch schon wieder ein paar widerspenstige Strähnen hervorkringelten. Nein, diese Haube ließ sie eher verführerisch denn alt aussehen. Sie zupfte an der bestickten Borte, die den Ansatz ihrer üppigen Brüste umschloss. Noch waren sie fest, die Taille schmal. Eigentlich durfte sie sich über das Begehren in Simons Blick nicht wundern. Aber es war eine Todsünde! Sie war an die Stelle seiner Mutter getreten und er durfte sie nicht in dieser Weise ansehen.

Grübelnd ging Rebecca durch die Stadt. Sie verließ den inneren Ring durch das große Stephanstor und wanderte zwischen den Gärten den Steinbrecherweg entlang, bis sie ein zerbrochenes Törlein in der Außenmauer erreichte, neben dem sich ein nicht minder baufälliger Turm erhob. Der ganze Mauerabschnitt hier zwischen Rennweg- und Konradstor hätte eine gründliche Ausbesserung dringend nötig gehabt. Zwar war es nicht möglich, mit einem Pferd durch die schmale Pforte zu reiten, doch ein halbwegs geschickter Wanderer konnte die bröckelnde Mauer mit Leichtigkeit überwinden, selbst wenn man das Törlein verbarrikadierte.

Zwischen Wiesen, Feldern und Weingärten wanderte Rebecca nach Osten. Die Sonne stand am frischblauen Morgenhimmel und wärmte ihr Gesicht. Es roch nach feuchter Erde und dem nahenden Sommer. Wie konnte man da schweren Gedanken nachhängen? Rebecca zog ihre Schuhe und Strümpfe aus und stopfte sie in ihr Bündel. Ah! Was für eine Wohltat! Sie hatte Schuhe nie gemocht und war die vergangenen Jahre fast immer barfuß gegangen. Vor ihrer Hochzeit jedoch hatte der Vater sie ins Gebet genommen und ihr gesagt, dies wäre mit ihrer neuen Stellung als Frau des Henkers nicht zu vereinbaren. Sie würde sich an ihre Schuhe gewöhnen müssen!

Nun gruben sich ihre Zehen in die feuchte Erde und sie genoss das kühle Gras an ihren Beinen. Fast hätte sie glauben mögen, sie wäre wieder daheim und streife durch die Wiesen vor den Toren Halls, um Kräuter für den Vater zu sammeln, aus denen er seine Heiltränke braute. Leicht und frei fühlte sich Rebecca und begann zu singen. Die ersten Feldlerchen erhoben sich und stimmten mit ihr ein.

Kaum eine Stunde später erreichte Rebecca den Galgenberg mit den drei Hinrichtungsplätzen: dem steinernen Podest für die Enthauptungen, der Radstatt und dem dreiseitigen Galgen. Die beiden ersten Stätten waren leer, doch von einem der Querbalken des Galgens hing ein Körper herab und schwang sanft im Wind hin und her. Rebecca runzelte überrascht die Stirn. Hatte Simon nicht gesagt, es habe in letzter Zeit keine Hinrichtungen gegeben?

Eine Schar Raben erhob sich krächzend in die Luft, als Rebecca herantrat. Die junge Frau betrachtete den Körper kritisch. Ein Mann im besten Alter. Zu seinen Lebzeiten sicher ein gut aussehender Mann – soweit man das jetzt noch beurteilen konnte. Die Raben hatten sich bereits an ihm gütlich getan, dennoch war sich Rebecca sicher, dass er noch nicht lange tot war. Ein oder zwei Tage. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Gestern hatte es keine Hinrichtung gegeben und am Tag zuvor hatte sie den Henker geheiratet. Merkwürdig. Sie musste sich irren. Sicher war er am Tag vor ihrer Ankunft in Würzburg gehängt worden. Aber warum hatte ihr niemand etwas gesagt? Hinrichtungen waren sicher auch in Würzburg nicht an der Tagesordnung und sorgten noch lange für Gesprächsstoff. Und Simon hatte behauptet, es gäbe hier draußen keine Leiche.

Verächtlich verzog Rebecca den Mund. Auf das, was Simon sagte, durfte sie wohl nichts geben. Dennoch musste er einen Grund gehabt haben, sie anzulügen. Während sie die Lederbeutel mit Erde füllte, grübelte sie über eine Erklärung nach. Dass Simon von dem Gehängten nichts wusste, schied aus. Vielleicht lautete ihr Auftrag gar nicht, nur Erde vom Galgen zu holen, und Simon hatte ihr nicht alles ausgerichtet, um sie in Misskredit zu bringen. Sie konnte sich sein hämisches Grinsen lebhaft ausmalen, wenn der Henker sein junges Weib für seine Nachlässigkeit schelten würde. Das würde passen.

Ja, Erde konnte man verkaufen, aber das brachte nicht viel ein. Sie ließ ihren Blick über den Toten wandern. Bis auf ein paar Schnabelhiebe war er unversehrt. Auch das war merkwürdig. Kamen die Armen der Stadt nicht selbst wie die Krähen, um sich ihre Amulettbeutel zu füllen? Hatte sie der Vater früher nicht ein paarmal schon in der Nacht nach einer Hinrichtung auf den Galgenberg von Hall geschickt, um die wertvollen Finger zu holen?

Das war es! Damit wollte Simon sie in Verlegenheit bringen! Rebecca nickte. Mit grimmiger Miene nahm sie ihr Messer vom Gürtel. Es würde ihm nicht gelingen!

»Wo bist du gewesen? Ich suche dich seit Stunden!«

Der Henker packte sein junges Weib hart am Arm und schüttelte sie. Sie sah erstaunt zu ihm hoch, konnte aber erst etwas sagen, als er sie losließ.

»Auf dem Galgenberg«, stieß sie atemlos hervor und verzog voll Schmerz das Gesicht, da er ihren Oberarm immer noch umklammerte, als sei er ein eiserner Schraubstock.

»Auf dem Galgenberg?«, wiederholte er verblüfft und ließ seine Frau los. »Was hattest du dort zu suchen?«

Rebecca ahnte Schlimmes. Sie zog die Lederbeutel und ein Tuch hervor, in das etwas eingewickelt war.

»Ich habe Erde vom Fuß des Galgens und die Finger gebracht.«

Nun schien der Henker überrascht. »Ich verstehe nicht.«

»Hast du Simon nicht aufgetragen, mich zum Galgen zu schicken?«, fragte Rebecca. Der Henker schüttelte den Kopf.

»Nein, ich sagte ihm heute Morgen nur, die Säckchen mit Erde wären verbraucht, und er solle zusehen, dass sie bald wieder ergänzt werden.«

Rebecca zog eine Grimasse. »Dafür hat er sofort gesorgt.«

»Aber warum hat er mir das nicht gesagt, als ich das ganze Haus nach dir zusammengebrüllt habe?«

Rebecca fiel sofort ein Grund ein, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Sie ahnte, dass sie ihre Stellung nicht dadurch stärkte, dass sie seine Kinder bei ihm anschwärzte. Sie würde Geduld haben müssen, bis er die Lage selbst durchschaute.

»Jedenfalls dachte ich«, fuhr sie betont fröhlich fort, »wenn ich schon mal draußen auf dem Galgenberg bin, bringe ich auch gleich die Finger des Gehenkten mit. Ich nehme an, auch in Würzburg sind die Leute begierig auf diese Schutzamulette. In Hall zahlen sie inzwischen sechs Batzen dafür!« Rebecca deutete auf das Tuch.

»Wovon sprichst du?« Konrad Keßler schlug das Leinen auseinander und erstarrte. War der Henker zuvor schon überrascht gewesen, so schien er nun völlig fassungslos. »Herr im Himmel, was geht hier vor sich?«

Das seltsame Gefühl, das Rebecca beim Anblick der Leiche empfunden hatte, wurde nun zu einem festen Knoten in ihrem Magen. Sie hatte recht gehabt. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Du hast ihn gar nicht gehängt?«, flüsterte sie.

Meister Keßler schüttelte den Kopf. »In dieser Stadt wurde schon seit vielen Monaten niemand mehr hingerichtet!« Er packte sie beim Handgelenk und zog sie hinter sich her. »Komm mit. Wir müssen zum Galgenberg. Ich muss mir das ansehen. Kannst du reiten?«

Rebecca nickte und raffte den Rock, um nicht über den Saum zu stolpern. Konrad Keßler rief nach Simon und nach seinem Knecht, damit sie zwei Pferde sattelten. Nur wenige Augenblicke später stob er durch das Sandertor aus der Stadt und folgte dem Karrenweg an der äußeren Mauer entlang. Zu Fuß wäre das ein Umweg gewesen, mit den Pferden kamen sie hier draußen jedoch schneller voran als in den überfüllten Gassen der Stadt.

Der Henker trieb seinen kräftigen Braunen an und sprengte an den Karren und Fuhrwerken vorbei. Rebecca hatte Mühe, ihm mit der kleinen Fuchsstute zu folgen. Erst am Fuß des Galgenbergs holte sie ihren Mann wieder ein. Er hatte sein Ross gezügelt und starrte auf den Gehängten.

»Ein, höchstens zwei Tage«, sagte er mehr zu sich selbst.

Rebecca nickte. »Ja, das dachte ich auch.«

Er warf ihr einen forschenden Blick zu, sagte aber nichts mehr. Sie stiegen ab.

»Halte die Pferde«, befahl er und warf ihr seinen Zügel zu. Rebecca gehorchte, auch wenn sie ihn lieber begleitet und mit ihm über die seltsamen Umstände dieser Hinrichtung gesprochen hätte.

Vornüber gebeugt, die Augen auf den Boden gerichtet, näherte sich der Henker in einer weiten Spirale dem Galgen. Dann blieb er vor dem Toten stehen und betrachtete ihn. Endlich zog er sein Messer aus der Lederscheide und schnitt das Seil durch. Der Körper fiel zu Boden. Rebecca führte die Pferde heran. Sie rochen den Tod und schnaubten nervös.

»Nehmen wir ihn mit?«

Der Henker nickte. »Hier gehört er nicht her.«

»Warum? Kennst du ihn? Woher wollen wir wissen, ob er den Tod nicht verdient hat?«

»Das zu beurteilen, obliegt den Richtern. Und mir alleine obliegt es, einen Verurteilten an diesem Balken aufzuziehen!«, fügte er hinzu und deutete anklagend auf den nun leeren Galgen. »Niemand hat das Recht, eine Blutstrafe in die eigenen Hände zu nehmen!« Er warf den toten Körper über den Pferderücken und schwang sich hinter ihm in den Sattel. Langsam ritt er in die Stadt zurück.

Rebecca folgte ihm. Sie konnte den Groll des Henkers spüren und verstand. Er zürnte nicht so sehr, weil ein Mensch ermordet worden war, denn Mord musste man es nennen – vollzogen ohne eine ordentliche Gerichtsverhandlung. Vielmehr brachte ihn der Missbrauch seiner Amtsgewalt und der städtischen Hinrichtungsstätte auf. Schließlich hätte man den Mann an jedem beliebigen Baum aufknüpfen können. Warum also der Galgen? Rebecca nagte an ihrer Lippe. Je mehr sie darüber nachdachte, desto gesicherter erschien es ihr, dass dieser Ort mit Bedacht gewählt worden war. Diese Hinrichtung war eine Botschaft! Aber an wen? An den Henker?

Nachdenklich betrachtete Rebecca den breiten Rücken vor sich und fragte sich, ob Konrad Keßler die Botschaft verstand.

Der Tote am Galgen war natürlich das Gesprächsthema in der ganzen Stadt. Jos erfuhr davon, als er bei einem Rotschimmel den Vorderhuf aufhob, damit der Meister das Tier beschlagen konnte.

Der Schmied schimpfte mit dem Besitzer. Viel zu spät sei er gekommen. »Acht Wochen! Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«, fuhr er den Bäcker aus der Pfistergasse an, den er wohl schon länger kannte. »Aber nein, das Zählen scheint nicht deine Stärke. Wenn ich mich recht erinnere, dann habe ich deinen Gaul vier Monate lang nicht mehr gesehen, und sage mir nicht, du hättest ihn zwischendurch woanders beschlagen lassen. Ich kenne meine Eisen – auch wenn von denen nicht mehr viel übrig ist.«

Der feiste Bäcker hub zu einer Verteidigung an, aber der Schmied ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und sag jetzt nicht, dass es bei dir auf jeden Pfennig ankommt! Ich kenne andere, die sich die zwölf Heller wirklich vom Mund absparen müssen und ihre Pferde dennoch nicht so verkommen lassen. Hast du nicht gemerkt, dass der Stollen beim hinteren linken Eisen abgebrochen ist? Das Tier tritt jetzt bei jedem Schritt schräg auf. So macht man Pferdebeine kaputt! Und das Horn ist so stark nachgewachsen, dass es überall schon absplittert.«

»Ja, ja, ist schon gut. Du hast recht«, räumte der Bäcker kleinlaut ein und strich sich das rotblonde Haar aus der Stirn. »Ich gelobe Besserung!«

Der Schmied hatte nun alle vier Eisen entfernt und den Schaden begutachtet. Während der Meister mit einer Hauklinge und dem Holzklöpfer das verbogene und zersplitterte Horn abschlug, wechselte der Bäcker rasch das Thema.

»Hast du übrigens schon von dem Toten gehört?«

»Von welchem Toten?«, erwiderte der Schmied wenig interessiert und griff nach der Raspel, um die Ränder des Hufs zu glätten.

Der Bäcker holte tief Luft und spannte die Brust. »Na der am Galgen, den das junge Weib des Henkers heute Morgen entdeckt hat.«

Nun war auch Jos bei der Sache und spitzte die Ohren. Sprach der Bäcker von Rebecca? Natürlich! Von wem sonst?

»Ich dachte, Tote gehören genau dorthin«, brummte Meister Buchner, während er sich den nächsten Huf vornahm.

»Nicht wenn der Henker sie nicht gerichtet hat«, widersprach der Bäcker. »Oder hast du in letzter Zeit von einer Hinrichtung gehört? Na? Ich jedenfalls nicht. Wie man hört, ist er erst gestern Nacht gestorben.« Der Bäcker senkte die Stimme, die einen genüsslichen Tonfall annahm. »Ich kann es mir richtig vorstellen, wie seine Mörder ihn in der Nacht zum heiligen Sonntag auf den Galgenberg gelockt haben. Vielleicht kannte er sie gar nicht. Sicher trugen sie Masken. Sie haben über ihn Gericht gesprochen und dann hat ihm einer die Schlinge über den Hals geworfen und ihn zum Galgen gezerrt. Vergeblich hat er sich gewehrt. Niemand konnte seine Schreie hören.«

Der Schmied schnaubte.

»Oder er ist gemeinsam mit ihnen zum Galgenberg gegangen. Sie haben sich dort draußen getroffen, um eine Teufelei auszuhecken. Ja, und dann kam es zum Streit und sie haben ihn aufgeknüpft!«

»Wenn du nicht mehr genug Brötchen verkaufst, dann solltest du Geschichtenerzähler werden«, sagte Meister Buchner und verschwand in der Schmiede.

Der Bäcker sah ihm nach. Seine Miene wirkte unzufrieden.

»Weiß man denn, wer der Tote ist?«, wagte Jos zu fragen.

Der Bäcker lächelte ihn an. Wenn schon der Schmied so wenig Interesse an seiner Geschichte zeigte, so konnte er wenigstens dem Lehrbuben weiterberichten. »Sobald er davon hörte, ist der Henker mit seinem Weib zum Galgen geritten und hat den Toten in die Stadt gebracht. Der Oberrat war wohl ganz schön schockiert, als der Henker plötzlich in die Runde platzte und ihnen eine Leiche vor die Füße legte.« Er grinste schief. »Kein schöner Anblick für die werten Chorherren. Und von unseren Herren aus dem bürgerlichen Rat sind anscheinend auch einige ganz schön blass geworden. Man sagt, die Raben hätten sich bereits an ihm gütlich getan, und seine Finger fehlten ebenfalls.«

»Weiß man, wer er ist?«, wiederholte Jos seine Frage.

Der Bäcker machte eine ungeduldige Handbewegung. Offensichtlich mochte er es nicht, wenn man versuchte, seine Geschichte zu beschleunigen. »Also, der Henker legte dem Oberrat die Leiche vor die Füße und fragte die Herren, was das zu bedeuten habe.« Der Bäcker kicherte. »Den Aufruhr hätte ich gern miterlebt! Jedenfalls wollte auch der Henker erfahren, ob ein Mann in Würzburg vermisst würde. Die Ratsherren wussten von nichts. Erst als sie die Viertelmeister holen ließen, berichtete der aus der Vorstadt Pleichach, am Vorabend habe ihn die Frau eines Gerbers aufgesucht, deren Mann in der Nacht zuvor spurlos verschwunden sei. Sein Pferd hat man auf dem alten Judenfriedhof beim Frauenhaus gefunden. Sie dachte erst, er müsse bei den freien Weibern gewesen sein, die aber haben Stein und Bein geschworen, ihren Mann nicht gesehen zu haben. Ich denke, sie sprechen die Wahrheit, denn ich frage dich, wozu hätte er das Pferd aus dem Stall holen sollen, wenn er nur die paar Schritte zum Frauenhaus hätte gehen wollen?«

Jos platzte fast vor Neugier, dennoch wagte er nicht, den Bäcker ein weiteres Mal zu unterbrechen. So brummte er nur zustimmend.

»Sie ließen also die Frau in den Bischofssaal bringen.«

»Hinauf in die Burg?«, fragte Jos.

»Nein! Der Oberrat tagt im Landgericht, dem großen Gebäude zwischen dem Dom und dem Neumünster. Unterbrich mich nicht immer!« Der Bäcker runzelte die Stirn. »Wo war ich? Ach ja. Sie brachten die Gerbersfrau herbei. Sie erkannte ihren Mann sofort und warf sich weinend über die Leiche.«

Der Schmied kehrte zurück und begann, die neuen Eisen aufzunageln. »Nun, bist du mit deiner Schauergeschichte noch immer nicht zu Ende?«

»Doch«, gab der Bäcker gekränkt zurück. »Es ist nur noch hinzuzufügen, dass der Oberrat die Frau vergeblich befragt hat. Sie habe keine Ahnung, was ihr Mann in der Nacht am Galgenberg wollte und warum man ihn aufgeknüpft hat. – Zumindest sagt sie das.«

»Und wieder ein grausiges Rätsel, über das die Stadt sich tagelang das Maul zerreißen kann, bis sie etwas Neues geliefert bekommt, das ihre Neugier anstachelt«, knurrte der Schmied, während er mit dem Daumen die vernieteten Nagelspitzen prüfte. Er nickte zufrieden. »Du kannst ablassen.«

Jos ließ den Huf sinken. Sein Rücken schmerzte schon wieder.

Meister Buchner streckte die Hand aus. »Zwölf Heller, und versuch nicht, mit mir zu handeln! Das ist bereits ein Freundschaftspreis.«

Der Bäcker schnaubte unwillig, kramte aber in seinem Beutel und ließ einige Münzen in die schwielige Hand des Schmieds fallen.

»Zwölf habe ich gesagt. Das sind erst zehn!«

»Aber du behältst die alten Eisen und machst neue daraus!«, protestierte er.

»Ja, drei alte geben zwei neue – deshalb macht es ja nur zwölf Heller. Eisen ist teuer, das müsstest selbst du wissen!«

Seufzend legte der Bäcker noch zwei Heller nach. »Buchner, du bist geldgierig und unbarmherzig!«, schimpfte er.

»Ach ja? Dasselbe wollte ich gerade von dir sagen.«

Der Bäcker nahm sein Ross bei den Zügeln. »Also, dann bis zum nächsten Mal.«

»In acht Wochen!«, nickte der Schmied. »Wenn du nicht kommst, hole ich mir dein Pferd höchstpersönlich.«

Der Bäcker hatte einige Schwierigkeiten, in den Sattel zu kommen. Erst als er den Hackklotz als Tritt benutzte, gelang es ihm.

»Egal was vorgefallen ist, jedenfalls ist es ein großer Verlust für die Stadt, und wir werden ihn beim nächsten Schützenfest schmerzlich vermissen.«

»Wen?«, fragte der Schmied verwundert.

»Den gehängten Gerber!«, sagte der Bäcker und schnaubte ärgerlich. »Er war der beste Armbrustschütze der Stadt und hat die vergangenen Jahre dafür gesorgt, dass die Trophäe nicht nach Heidingsfeld oder gar nach Höchberg ging!«

Er hob grüßend die Hand und trabte davon. Jos starrte ihm mit offenem Mund nach. Der beste Armbrustschütze der Stadt! Konnte es das bedeuten, was ihm gerade durch den Kopf fuhr? Der Maskenmann, das nächtliche Gespräch hier in der Schmiede!

Tief in Gedanken räumte Jos die Werkzeuge weg und säuberte den Hof. Dann musste er wieder die Blasebälge treten und die Eisen im Feuer wenden. Eine Arbeit, bei der sich gut grübeln ließ.

Er musste sich Gewissheit verschaffen, aber wie? Zu allererst musste er mit Rebecca sprechen. Sie hatte den Toten gefunden, und sie wusste sicher, was zu tun war.

»Jos!«

Der Lehrjunge zuckte zusammen. Dem Gesichtsausdruck des Meisters zufolge hatte er ihn nicht zum ersten Mal gerufen.

»Wo bist du mit deinen Gedanken? Die Eisen werden zu heiß! Siehst du nicht, dass sie schon ganz weiß sind und die Funken sprühen? Das Eisen verbrennt, wenn du es überhitzt. Und behaupte nur nicht, ich hätte dir das nicht erklärt!« Er gab ihm eine Ohrfeige.

Jos senkte beschämt den Kopf. »Nein, Meister, das habt Ihr wohl. Ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Verzeiht.« Jos zog das sprühende Eisen aus der Glut und hielt es mit der Zange in die Luft.

»Das taugt nicht mehr viel. Du kannst es zum Üben verwenden. Versuche, es gleichmäßig zu glätten und in Form zu biegen. Nimm den kleineren Hammer dort drüben.«

»Ja, Meister.«

Der Schmied trat näher an ihn heran und senkte die Stimme so weit, dass Claus, der ein paar Schritte entfernt die Nägel sortierte, seine Worte nicht hören konnte. »Und hör auf, in deinem Kopf Gedanken zu bewegen, die dich ins Verderben stürzen! Ich weiß, was der Bäcker dir erzählt hat und mit welchen Schlüssen du jetzt deinen Geist vergiftest. Ich habe dir schon einmal gesagt: Vergiss, was du in dieser Nacht gesehen und gehört hast. Ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen. – Und nun schmiede dein Eisen, bevor es zu kalt wird!«

So sehr sich Jos den ganzen Nachmittag auch bemühte, sich nur auf Eisen, Hammer und Amboss zu konzentrieren, er konnte es nicht verhindern, dass die Gedanken in seinem Schädel weiterkreisten. Wenn es noch einen Anstoß gebraucht hätte, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen, dann waren das die Worte des Meisters, der ihm befahl, die Finger davon zu lassen.

Wollte der Schmied ihn wirklich schützen oder ging es ihm mehr um seine eigene Haut? Welche Rolle spielte Meister Buchner in diesem schmutzigen Spiel? Jos würde es herausfinden!

Die Maske der Verräter

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