Читать книгу Heißes Blut - Un-su Kim - Страница 10

MOJAWON

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Sie hatten Ami im Morgengrauen entlassen. Schon in der Nacht waren einige Hotelangestellte und eine Gruppe von Gangstern aus Guam in einem Van zum Gefängnis gefahren. Huisu konnte sich die Szene bestens vorstellen, ohne dabei gewesen zu sein, das laute Hupen und Johlen der Anhänger, die sicher etliche Flaschen gegen die Wand des Gefängnisgebäudes geschleudert hatten. Er selbst war seit Jahren nicht mehr zu einer Entlassung gegangen, nicht einmal zu der von Vater Son. Er hasste dieses Spektakel.

In Busan wurden die Leute immer im Morgengrauen entlassen. Manche kamen sogar schon kurz nach Mitternacht raus. Sobald die Strafe verbüßt war, wollten sie nicht eine Stunde länger eingesperrt sein. Deshalb warteten die Gangster von Busan meistens schon die ganze Nacht vor dem Gefängnistor darauf, ihre Kumpel in Empfang zu nehmen. In der feuchten Luft der Dämmerung rauchten sie, um die Zeit totzuschlagen, eine Zigarette nach der anderen, mit müden Gesichtern und Alkoholfahne. Endlich kam mal wieder jemand aus dem Knast. Entsprechend seiner Position in der Clan-Hierarchie musste dessen Schicksal würdig gefeiert werden! Aber wie, wenn man pleite war und gerade im Begriff, ein lukratives Geschäft, eine Bar, einen Karaoke-Laden oder einen Massagesalon zu verlieren und seine Jungs sowieso kaum noch versorgen konnte? Jetzt also wieder einer mehr? Den Gürtel noch enger schnallen? Mann, warum wurde der Kerl eigentlich so schnell wieder entlassen? Sollte er doch im Knast vermodern! Alle waren genervt. Aber die Zeiger der Gefängnisuhr krochen unaufhaltsam voran, und irgendwann öffnete sich die Tür. Da stand er nun: einer, der tapfer seine Strafe verbüßt hatte. Schon jubelten die Gangster, umarmten ihn, zerschlugen Schnapsflaschen, hupten und demonstrierten ihre ganze Zuneigung. Natürlich war diese Freude, die niemanden einen Cent kostete, eine himmelschreiende, von den Älteren schlau inszenierte Komödie. Und die jungen, endlich wieder auf freien Fuß gesetzten Gangster ließen sich oft genug täuschen. Manche weinten vor Rührung. Und vergaßen darüber, warum sie eigentlich monatelang im Gefängnis gehockt hatten: einfach nur deshalb, weil sie den Kürzeren gezogen hatten. Huisu fand das alles grotesk. Denn gerade diejenigen, die sich zu Tränen rühren ließen oder stolz die Lobhudeleien über ihren Schneid oder ihre Brüderlichkeit in sich aufsogen, liefen Gefahr, beim nächsten Mal wieder den Kürzeren zu ziehen. Auch Huisu war in seiner Jugend, berauscht von dieser emotionalen Stimmung, vier Mal ins Gefängnis gegangen.

Inzwischen hasste er diese lächerlichen Inszenierungen vor dem Gefängnistor, den ganzen Krawall, den Zigarettenrauch, die Alkoholfahnen. Er verabscheute das lauwarme Stück Tofu, das die frisch Entlassenen in einer schwarzen Plastiktüte überreicht bekamen. Das alles erinnerte ihn nur an seine vier Aufenthalte im Knast, die kräftezehrend gewesen waren. Als wollte das schlechte Karma gar nicht mehr von ihm lassen, hatte ein perverser Gefängnisaufseher ihn die ganze Zeit drangsaliert, und Huisu hatte sich lange geschworen, dass er ihn umbringen werde, sobald er draußen wäre. Wieder in Freiheit, hatte er jedes Mal, wenn er an seine Haft dachte, Kopfschmerzen bekommen. Deshalb hatte er auf Rache verzichtet, eine für seinen Peiniger unerhört glückliche Fügung.

Für Ami allerdings hätte er sich fast doch wieder vor dieses beschissene Gefängnisportal gestellt. Dabei gab es – außer dem Bedürfnis, ihn wiederzusehen – eigentlich keinen Grund dafür. Aber Ami war ohne Vater aufgewachsen, und Huisu hatte seit seiner Geburt immer ein Auge auf ihn gehabt. Amis Mutter Insuk war wie er ein Kind aus Mojawon. Huisu war ihr gegenüber nie dieses schlechte Gewissen losgeworden, als hätte er nicht alles in seiner Macht Stehende getan, um sie vor ihrem traurigen Schicksal zu bewahren. Eine Schwäche, die Insuk durchaus für sich nutzte und ihn, wenn sie einen väterlichen Einfluss auf Ami brauchte, zu Hilfe rief. Bewirkten ihre Erpressungsversuche und verdeckten Drohungen nichts, machte sie ihm eine tränenreiche Szene. So kam es, dass er Ami regelmäßig am ersten Schultag nach den Ferien begleitete und auch an der Veranstaltung zum Schuljahresende teilnahm. Auch an dem Tag, an dem der Klassenlehrer der Mittelschule ein Gespräch mit Amis Vater verlangt hatte, war Huisu erschienen. Als Insuk ihn darum bat, hatte er sich zunächst heftig geweigert; alles, was auch nur im Entferntesten mit Schule zu tun hatte, war ihm ein Gräuel. Doch dann kam sie ins Hotel Mallijang und flehte ihn wimmernd und schluchzend so lange an, bis er sich bereit erklärte, Amis Lehrer zu treffen.

Ami hatte sich geprügelt. Was nicht weiter verwunderlich war, denn er liebte Schlägereien. Dieses Mal waren allerdings sieben Kinder im Krankenhaus gelandet, darunter zwei mit gebrochenem Unterkiefer, was hohe Kosten nach sich ziehen würde. Dass Ami Schüler der neunten Klasse angegriffen hatte, die zwei Jahre älter waren als er, wurde als widernatürlich und somit als ernstes Problem betrachtet, weil es dem guten Ruf der Schule schadete. Zudem fiel mit den betroffenen Jungen das gesamte Judoteam aus, das der Schule Jahr für Jahr Pokale und Ehre brachte und nun an den nationalen Wettbewerben nicht in gewohnter Form teilnehmen konnte. Mitglieder des Tischtennisteams würden einspringen müssen. Allerdings gab es da ein noch viel größeres Problem, im Vergleich zu dem alle anderen lächerlich erschienen: Einer der sieben jungen Judokas war Enkel des Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Schule – nicht dass man Ami unterstellt hätte, wissentlich zugeschlagen zu haben, denn dem Enkel stand sein Name ja nicht auf die Stirn geschrieben. Trotzdem sprach alles gegen Ami, es schien unmöglich, dass er sich da wieder rauswinden würde. Insuk hatte eilends ein Bündel Geld aufgetrieben und es Huisu in die Hand gedrückt, ihm gesagt, dass sie zur Not noch mehr beschaffen könne, und ihn angefleht, dafür zu sorgen, dass Ami die Mittelschule nicht verlassen müsse. Was erzählst du das mir, hatte Huisu gesagt. Getrieben von der Sorge und Traurigkeit in ihren großen Augen, hatte er sich am Ende doch mit dem in Zeitungspapier gewickelten Geldbündel in Begleitung von Ami auf den Weg zu der verfluchten Schule gemacht.

Der Lehrer, dünn wie ein Besenstiel und Träger einer Goldrandbrille, wirkte jünger als Huisu selbst. Trotzdem hatte er sich mehrmals vor ihm verbeugt und ihn um Entschuldigung gebeten. Worauf der Lehrer sofort in die Luft gegangen war: Aus diesem Jungen, schimpfte er, werde niemals, auch nicht nach hundert Wiedergeburten, ein richtiger Mensch. Sie könnten sich an dieser Schule noch so sehr bemühen, ihn zu erziehen, aus dem werde sowieso nur ein Gangster, und deshalb sei es besser, ihn auf den Bau zu schicken, damit er dort etwas Ordentliches lernen könne, anstatt auf der Mittelschule herumzuhängen, wo er nur Chaos anrichte. Der Lehrer steigerte sich immer mehr hinein: Dieses Kind erkenne keinerlei Autoritäten an, weder ältere Mitschüler noch Lehrer oder Erwachsene im Allgemeinen. Konfuzius habe solche Leute als »Hunde-Menschen« bezeichnet, deren Verhalten eher dem von Tieren ähnele, und mit Ethik – was ja sein eigenes Unterrichtsfach sei – könne man nur bei Menschen etwas ausrichten. Bei ihm sei das sinnlos, da könne man gleich darauf verzichten, so etwas einem Tier nahebringen zu wollen. Als Lehrer dieses Fachs habe er deshalb große Zweifel am Nutzen seiner Bemühungen. Die ganze Zeit hatte Ami zerknirscht dabeigesessen. Es war das erste und letzte Mal in seinem Leben, dass Huisu ihn so niedergeschlagen sah. Jedes Mal, wenn die Faust des Lehrers auf den Tisch niederging, hatte Huisu den Kopf gebeugt und wiederholt, wie leid es ihm tue. Er werde Ami klarmachen, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe, sonst werde er ihm gewiss ein Bein brechen. Worauf der Lehrer süffisant lachte: »Und Sie glauben, das funktioniert bei dem? Wenn man Hunden und Schweinen mit dem Stock droht, gehorchen sie, aber der doch nicht! Die Leute sagen ja nicht ohne Grund: ›dümmer als jedes Tier‹. Damit sind Menschen von seiner Sorte gemeint. Einen Raben, ein Huhn oder einen Marienkäfer zu unterrichten wäre erfolgversprechender, ja, sogar einen Regenwurm!« Er war nicht mehr zu bremsen. Dieser Lehrer konnte einfach nicht sein dummes Maul halten. Als Nächstes verkündete er, dass die Haltung des Verwaltungsratsvorsitzenden eindeutig sei und dass die Lehrerversammlung Amis Schulverweis beschlossen habe. Eine ganze Stunde lang hatte Huisu die Haltung bewahrt, gekatzbuckelt und unermüdlich wiederholt, dass es ihm sehr leidtue. Doch als der Lehrer schließlich hinzufügte: »Alle vaterlosen Kinder enden so«, platzte ihm der Kragen: Ob der Lehrer ihm mal erklären könne, warum er, wo er doch anscheinend wisse, dass Ami vaterlos sei, darauf bestanden habe, diesen nichtexistenten Vater antreten zu lassen? Als Huisu nun seinerseits mit der Faust auf den Tisch schlug, riss der Lehrer zitternd vor Wut die Schlitzaugen auf und starrte ihn finster an. Dann begann er, noch lauter zu schreien als Huisu, damit die anderen Lehrer im Raum ihn auch ja alle hörten.

»Haben Sie vergessen, wo Sie hier sind? Was fällt Ihnen ein, hier so rumzuschreien!«

»Wie war das noch mal? Aus Ami wird nie ein Mensch werden, nicht mal nach hundert Wiedergeburten? Glauben Sie, dass ein Lehrer so über einen Jungen sprechen sollte, der noch kein einziges Haar am Arsch hat? In dem Alter gibt es immer mal Raufereien. Ist der verdammte Sohn des Verwaltungsratsvorsitzenden schon mit einem polizeilichen Absperrband um den Pimmel auf die Welt gekommen? Ist er so unantastbar, dass einer, der ihm mal ein paar Backpfeifen verpasst, gleich fliegen muss?«, schrie Huisu zurück und fuchtelte dem Lehrer dabei mit den Händen vor der Nase herum.

Worauf der ihn am Kragen packte und brüllte: »Der verdammte Sohn des Verwaltungsratsvorsitzenden? Sie wagen es, diesen kleinen Prinzen mit Ihrem Hallodri zu vergleichen?« Und er schüttelte Huisu so wild, dass mehrere Knöpfe durch die Luft flogen und ihn seine Nägel, die so lang waren wie die einer Bardame, blutig kratzten. Da wurde Huisu von blinder Wut erfasst. Er stieß den Lehrer so heftig zu Boden, dass er bis zu den Wandschränken rollte.

Huisu bedauerte es, dass er sich nicht bis zum Schluss hatte beherrschen können. Allerdings war der Lehrer als Erster handgreiflich geworden. Huisu hatte sich nur aus dem Klammergriff dieses Irren befreit. Wie dem auch sei, an jenem Tag hatte Amis kurze Schullaufbahn geendet. Und Insuk hatte seitdem kein Wort mehr mit ihm geredet.

Etwa eine Woche nach dem Vorfall war Ami zu ihm ins Hotel Mallijang gekommen. Mit schleppendem Schritt hatte sich sein schwerer Körper durch die Bar auf Huisu zubewegt, der dort gerade Zeitung las. Und als er endlich vor ihm stand, hatte Ami sich gewunden wie ein Hundebaby, das kacken muss.

»Was ist? Noch eine Dummheit?«, fragte Huisu nach einer Weile.

Ami schüttelte den Kopf.

»Also?«

»Onkel …«

»Ich bin beschäftigt«, fiel ihm Huisu ins Wort.

»… darf ich dich ab heute Paps nennen?«

Fassungslos starrte Huisu ihn an. »Hast du heute nicht genug zu essen gekriegt, oder was? Wieso nervst du mich plötzlich mit so was? Wir beide haben nicht einen Tropfen vom selben Blut, was soll der Scheiß?«

»Du hast keinen Sohn, und ich habe keinen Vater, stimmt doch, oder?«

»Ja und?«

»Wenn du irgendwann einen Sohn haben willst, wie viel musst du dann ausgeben, allein fürs Essen, bis er so groß ist wie ich? Mit mir kriegst du einen umsonst. Ist das nicht der Deal des Jahrhunderts?«

»Glaubst du, um ein Kind großzuziehen, reicht es, das Essen zu bezahlen, du Esel? Da fällt dauernd irgendwas an, das ist irre teuer. Und mal ganz ehrlich, hältst du dich für ein normales Kind? Von dem Geld, das deine Mutter ausgeben musste, um alles auszubügeln, was du angestellt hast, hätte sie sich glatt ein Haus kaufen können.«

Ami hatte erst zur Decke geschaut und dann betreten auf seine Turnschuhe geblickt. Nun fing er an, mit einer Fußspitze Kreise auf den Boden zu malen. Seine Schuhe waren dreckig, ausgetreten und am dicken Zeh aufgerissen. Die Schnürsenkel hatten sich gelöst.

»He, du Vollpfosten, warum sind deine Schnürsenkel eigentlich immer auf? Zum Drauftreten? Mann, du hast echt ein lausiges Leben!«

»Ich mach die Schleife dauernd neu, aber die geht jedes Mal wieder auf«, sagte Ami kläglich.

Als Huisu die Zeitung faltete und aufstand, zuckte Ami aus Angst vor einer Kopfnuss zurück. Doch anders als erwartet, bückte sich Huisu und griff nach seinen eigenen Schnürsenkeln.

»Schau genau hin. Du schiebst den Finger in die Schleife, und dann ziehst du den Knoten fest zu, damit er nicht aufgeht. Immer schön festziehen!«

Ami starrte auf die Schleife, die Huisu gemacht hatte, und nickte. War es, weil sie so gut gelungen war? Er zögerte. »Ich verlange auch kein Taschengeld von dir«, sagte er schließlich. »Du wärst nur mein Vater. Einen Sohn haben, ohne was dafür zu bezahlen, das ist doch kein schlechter Deal, oder?«

Es hörte sich wirklich ziemlich gut an, zumal Huisu seit dem Schulverweis ein schlechtes Gewissen gegenüber Ami hatte.

»Okay, okay, und jetzt schieb ab! Ich muss arbeiten«, sagte er in einem Ton, der genervt klingen sollte.

Ami brachte seinen Oberkörper mit einer tiefen Verbeugung in die Waagerechte. Dann lief er hinaus, fröhlich wie ein Kind, das eine Handvoll Bonbons bekommen hat. Vor zehn Jahren war das gewesen, in einer Zeit, als es ihnen beiden noch deutlich besser ergangen war. Einer Zeit, in der es noch möglich war, sich für ein Leben in Würde zu entscheiden, ein Leben ganz ohne krumme Dinger. Theoretisch. In der Praxis war auch damals schon alles vorbestimmt. Wer mit einem derart verqueren Leben an den Start ging, sagte sich Huisu, landete unweigerlich in der Gosse, da war nichts zu machen. Jedenfalls war Ami an jenem Tag, auch wenn es zunächst mehr ein Witz gewesen war, sein Sohn geworden.

Insuk war siebzehn, als sie Ami zur Welt brachte. Damals arbeitete sie im Stadtteil Wanwol als Prostituierte. Es kam nicht gerade oft vor, dass eine Prostituierte schwanger wurde; und noch seltener, dass sie sich in den Kopf setzte, das Kind auszutragen. Doch das hatte Insuk mit ihren siebzehn Jahren getan und das Kind in dem Bordell, in einer kleinen Kammer, mit einer Hebamme an ihrer Seite zur Welt gebracht.

Insuk war wie Huisu in Mojawon aufgewachsen, einem Heim für Mütter und Kinder. Nach dem Koreakrieg hatten es Missionare in Guam für die vielen Kriegswitwen aufgebaut. Als Huisu klein war, gab es dort allerdings sehr viel mehr alte, kranke Prostituierte, die nicht wussten, wohin, als es Kriegswitwen gegeben hätte. Da nur Frauen und Kinder in dem Heim lebten, ließ sich dort nie ein Gangster blicken. Es gab ja auch nichts zu stehlen und niemanden, der reich genug war, um sich bescheißen zu lassen.

In jedem der sechs Gebäude gab es zehn Unterkünfte, die sich wie Klassenräume zu beiden Seiten eines langen Flurs aneinanderreihten. Insgesamt lebten also etwa sechzig Familien hier. Die Außenmauer, die aus roten Ziegeln von der amerikanischen Militärbasis bestand, war nicht gestrichen. Weil es keine Männer gab, waren die Gebäude in einem schlechten Zustand und die Schieferdächer stellenweise undicht. Die Unterkünfte bestanden jeweils aus einer Küche und einem kleinen Zimmer mit einem winzigen Fenster. Größe und Raumaufteilung waren immer dieselbe, ganz gleich, ob die Familie drei oder zehn Mitglieder hatte. Die Wände zwischen den Unterkünften waren so dünn, dass Huisu hören konnte, wenn der junge Nachbar auf der anderen Seite masturbierte.

Abgesehen von dieser Küche und diesem einen Zimmer, wurde alles gemeinschaftlich genutzt: Toiletten, Duschen, Waschraum, Brunnen und Ruheraum, in dem der einzige Fernseher stand. Auch die Dinge des täglichen Bedarfs wurden geteilt: Heizkessel, Kohlebriketts, Waschbretter, Wannen, Seife. Man war in allem so sehr ans Teilen gewöhnt: Sogar wenn sich eine alte Hure mal einen Mann gekrallt hatte, holte sie ihn nach Mojawon, damit er dort für alle so etwas wie ein Vater sein konnte. Es geschah selten, war aber das eine oder andere Mal tatsächlich vorgekommen. Im Unterschied zu den Zuhälter-Freunden, die sich den ganzen Tag saufend in den Hinterzimmern der Bordelle verschanzten, waren die Männer, die den Frauen bis an die Hänge von Mojawon folgten, in der Regel fleißig und nett. Der hinkende Mun und auch Cheon mit seiner Hakennase waren solche Männer. Mun war Zimmermann, Cheon trat als Zauberer in Karaoke-Bars und Nachtlokalen auf. Besonders der hinkende Mun war extrem fleißig. An Regentagen und immer dann, wenn er nicht auf irgendeiner Baustelle gebraucht wurde, humpelte er über das Gelände von Mojawon und reparierte hier eine Pumpe, dort ein wackeliges Geländer oder einen kaputten Tisch. Sooft die Frauen von Mojawon ihn auch ansprachen, nie war er unfreundlich. Für ein Glas makgeolli dichtete er das Dach ab, für zwei gedämpfte Süßkartoffeln reparierte er in der Küche den Abfluss. Bejimile, die mit ihm zusammenlebte, führte sich in dieser ganzen Zeit wie eine Königin auf. Morgens ging sie als Erste – natürlich an der Schlange vorbei – auf die Toilette, und das gleiche Recht nahm sie sich an Brunnen und Dusche heraus. Niemand wagte es, sich darüber zu beschweren.

Um den Kindern die Langeweile zu nehmen, gab Cheon, der Zauberer, hin und wieder eine Vorstellung, die er genauso sorgfältig vorbereitete wie für jedes Nachtlokal: Er stieg in sein Piratenkostüm, schminkte sich und setzte sich einen spitzen, langen Hut auf. Aus diesem Zauberhut kamen dann echte Tauben geflattert, und eine echte Geldmünze, die verschwunden war, tauchte unter dem Gesäß eines Kindes wieder auf. Höhepunkt der Show war der berühmte Trick, bei dem er ein Bonbon in seinem Auge verschwinden ließ und unter der schwarzen Klappe des anderen Auges wieder hervorzauberte, wobei aus dem einen Bonbon mehrere Dutzend wurden. Die Kinder waren begeistert. Sie sammelten die Bonbons ein und stopften sie in ihre Taschen und Münder. Cheons Magie mochte Illusion sein, die Bonbons waren real. Während sie in den Mündern zerschmolzen, linderte ihre Süße das Gefühl von Leere, das sich nach der wunderbaren Zaubervorstellung unweigerlich einstellte.

Doch für alte Huren kann Glück nicht von Dauer sein. Eines Tages stolperte Mun hoch oben auf einem Gerüst. Sie brachten ihn mit gebrochener Wirbelsäule nach Mojawon zurück. Er hatte so viel für die Menschen dort getan; das Gefühl der Machtlosigkeit war schrecklich, sich nun, da er im Sterben lag, nicht bei ihm revanchieren zu können. Eine Woche lang stöhnte Mun. An einem Montagmorgen starb er dann. Was Cheon betraf, so verschwand er einfach eines Tages aus Mojawon, ohne ein Wort zu sagen. Man fand ihn tot auf einem Markt mit mehreren Messerstichen im Bauch. Er hatte wohl Drogen verkauft oder versucht, Schmuggelware zu unterschlagen, und sich dabei erwischen lassen.

Insuk war dreizehn, als sie mit ihren sieben jüngeren Geschwistern nach Mojawon kam. Huisu hatte sich sofort in sie verliebt. Kurz nach ihrer Ankunft stand Insuk entsetzt vor den verwahrlosten Toiletten. Sofort marschierte sie los, füllte einen Eimer mit Wasser und machte sich entschlossen ans Putzen. Dann erst half sie allen Geschwisterkindern, ihr Geschäft zu verrichten. Noch nie hatte Huisu – außer im Fernsehen – ein so hübsches Mädchen gesehen, und er fasste es nicht, dass jemand wie sie sich in den schmutzigsten Toiletten südlich des Nakdong-Flusses zu einer derart niederen Tätigkeit herabließ.

Die Arbeit von Insuks Mutter bestand darin, Aalen die Haut abzuziehen. Aus heutiger Sicht mag es seltsam erscheinen, doch damals wurde das Fleisch weggeworfen und nur die Haut an Fabriken verkauft, die daraus Portemonnaies und Gürtel herstellten. Es war eine schlecht bezahlte Arbeit, die viele Frauen trotzdem übernahmen, weil sie das Aalfleisch anschließend selbst grillen oder an die vielen Buden am Strand verkaufen konnten. Weibliche Arbeitskräfte waren zu dieser Zeit unendlich billig, und die Mütter von Mojawon mussten Tag und Nacht schuften. Weil auch Insuks Mutter deshalb nie zu Hause war, musste sie sich mit ihren dreizehn Jahren um die Geschwister kümmern. Blieb nach dem Kochen und Wäschewaschen noch etwas Zeit, half sie der Mutter beim Zerlegen der Aale. Selbst mit abgezogener Haut lebten diese armen Tiere noch. Das zuckende, sich windende Fleisch, rot und blutverschmiert, war ein furchtbarer Anblick. Insuk packte sie mit nackten Händen und warf sie in den Eimer. Sie war erst dreizehn.

Auch Huisu war dreizehn. In der Hoffnung, einen Blick auf ihren Hintern zu erhaschen, hatte er mit dem Schraubenzieher Löcher in die Sperrholzwand des Frauenklos gebohrt. Manchmal kauerten er und seine Freunde auf der anderen Seite dieser stinkenden Wand und warteten auf Insuk. Es kam auch vor, dass er Geld aus dem Portemonnaie seiner Mutter klaute, um sich Zigaretten zu kaufen. Und manchmal streifte er auf dem internationalen Markt durch die Gassen und suchte nach japanischen Porno-Mangas; die kaufte er von dem Geld, das er sich beim Murmelspielen gegen Kinder aus anderen Vierteln verdiente. Als ihn eines Tages die Polizei nach Mojawon zurückbrachte, weil er im großen Supermarkt von Chungmudong eine Schachtel Pralinen gestohlen hatte, brach seine Mutter in Tränen aus und sagte, dass er wirklich der Sohn seines Vaters sei.

Während Huisu noch ein Kind war, kümmerte sich Insuk wie eine Erwachsene um ihre sieben Geschwister. Dieser Gegensatz war der Grund, warum sie ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Wenn sie im Hof von Mojawon mit ihrem Eimer voll Fischhaut an Huisu und seinen mit Murmeln spielenden Freunden vorbeikam, hatte sie nur einen verächtlichen Blick für sie übrig. Aber Verachtung war nicht der Hauptgrund für ihre Distanz zu den anderen Kindern. Insuk war schlicht und einfach zu beschäftigt, um mit ihnen zu spielen.

Heißes Blut

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