Читать книгу Weltenerbe / Weltenerbe. Von Gestern nach Heute - Umbrella Brothers - Страница 11
6 Erwachen
ОглавлениеDie Schale näherte sich einem kleinen Hafen. Der Kanal endete. Lo’on hatte erwartet, dass die Satelliteninseln wirkliche Inseln waren. Aber er erkannte sofort, dass es sich hier um gigantische Antriebskugeln handelte. Und die Inseln waren durch eine massive, rohrartige Konstruktion mit der Basis fest verbunden.
»Wenn man die Antriebe startet, dann könnten sie die ganze Basis anheben.«
We’en sagte: »Ja, nicht nur das. Wir alle könnten sehr weit damit fliegen.« Für einen Moment blickte er in den Himmel, als ob er etwas suchen würde. We’en schaute wieder zu Lo’on und lächelte ihn freundlich an.
»Warum habt Ihr mir das gezeigt, Meister?«
Das Lächeln wich einer ernsten Miene. Lo’on sah, dass die Stimmung des
Meisters sich änderte. Er war nun nicht mehr der freundliche alte Mann.
»Bestimmt ist dir aufgefallen, dass hier draußen nur sehr wenige Menschen arbeiten.«
»Ja, das habe ich bemerkt.«
»Wie viele Männer kennst du, die das Terminal verlassen?«
Lo’on dachte nach. Es gab ein paar, von denen er annahm, dass sie gelegentlich an die Oberfläche gingen. Aber die meisten verbrachten die Zeit in ihren Quartieren oder bei der Arbeit. Sie reparierten elektronische Module oder pflanzten Nahrung an. Lo’on unterhielt sich lieber mit den Technikern als mit den Bauern. Um die Nahrung konnten sich seiner Meinung nach andere kümmern. Ihn interessierte mehr die Technik.
»Ich kenne niemanden, der an der Oberfläche arbeitet.«
»Dafür gibt es einen Grund«, sagte der Meister.
»Und welchen? Ist die Sonne gefährlich?«
»Gut möglich, dass sie gefährlich ist, wenn man viel Zeit hier oben verbringt. Aber bei unserer kleinen Reise ist sie keine Gefahr.«
»Was ist es dann?«
Erst jetzt stieg der Meister aus der Schale. Der Schüler folgte ihm neugierig. Die Sitze verschwanden wieder im Boden. Immer noch wartete Lo’on auf die Antwort. Aber der Meister ging langsam vor ihm her, ohne etwas zu sagen.
Über einen sehr schmalen Steg konnte man vom Hafen aus zu dem Antrieb gehen. Es war eine Art Brücke.
Eine simple Reling bot Halt und als sie weitergingen, konnte Lo’on unter seinen Füßen ein gewaltiges Verbindungsrohr sehen. Es maß mindestens ein halbes Stadion, dachte er. An den Seiten rauschte das Wasser und schlug hart gegen die Konstruktion. Der Schüler schloss seinen Griff um die Reling. Seine Füße tasteten vorsichtig vorwärts. Der Meister taumelte weit mehr als sein Schüler. Wackelig ging er vor Lo’on her und wurde dabei langsamer wenn er nach unten sah.
Immer größer wurde der Antrieb. Er baute sich vor ihnen auf wie eine Wand. Lo’on kannte solche Apparate aus der Reparaturstation. Aber die, die er gesehen hatte, waren niemals größer als er selbst. Die meisten waren kaum größer als seine Hand. Der Antrieb war kugelförmig und so hoch wie das Terminal. So etwas hatte er noch nie gesehen und er fragte sich, wie solche Apparate repariert oder gewartet wurden.
»Es muss unglaublich viel Energie verbrauchen!«
Der Meister blieb bei diesen Worten stehen und drehte sich zu seinem Schüler um. Er schmunzelte, als er sah wie auch Lo’on sich an der Reling festhalten musste. Er war wohl nicht der einzige mit Höhenangst.
»Ja, die Energie ist ein gewaltiges Problem. Gewaltiger, als du dir vorstellen kannst.«
»Wie meint Ihr das, Meister?«
»Ich werde weiter vorne anfangen.«
Die beiden hatten die Brücke überquert. Rund um die Antriebskugel verlief eine einfache Plattform. Sie war breiter als die Brücke. Auch hier gab es einen Handlauf gegen das Herunterfallen. Der Wind wehte hart und das Rauschen der Wellen dröhnte in seinen Ohren. Lo’on sehnte sich zurück zum Terminal. Dort war es zwar auch hoch, aber man konnte nicht herunterfallen. Das wilde Wasser unter ihnen bildete weiße Schaumkronen und er bemerkte, dass der Geruch anders war als in der sterilen Basis. Es roch salzig.
Der Meister ging immer weiter. Er schritt um den halben Antrieb herum und blieb erst dort stehen. An der gigantischen Kugel war eine Tür zu sehen. Man musste einen Riegel drehen, um sie zu öffnen. Sicherlich war es eine Serviceklappe.
Der Meister verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und blickte in die Ferne. Lo’on schaute ebenfalls in diese Richtung, hielt sich aber am Handlauf fest. Am Horizont konnte er die Spitze eines Berges sehen. Ihm erschien es merkwürdig unaufgeräumt. Die monotone Umgebung der Basis mit ihren klaren Formen hatte bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dieser zackige Berg störte ihn.
»Was ist das dort?«
»Das ist etwas, was dir dein Lehrer nicht beibringen wird. Es ist ein Teil dieses Planeten.«
Seine Hände klammerte Lo’on krampfhaft an den Handlauf. Langsam drehte er den Oberkörper, um We’en ins Gesicht zu sehen. Der Meister lächelte mitfühlend.
»Vielleicht kommst du selber darauf, warum man diese Informationen nicht im Lehrer findet.«
»Weil man diese Informationen wahrscheinlich nicht benötigt.«
We’en lachte laut auf und sein Schüler erschrak.
»Weißt du was? Das stimmt sogar!«
Lo’on fragte: »Was ist dann so lustig?«
»Du hast vollkommen Recht. Es ist alles andere als lustig. Es ist so, dass es einige Personen gibt, die glauben, dass Menschen wie du diese Informationen nicht benötigen.«
Fast angewidert sah Lo’on zu den ungeordneten Bergen. Er brauchte diese Information wirklich nicht. Es gab viel wichtigere Sachen. Seine Arbeit, seine Forschung, seine Ideen und Visionen für eine bessere und einfachere Welt.
»Es ist eine unwichtige Information«, sagte er schließlich.
Der Meister nickte. »Vielleicht. Es hängt immer davon ab, was man tun möchte. Aber das Kritische an der Sache ist, dass du nicht allein entschieden hast, ob es wichtig ist oder nicht.«
»Doch, das habe ich. Es ist nicht wichtig.«
Der Meister schaute seinen Schüler an. Vielleicht musste man ihm mehr Zeit geben. Aber er war ein aufgeweckter Junge. Einer der begabtesten, die er jemals unterrichtet hatte, trotz des Lehrers.
»Jemand anderes hat die Entscheidung gefällt, nicht wahr?«
»Genau. Das ist der Punkt. Das ist Zensur. Die Lehrer berichten dir nur, was du für das Leben in der Basis benötigst. Sie stumpfen dich ab. Man lernt unglaublich viel. Mehr als du für die Arbeit wissen musst. Aber die Lehrer-Maschinen zwingen dich auch, nicht neugierig zu sein.«
Die Augen des Schülers tanzten hin und her. Er versuchte das Gehörte zu verarbeiten, aber es gelang ihm nicht. »Und wieso?«
»Weil man die Menschen so hervorragend unter Kontrolle halten kann. Die Produktivität wird dadurch gesteigert.«
Der Meister prüfte, wie sein Schüler die Sache aufnahm. Als er sah, wie Blut aus seiner Nase lief, war er nicht beunruhigt. Er nickte nur wissend.
»Du bist jetzt frei für neue Eindrücke. Für Dinge, die dir bislang verwehrt waren.«
Lo’on taumelte, wie zuvor auf der schmalen Brücke. Um ihn herum drehte sich alles. Alles erschien ihm auf einmal so weit weg und undeutlich. Er erinnerte sich an Ereignisse, an Sätze, an Vieles, was verschollen war. Erinnerungsfragmente kamen nach oben und breiteten sich in seinem Kopf aus. Ein Satz aus der Vergangenheit. Jemand erzählte ihm, dass er in die Berge gehen wollte. Ein anderer hatte große schwarze Menschen gesehen, die dort lebten.
Das war gelöscht worden! Jemand veränderte sein Gehirn. Er spürte, wie er von seinem Meister gestützt wurde.
We’en legte seinen Schüler sanft auf den Boden. Das Bluten hatte aufgehört. Schon seltsam, welche Macht ein einfacher Berg haben konnte. Schließlich schloss Lo’on die Augen. Auch das beunruhigte seinen Meister nicht. In ein paar Minuten würde er wieder aufwachen und zwar nur, um gleich danach wieder einzuschlafen. Wie oft hatte er das nun schon gesehen? Fünfzig Mal? Einhundert Mal? Je älter er wurde, desto schwieriger wurde es für ihn mit anzusehen, wie sie leiden mussten. Mit einem Tuch tupfte er vorsichtig das Blut von Lo’ons Mund und Nase.
Die Berge hier hatte er in den letzten Jahren schon oft gesehen und anfangs war er der gleichen Meinung gewesen wie sein Schüler. Sie wirkten unaufgeräumt.
Aber mit der Zeit fand er Gefallen an ihnen. Jedes Mal konnte man neue Dinge entdecken. Er verspürte sogar den Drang, sie einmal zu berühren. Aber er fürchtete sich vor den Einheimischen. Das war ein unglaublicher Widerspruch, denn seine geheime Aufgabe war es unter anderem, diese Einheimischen zu beschützen. Vor sehr langer Zeit kam ein junger Mann auf ihn zu und bat ihn um ein Gespräch. Damit hatte alles angefangen. Der freie Wille, darum ging es. Er sagte, er gehöre einer Organisation an, die die Vorgehensweise des Planetensenats nicht gutheißen könne. Das war noch auf dem Heimatplaneten. Mittlerweile war We’en der Leiter der »Wahrheit«. Die Arbeit des Großen Senats auf diesem Schiff wurde in Frage gestellt und als sie auf diesem Planeten landeten, kam eine weitere Aufgabe hinzu. Die Einheimischen wurden ihres freien Willens beraubt.
Die Aufgabe eines Meisters war es, diejenigen herauszufiltern, bei denen die Konditionierung nicht anhalten würde. Diese Menschen wurden dann von Meistern betreut. Jahrelang dachte er, er würde nur seine Aufgabe erfüllen. Erst als dieser Fremde kam und von der »Wahrheit« erzählte, wurde ihm bewusst, dass sein gesamtes Volk versklavt war. Und We’en, der sogenannte Meister, ebenfalls. Nur auf eine andere Weise. Ein junger Mann musste kommen, um es ihm zu zeigen. Damals lief ihm kein Blut aus der Nase, aber weiche Knie hatte er dennoch. Er befreite Kinder und war selbst ein Gefangener seines Volkes. Das war kein guter Moment gewesen. Damals waren es nur fünf Männer gewesen. Aber die »Wahrheit« wuchs schnell und auf diesem Schiff sogar sehr schnell.
Mit dem Wissen um die Sklaverei blühte der Meister richtig auf. Er war erpicht darauf, möglichst vielen Kindern den Geist zu öffnen. Und jedes Mal vergaß er, wie schmerzhaft es für die Jungen war.
Ein Stöhnen kündigte an, dass Lo’on wieder aufwachte.
»Was war das?«
»Es ist immer ziemlich anstrengend, wenn man die Wahrheit erfährt. In deinem Kopf ist jetzt einiges durcheinander. Das wird sich mit der Zeit formen. Du bist jetzt Einer von Wenigen, die freie Gedanken haben.«
Der Junge schaffte es nicht sich aufzurichten. Er lag auf dem Rücken und zog die Beine etwas an. Seine Hände lagen neben seinem Körper und er schaute in den Himmel.
»Was ist, wenn ich das gar nicht will?«
Der sonst so ruhige Meister zuckte zusammen. So etwas hatte er noch nie gehört. »Wie meinst du das?«
»Ganz einfach, es tut sehr weh, wenn man einen freien Geist hat. Vorher ging es mir besser.«
Jetzt lächelte der Meister wieder ein wenig. »Ja, das ist wohl wahr. Du bist schon etwas Besonderes, mein Junge.« In der Art, in der er »mein Junge« sagte, klang etwas Besitzergreifendes mit.
»Ich möchte aufstehen.«
»Das halte ich für keine gute Idee.«
Alle wollten immer sofort wieder aufstehen. Alle machten den gleichen Fehler. Jetzt, da sie einen vollständig freien Willen hatten, wollten sie sofort davon Gebrauch machen. Die Ratschläge eines alten Mannes waren ihnen egal.
»Ich will aufstehen!«
Man kann sie niemals davon abhalten. Die Entwickler dieser Idee von bedingter Kontrolle wollten für die Menschen nur das Beste. Auch We’en musste in jungen Jahren erst davon überzeugt werden, dass die Überwachung seines Geistes ihn daran hinderte eine eigene Meinung zu haben. Aber bei Lo’on war es anders. Er hatte schon vorher eigene Gedanken zu den Lehrer-Maschinen gehabt. Vielleicht war bei seiner Konditionierung etwas falsch gelaufen. Oder sein Geist war einfach nur ungewöhnlich stark.
Der Schüler streckte seinem Lehrer die Hand entgegen. »Helfen Sie mir hoch, Meister.«
We’en seufzte. Er ergriff die Hand und zog den Jungen hoch. Lo’on ließ sich einen Moment stützen und klammerte sich dann an den Handlauf. »Das gefällt mir nicht, ich fühle mich schwach. Vor meinen Augen verschwimmt alles.«
»Ja, der Prozess ist nie einfach und er ist sehr anstrengend. Auf deinen Geist drängen nun Millionen von Informationen ein, von denen der Lehrer nicht wollte, dass du sie speicherst. Sie sind natürlich vorhanden, nur blockiert. In einer Art Zwischenspeicher abgelegt, der nun von deinen Gedanken angesprochen werden kann. Alle Eindrücke, die du nicht verarbeiten durftest, kommen nun simultan auf dich zu. Weißt du, wie anstrengend zwei Einheiten im Lehrer waren? Nun hast du für jeden Tag deines Lebens eine Lehrerstunde. In deinem Gehirn formen sich neue Synapsen.«
We’en wunderte sich, dass der Junge immer noch stand.
»Ich habe Männer getroffen, die mir von Frauen berichteten. Was sind
Frauen?«
»Etwas, das es auf diesem Planeten gibt.«
»Wozu?«
Warum die Frage nach den Frauen? Es gab so viele andere Themen.
»Die Babys kamen in unserer Heimat auch nicht immer aus Maschinen, die mit Biomasse arbeiten. Es ist ein natürlicher Prozess der Fortpflanzung. Männer und Frauen zeugen die Kinder hier. Ich habe es noch nie gesehen, aber es gibt tatsächlich einige unseres Volkes, die es probieren. Das ist natürlich verboten.«
Die Gedanken des Schülers konnten sich nicht an eine Sache klammern. Alle möglichen Fragen hämmerten auf seinen Kopf ein.
»Wieso habe ich keine Haare auf meinem Kopf, Sie aber schon?«
We’en blieb ruhig und beantwortete alles, obwohl er wusste wie nebensächlich das war.
»Das wird vom Lehrer gesteuert. Auch die Tatsache, dass es dir jetzt erst auffällt ist ein Beweis dafür, dass die Konditionierung erfolgreich war. Vielleicht wirst du es nicht glauben, aber von nun an wachsen dir Haare.
Es ist ein sehr gutes Erkennungsmerkmal. Wenn dir nun jemand mit Haaren begegnet, kannst du sicher sein, dass er einen freien Willen hat.«
Lo’on beugte sich über den Handlauf und übergab sich. Der Meister stützte ihn liebevoll. Jeder Junge, den er hierher brachte, war ein Teil von ihm. Er fühlte sich genauso unwohl wie sein Schüler. Dieser hier war anders. Er konnte immer noch stehen. So, als ob er schon vorher an einen freien Willen gewöhnt war.
Dann fiel Lo’on in sich zusammen und schlug mit dem Kopf hart auf. Die helfende Hand seines Meisters kam zu spät. Der Junge hatte eine kleine Platzwunde an der Schläfe. Nichts wirklich Bedrohliches, dennoch war der Meister besorgt. Erneut nahm er ein Tuch und reinigte damit die Wunde. Es war nur ein Kratzer, das Blut gerann schnell. Plötzlich bemerkte der Meister, dass sein Schüler nicht mehr atmete. Ein kleines Gerät im Umhang des Meisters, sollte in solchen Fällen helfen. We’en vergaß ebenfalls zu atmen. Er war so aufgeregt, dass er den Eingang zu seiner Tasche nicht finden konnte. Nervös fingerte er herum. Schließlich hielt er mit einer Hand den Umhang stramm und rutschte mit der andern in die Tasche. Erst als seine Finger den kleinen Stift fest umklammerten, wagte er wieder zu atmen. Er nahm eine Kappe ab und drückte das Gerät auf Lo’ons Brust. Der Körper zuckte. We’en wartete einen Moment. Ungeduldig zählte er die Sekunden, dann wiederholte er es. Beim nächsten Zucken riss Lo’on seine Augen auf und atmete tief ein. Das Atmen wurde sofort zu einem starken Husten.
We’en kniete sich hin. Er hatte noch nie einen Schüler verloren, aber andere Meister hatten ihm davon berichtet. Die Angst war sein ständiger Begleiter, wenn er zu den Satelliteninseln ging.
Als das Husten nachließ, sagte der Schüler: »Ich möchte nach Hause. Sofort.«
»Ja, wir werden jetzt fahren. Wir müssen zur Verteilungsstation. Dort wirst du deine neue Aufgabe bekommen.«