Читать книгу Heißes Blut - Un-su Kim - Страница 9

HOTELZIMMER

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Hotel Mallijang, Zimmer 249. Es lag am Ende eines Flurs, gleich gegenüber dem Notausgang, was Huisu ein Gefühl von Sicherheit gab, obwohl er noch nie hatte fliehen müssen. Seit er vor siebzehn Jahren aus Mojawon weggegangen war, hatte er kein richtiges Zuhause mehr gehabt. Zusammen mit anderen Gangstern hatte er – immer provisorisch – in diversen Absteigen gelebt, eine Weile bei einer Kellnerin und eine Zeit lang im Gefängnis. Ein Vagabundenleben an wechselnden Orten, die man ohne Bedauern mit einem Koffer in der Hand hinter sich lassen konnte. Oft wurde er gefragt, ob das Leben in einem Hotel nach all diesen unsteten Jahren nicht der Himmel auf Erden für ihn sei? War ein von einer faulen Ehefrau schlecht in Ordnung gehaltenes Zuhause, mit nicht mal einem sauberen Handtuch im Bad, nicht dreckiger als jede billige Absteige? Und war das Leben in einem Hotel, wo Putzen und Wäschewaschen entfiel, nicht ohnehin angenehmer? Wenn jemand so etwas sagte, lächelte Huisu nur. Sie hatten ja keine Ahnung vom Nomadenleben, so unstet und ohne jeden Halt.

Als Huisu die Zimmertür öffnete, schlug ihm eine Alkoholwolke entgegen. Bierdosen, Whiskyflaschen, Kekse und Stücke von aufgeschnittenem Obst lagen verstreut auf dem Tisch, Überreste der vorangegangenen Nacht mit Chef Gu. Der Aschenbecher quoll über. Huisu dachte an das Gejammer von Chef Gu, und plötzlich wurde ihm übel. Sein erster Gedanke war, Mau aus dem Foyer zum Saubermachen zu rufen, doch aus Faulheit ließ er die Idee gleich wieder fallen. Im Bad lag ein zusammengerollter Nylonstrumpf auf der Kommode, das Mädchen hatte ihn gestern wohl vergessen. Was für eine Nutte ließ einen Strumpf zurück? Huisu versuchte vergeblich, sich an sie zu erinnern. Wahrscheinlich eine von denen, die an der Hotelbar arbeiteten. Im Geist ging er alle Gesichter durch, doch ihres war wie ausgelöscht. Mit einem zynischen Lachen warf er den Strumpf in den Mülleimer. Sein übersäuerter Magen brannte. Er öffnete die Schublade, nahm ein Alkaselzer heraus, dazu was für den Magen. Daneben lagen Prozac und Xanax, von seinem Arzt verschrieben. Antidepressivum und Angstlöser.

Huisu litt seit Jahren unter Magenschmerzen. Die regelmäßigen Behandlungen im Krankenhaus hatten keine Besserung gebracht. Sein Arzt hatte ihm schließlich geraten, einen Psychiater aufzusuchen. Auf der Basis von klinischen Untersuchungen und einem eher rudimentären Fragebogen hatte dieser trocken seine Diagnose gestellt: »Sie haben eine Depression.« Huisus Magenschmerzen lagen also weder an den ungeregelten Mahlzeiten noch an seinem Alkohol- und Tabakkonsum, nein, sie waren dem Arzt zufolge Symptom eines psychischen Problems. »Aber ich fühle mich nicht depressiv«, hatte Huisu erwidert. »Sie leiden unter einer allgemeinen Antriebsschwäche, können sich für nichts begeistern, alles erscheint Ihnen langweilig und grau, habe ich recht? Nun, genau das ist eine Depression«, hatte ihm der Arzt erklärt. Huisu glaubte nicht daran. Wenn so etwas eine Depression war, litten so gut wie alle Gangster in seinem Umfeld an Depressionen. Sie hassten jede Form von Bewegung, hassten es zu schwitzen, waren für alles zu bequem. Trotzdem hatten Huisus Magenschmerzen nachgelassen, seit er die Medikamente nahm, und er schlief gut, während er früher erst nach langem Herumwälzen in den Schlaf gefunden hatte.

Er nahm eine Prozac- und eine Xanax-Tablette, legte sie sich auf die Zunge und trank einen Schluck Wasser. Im Badezimmerspiegel blickte ihm ein Vierzigjähriger entgegen, dem man die Jahre ansah.

Vierzig! Zu viel für einen Gangster, fand er. Doch er würde wohl mit einundvierzig und auch mit zweiundvierzig weiter seinen Weg gehen, was blieb ihm denn sonst übrig? Seit über zwanzig Jahren bewegte er sich nun schon in diesem Milieu und hatte es nicht einmal geschafft, sich eine elende Bleibe zu kaufen. Geschweige denn zu heiraten oder ein bisschen Geld auf die Seite zu legen. Das Einzige, was er hatte, war ein Haufen Schulden.

Doch selbst wenn es ihm gelang auszubrechen – wovon sollte er dann leben? Handwerklich war er absolut ungeschickt. Oder könnte er in seinem Alter noch einmal ganz neu starten?

Vierzig Jahre alt. Beruf: mittlerer Kader eines Vorort-Gangsterclans und Manager des Hotels Mallijang. Vorstrafenregister: vier Verurteilungen. Wohnsitz: Hotelzimmer. Gesundheitszustand: depressiv. Dies war Huisus aktuelles Profil.

»Wach auf, Huisu. Du bist vierzig. Nutz deine Chance, ehe du kaltgemacht wirst, und lass dieses Leben hinter dir.«

Huisu hatte mit dem Mann im Spiegel gesprochen, aber der starrte ihn nur trotzig an. Von Müdigkeit übermannt, ließ er sich aufs Bett fallen. Im Fernsehen, das die ganze Nacht über gelaufen war, pflanzte der Präsident gerade einen Baum. Huisus Kehle war wie ausgetrocknet, auch das lag am Schlafmangel. Er drückte seine Zigarette aus und blickte gedankenverloren auf den Bildschirm, wo das Präsidentenpaar gemeinsam diesen Baum pflanzte. Zwei weiße, gut genährte Hunde sprangen den beiden fröhlich um die Beine. In Mojawon, wo Huisu seine Kindheit verbracht hatte, wurden am fünften April, dem Tag des Baums, die Geburtstage aller Kinder gefeiert, ganz gleich, ob sie im Mai oder im Dezember geboren waren. Wenn die Beamten der Stadtverwaltung in den kahl geschlagenen Bergen ihre Bäume gepflanzt hatten, schenkten sie ihnen aus Mildtätigkeit ein kollektives Geburtstagsfest. Für etwa fünfzehn Kinder gab es dann einen Kuchen und sieben Kerzen. Warum ausgerechnet sieben, hatte er nie herausgefunden. Am Tag der Feier gab es im Wohlfahrtsheim Kinder unterschiedlichsten Alters, sie konnten fünf, aber auch schon elf Jahre alt sein. Vielleicht hatten die Beamten einen Altersdurchschnitt errechnet. Oder sie nahmen, ohne sich die Frage überhaupt zu stellen, einfach alle Kerzen, die der Bäcker dazugelegt hatte. Jedenfalls wurden die Kerzen angezündet, die Kinder sangen im Chor Happy Birthday to you, und dann zählten diejenigen, die keinen Vater hatten, bis drei und pusteten gemeinsam auf den kleinen Kuchen. Jetzt, an diesem nationalen Baumpflanztag, war die Erinnerung an all diese vergangenen Geburtstage plötzlich wieder da. Erinnerungen an seinen echten Geburtstag hatte Huisu nicht. Darum hatte sich nie jemand gekümmert. Nie hatte er einen Kuchen mit der seinem Alter entsprechenden Anzahl von Kerzen bekommen, und nie hatte ihm morgens jemand eine Algensuppe gebracht.

Den Blick auf das Präsidentenpaar, die weißen Hunde und die jungen Tannen gerichtet, die so klein und zart waren wie Weihnachtsbäume, schlief Huisu ein.

Um vier Uhr nachmittags wachte er auf. Das Telefon schrillte. Genervt ging er hin. Aus dem Hörer drang die Stimme von Mau, der so klang, als wäre etwas zutiefst Besorgniserregendes geschehen.

»Was für eine Katastrophe, Großer Bruder Huisu! Großer Bruder Danka ist gekommen, er wütet im Foyer, er ist fuchsteufelswild! Er will wissen, wo Großer Bruder Huisu ist, er brüllt, dass er Sie umbringt, wenn er Sie findet, und fuchtelt mit einem Sashimimesser herum! Er ist blutüberströmt, die Gäste sind vor Angst weggelaufen, hier herrscht ein einziges Chaos!«

Maus Worte summten wie Bienen in Huisus Ohren. Wut stieg in ihm hoch, aber er versuchte, sich zu beherrschen. Was er auch sagen würde, Mau würde es nicht verstehen.

»Hat er jemanden verletzt?«

»Nein.«

»Warum blutet er dann so?«

»Ich glaube, beim Rumfuchteln hat er sich selbst geschnitten. Also, er ist jetzt auch nicht wirklich blutüberströmt, aber ein bisschen geblutet hat er schon.«

Huisus Ärger wuchs weiter, doch er hatte sich noch im Griff. Sein Arzt hatte ihm geraten, dass er wegen des Bluthochdrucks und der Magenprobleme Stress und Wutausbrüche vermeiden solle. Jenseits der vierzig hänge die Lebensqualität eines Menschen davon ab, wie sorgsam er mit seinem Körper umgehe. Er hatte ihn eindringlich vor Wutausbrüchen gewarnt, denn gerade Wut schade der Gesundheit am meisten. »Behalten Sie das immer im Hinterkopf. Stress ist noch schädlicher als soju und Tabak. Bei jedem Wutanfall verengen sich Ihre Arterien, und Ihr Leben verkürzt sich um einen Tag. Verstehen Sie?« An die Ratschläge des alten Arztes denkend, atmete Huisu tief durch.

»Mau, hör auf, wegen etwas so Unwichtigem so ein Geschrei zu machen. Ich bin müde.«

»Entschuldigung, Großer Bruder.«

»Ich wasche mich jetzt. Sag Danka, er soll in einer halben Stunde hochkommen. Und bring mir einen Kaffee, aber schön stark.«

Er wollte auflegen, doch Mau plapperte weiter.

»Soll ich Ihnen nicht lieber eine Suppe bringen? Nach dem Saufgelage gestern muss Ihr Magen doch ganz ramponiert sein. Glauben Sie nicht, dass eine Suppe besser wäre als Kaffee? Byeongsus Mutter hat heute Morgen eine vorbeigebracht, die ist köstlich!«, ereiferte er sich.

»Nur einen Kaffee, das reicht.«

»Aber Sie müssen doch wahnsinnigen Hunger haben, wenn Sie keine Suppe wollen, bringe ich Ihnen ein Omelette, vielleicht mit ein bisschen Toast?«

Und mit einem Mal konnte Huisu nicht mehr anders, die ganze Wut, die sich in ihm angestaut hatte, brach mit voller Wucht heraus: »Fuck! Du Schwachkopf! Ich habe dir gesagt, ein Kaffee reicht! Warum lässt du mich das mehrmals wiederholen, verfluchte Scheiße!«, brüllte er in den Hörer.

»Entschuldigung, Großer Bruder. Ich bringe Ihnen den Kaffee sofort«, antwortete Mau, und seine Stimme klang, als sei alle Luft aus ihm gewichen.

Mau arbeitete im Foyer am Empfang. Er ging schon auf die siebenundzwanzig zu. Der Name »Mau« war ein Spitzname, den sich die Leute ausgedacht hatten, weil er so viel belangloses Zeug redete, dass einem ganz mau davon werden konnte. Abgesehen von dem endlosen Geschwafel, das ihm wahrscheinlich in den Genen lag, war Mau kein schlechter Kerl. Er war zuverlässig, freundlich, ehrlich und fleißig. Noch nie hatte er im Hotel versucht, Geld zu unterschlagen oder mit den Zuhältern von Wollong zu mauscheln, die immer versuchten, ihre Nutten in die Bar oder den Karaoke-Keller zu schleusen.

Als Huisu aus der Dusche kam, war Danka schon da, auf seinem Hemd ein paar Spritzer Blut. Ohne Huisu auch nur eine kurze Atempause zu gewähren, ging er gleich auf ihn los.

»Ganz ehrlich, Großer Bruder, du und ich, wir haben ein Problem. Einen Riesen, hast du gesagt, hundert Millionen, was sollen jetzt diese siebenundachtzig Millionen? Neunzig ist neunzig, hundert ist hundert, ein bisschen Logik muss sein. Was ist das für eine miese Rechnung, bei der am Ende siebenundachtzig rauskommt, hm? Was hast du mit den dreizehn Millionen gemacht, hm? Scheiße, erklär mir das!«

»Mensch, Danka, ging das nicht ein bisschen geräuschloser? Warum machst du jedes Mal, wenn du dich hier blicken lässt, so einen Aufstand?«

»Du würdest mich doch sonst gar nicht empfangen, gib’s zu. Bei jedem Problem verschwindest du einfach, weil’s dir anscheinend am Arsch vorbeigeht.«

»Was das Geld angeht, habe ich mich nicht selbst bedient, es war schon zu wenig, als ich’s bekommen habe. Husik hat nämlich auch noch die Bullen und die von der Stadtverwaltung geschmiert und Vater Kim eine Vermittlungsprovision gezahlt. Ich schwöre, wir haben für alles selbst nur einen Riesen bekommen«, sagte Huisu, während er sich mit dem Handtuch die Haare trocken rieb.

»Großer Bruder, weißt du, wie viel ein Busticket heutzutage kostet? Oder ein Teller jjajangmyeon?«

»Was soll der Scheiß?«

»Du kapierst es nicht, Mann. Von diesen siebenundachtzig Millionen muss ich dreißig Jungs zusammentrommeln und für diesen Job in die hintersten Berge der Provinz Chungcheong karren. Findest du das in Ordnung?«

»Was soll daran nicht in Ordnung sein? Wenn der Job erledigt ist, steckst du von den siebenundachtzig Millionen doch sowieso mindestens dreißig ein.«

»Dreißig Millionen? Das Geld wird nicht mal die Kosten decken, da muss ich eigenes Geld zuschießen. Und zwar nicht zu knapp.«

»Deckt nicht die Kosten? Zuschießen? Der Job dauert einen Tag! Mit ein bisschen gutem Willen kriegt man das ja wohl hin. Du bist doch eigentlich gut in solchen Dingen, unglaublich, dass du dich so anstellst!«

Danka nahm einen Zettel und einen Taschenrechner aus der Hosentasche und legte beides auf den Tisch. »Hab’s genau durchgerechnet. Hier, sag mir, ob du eine Möglichkeit siehst, auch nur irgendwo zehn won zu streichen.«

Huisi überflog das Blatt, auf dem alle Ausgaben gut überschaubar aufgelistet waren. »Fünf Millionen allein für die Vans? Für fünf Millionen bekommst du doch glatt einen neuen. Und warum fünf? Für dreißig Jungs? Hast du mir nicht gesagt, dass in einen zwölf Leute reinpassen? Drei Vans reichen, und da bleiben sogar noch sechs Plätze übrig.«

»Von wegen, zwölf Leute in einen Van … Wenn du da zwölf von diesen Orang-Utans reinstopfst, ist er brechend voll! Wie sollen die in drei reinpassen? Und die Ausrüstung muss ja auch noch mit. Oder sollen wir die Eisenstangen mit der Post schicken? Außerdem kriegen die Wagen gefälschte Kennzeichen, damit man nicht gleich sieht, dass wir aus Busan kommen. Da entstehen auch noch Kosten fürs Austauschen der Nummernschilder.«

»Und das hier, was soll das? Zehn Millionen nur fürs Essen! Was bist du für ein Arsch! Willst du ’ne Party schmeißen, nachdem ihr alles plattgemacht habt?«

»Die Jungs machen einen harten Job, da gehen wir anschließend in eine Go-go-Bar. Du glaubst doch nicht, dass die sich mit soju und ’nem Schweinefuß begnügen, so wie wir früher?«

»Und dann hier, die Arbeitskosten: neunhundertdreißig plus tausendzweihundert plus achthundert, geht’s nicht noch komplizierter?«

»Unsere Jungs kriegen dreihunderttausend pro Nase. Es sind einunddreißig, das macht neun Millionen dreihunderttausend. Für die mittleren Kader aus Ami-dong, die mit ihren Jungs kommen, muss man drei Millionen pro Nase rechnen, und für die aus Guam zwei Millionen.«

»Warum eigentlich dreihunderttausend? Bis vor Kurzem waren es noch zweihunderttausend.«

»Wer macht so einen Job heutzutage noch für zweihunderttausend? Da kann man ja gleich auf dem Bau schuften.«

»Und die Kerle aus Ami-dong haben tatsächlich drei Millionen verlangt?«

»Die sind nicht von hier, ja, da musst du mindestens drei Millionen einkalkulieren …«

»Was für Ärsche! Die hängen nur in den Vans rum und wollen drei Millionen haben? Verdammt, dann eben nicht!«

Huisu wischte wütend den Zettel vom Tisch. Sofort hob Danka ihn wieder auf und fing an, wie ein Wilder auf dem Taschenrechner herumzutippen. Schließlich hielt er Huisu das Ergebnis unter die Nase, genau hundertundeine Million.

»Hier, allein die Kosten machen genau hundertundeine Million aus. Da lässt sich kein Fitzelchen mehr rausrechnen. Ich müsste mindestens fünfzig Millionen mehr kriegen, aber okay, ich verlange nur dreißig Millionen von dir. Um uns wenigstens ein bisschen zu motivieren. Bei so einem Job sind nach allem, was ich gehört habe, normalerweise mindestens zwei Riesen fällig.«

»Ich schwöre, ich habe nur neunzig Millionen bekommen. Der Alte hat zehn Millionen verschwinden lassen.«

»Nimmt er sich bei solchen Geschäften sonst auch seinen Teil?«

»Er hat zehn Millionen abgezweigt, weil er seinen alten, müden Körper bis nach Chungcheong-do schaffen musste, um den Auftrag an Land zu ziehen. Du siehst doch selbst, dass ich keine Wahl hatte.«

»Der übertreibt, bei dem vielen Geld, das er hat.«

»Danka, das ist so lächerlich, dass ich es dir eigentlich gar nicht sagen wollte, aber für dieses Ding nehme ich selbst nur drei Millionen. Deshalb die Pauschale von siebenundachtzig Millionen, da sind meine drei Millionen abgezogen. Husik hat uns um diesen Scheiß gebeten, er hat keine Ruhe gegeben und gemeint, wenigstens diesen Gefallen könnten wir ihm ja wohl tun. Du siehst doch, dass ich auch nichts davon habe. Es tut mir leid für dich, aber dieses Mal ist es besser, wenn es so läuft. Außerdem ist dein Großer Bruder im Moment ein bisschen klamm.«

»Dann sollen wir das also dieses Mal hinnehmen, willst du das damit sagen? Und beim nächsten Mal geht das Ganze wieder von vorn los. Ich hab die Schnauze voll! Glaubst du, wir sind Volontäre von UNICEF? Unsere Jungs sind diejenigen, die hier schuften und die Prügel beziehen. Wenn was passiert, müssen sie dafür bezahlen und sonst niemand … Nein, vergiss es, nicht mit mir, ich steige aus.«

»Du alte Ratte, komm schon, ich überlass dir diesen Sommer auch einen Satz Sonnenschirme, versprochen.«

»Du meinst einen Zwölfer-Satz?«

»Einen Achter.«

»Wo? An der Hängebrücke?«

»Wo genau, das sehen wir dann. Aber für diesen Sommer bekommst du die Schirme – wenn du dich jetzt um diesen Job kümmerst. Wenn nicht, dann eben nicht, dann frage ich Kröte.«

»Kröte? Der kann doch gar nichts, außer in Zeitlupe zwinkern!«

Danka wirkte nachdenklich. Auch bei siebenundachtzig Millionen war jemand wie er durchaus in der Lage, einen Gewinn von zwanzig Millionen einzustreichen. Er musste rechnen. Im Sommer würden also die Sonnenschirme dazukommen … Die Sache wurde interessant. »Anstatt mir, wie du sagst, Schirme zu geben, lass mich lieber Brathähnchen machen. Die Schirme bedeuten viel Arbeit, und im Sommer werden Meeresfrüchte schnell schlecht. Wenn sich die Monsunzeit ein bisschen hinzieht, sind die Produktkosten und die Lohnkosten der Verkäuferinnen schwer in den Griff zu kriegen. Also, Hähnchen sind besser. Da muss man nur einen großen Kessel mieten, Öl reingießen und die Dinger braten.«

»Bei den Hähnchen ist schon alles vergeben.«

»Wie, alles vergeben? An den Stränden warten Millionen von Touristen darauf, Brathähnchen zu essen.«

»Wenn sich jeder mit Hähnchen den Bauch vollschlägt, wer soll dann noch Sashimi essen? Oder Meeresfrüchte? Die Typen von den Sashimi-Restaurants und den Verkaufsständen an der Mole haben so rumgemotzt, dass wir eine Hähnchenquote einführen mussten.«

»Scheiße, die Schirme sind Kacke.«

Danka nörgelte, also hatte er mit anderen Worten die siebenundachtzig Millionen akzeptiert.

»Nehmt aber keine Eisenstangen mit«, sagte Huisu. »Nehmt Stöcke.«

»Wie bitte? Denkst du, ein Stock ist weniger gefährlich, Großer Bruder? So läuft das vor Ort aber nicht, Eisenstangen sind sicherer. Ein Kerl, der sich mit einer Eisenstange vor dir aufbaut, ist ja wohl beeindruckender als einer mit ’nem Stück Holz in der Hand. Das beugt Ausschreitungen vor.«

»Verstehe. Deshalb habt ihr wohl letztes Mal zwei Leuten den Schädel eingeschlagen. Nach Übernahme der Krankenhausrechnungen und aller Schlichtungskosten waren wir blank, du Arsch! Wenn du mir noch so einen Unfall aufdrückst, regnet die Scheiße auch auf dich, kapiert?«

»Ich sorge dafür, dass alles gut läuft. Ich liefere gute Arbeit, verstehst du? Aber dafür kriege ich auch einen guten Platz für meine Schirme, okay?«

»Okay.«

»Und …«

»Was noch?«

»Meine anderen Geschäfte hast du nicht vergessen, oder?«

»Wovon redest du? Willst du immer noch anderen dein Zeug unterschieben? Wir haben mit den Leuten vom Zoll schon alles geklärt. Wenn du was durchschleusen willst, was bei denen auf der verschärften Kontrollliste steht, und wir werden erwischt, fliegt der ganze Container in die Luft.«

»Ich hab dir doch gesagt, so was ist es nicht.«

»Jaja … Also diesmal keine gefälschten Rolex aus China?«

»Nein, diesmal sind es Tigerknochen.«

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Dankas Gesicht.

»Tigerknochen? Wozu das?«

»In ganz Asien sind die Apotheken scharf drauf. Normalerweise müssen es ganze Tigerknochen sein, die bringen ein Vermögen. Aber das Risiko ist zu groß. Also musste ich die Tränen runterschlucken und alles zermahlen lassen. Das Pulver wurde in Kosmetiktiegel gefüllt, das Risiko, damit erwischt zu werden, ist gleich null. Außerdem scheinen sogar die Zollhunde Angst vor Tigern zu haben und machen einen Bogen um die Ware.«

»Na, super.«

»Du darfst mich nicht verachten, Großer Bruder. Ich bin nur ein Straßenhändler, aber du wirst sehen, irgendwann macht auch der kleine Danka ein fettes Geschäft und fährt Mercedes.«

Er holte seine Zigaretten aus der Hemdtasche. Der Deal schien zu stehen. Auch Huisu griff zu seiner Zigarettenschachtel: Sie war leer. Wie selbstverständlich nahm er sich eine aus Dankas Packung; der sah ihn verdutzt an.

Sie kannten sich schon lange. Seit Mojawon war Danka immer an Huisus Seite gewesen. Er war so schlau, dass er es fertiggebracht hätte, mitten in der Sahara Heizdecken zu verkaufen, die mit Sand gefüllt waren. Er lernte schnell und konnte das Gelernte im selben Tempo zu Geld machen. Doch das große Los hatte er bei aller Beharrlichkeit noch nicht gezogen. Er war das tragische Musterbeispiel eines Mannes, der nie ans Ziel kam, obwohl es zum Greifen nah schien.

Huisu öffnete das Fenster und zündete seine Zigarette an. Die Luft, die ins Zimmer strömte, war salzig und schwer. Es war Nachsaison und der Strand von Guam menschenleer. Im Sommer würde er von Urlaubern wimmeln, und man würde in Guam endlich wieder Geld verdienen. Dank der ums Zehnfache erhöhten Preise, die die Händler den Sommergästen dann abknöpften, konnten sie sich durchschlagen. Auch in den Hotels explodierten die Preise, und die Bars und Restaurants lieferten bei höchster Bezahlung ein Minimum an Service. Bisher hatte das immer funktioniert, weil die Gäste nur kurz blieben und es in der Hochsaison überall so war. In Guam arbeitete man im Sommer, um das restliche Jahr davon zu leben. Allerdings war die Saison immer schnell vorbei, und bis zur nächsten durchzuhalten war nicht leicht. Dann machten am Ende des Sommers die Billardsalons, Cafés und billigen Absteigen auf, jeder saugte jeden aus, und im Nu waren alle in Guam wieder arm.

»Weiß der alte Dalja eigentlich noch, wie man mit dem Messer umgeht?«, fragte Huisu plötzlich.

»Ich habe gehört, dass er aus Altersgründen nicht mehr arbeitet. Anscheinend hat sein Sohn die Geschäfte übernommen.«

»Der Sohn? Dieses hübsche Kerlchen? Aber der ist doch noch ein Kind!«

»Von wegen. Als es neulich in Oncheonjang diesen Streit um Anteile am Bananenverkauf gab, sind zwei mittlere Kader umgekommen. War wohl der Sohn von Dalja.«

»Wieso weiß ich davon nichts?«

»Wenn jeder x-Beliebige über solche vertraulichen Dinge informiert wird, wovon soll ich dann bitte schön leben?«

»Was heißt hier vertrauliche Dinge, Mann?! Und seit wann bin ich jeder x-Beliebige?«

»Wie kommst du überhaupt auf Dalja?«

»Yongkang, dieser Mistkerl, braucht eine kleine Lektion.«

»Warum?«

»Er hat klammheimlich die Fühler ausgestreckt und will jetzt bei uns Wurzeln schlagen.«

Das Gespräch drohte zu kippen; Danka spürte die Anspannung und wurde bleich. »Was für eine Lektion?«

»Ich dachte daran, ihm einen Fuß abzuschneiden.«

»Yongkang ist zäh, das weißt du.«

Danka holte tief Luft, dann fügte er hinzu: »Es ist nicht seine Art, sich wegen einem Fuß geschlagen zu geben. Und die Typen vom Freundeskreis der Vietnam-Veteranen, diese Bande von Kriegsversehrten, sind gefährlich. Ganz zu schweigen von den Kerlen vom Südostasien-Verein, das sind hartgesottene Burschen. Die lassen sich durch nichts einschüchtern. Mit unseren gutherzigen Jungs können wir keinen Krieg gegen Yongkang führen.«

»Keinen Krieg. Ihn nur zurückdrängen.«

»Ich will damit nur sagen, dass ein abgeschnittener Fuß bei Yongkang nicht reichen wird. Wenn du den wirklich loswerden willst, musst du ihn gleich ganz unter die Erde bringen. Sonst hast du nur Ärger. Soll ich Dalja also fragen, ob er noch arbeitet?«

»Nein. Der Alte hat sich noch nicht entschieden.«

»Na, dann gib Yongkang eben ein paar Schirme. Wir müssen was tun, sonst fliegt uns alles um die Ohren wie eine geplatzte Reisrolle. Dann ist dein Leben und auch meins für den Arsch.«

»Ein paar Schirme wären für mich kein Problem. Aber wird ihm das genügen?«

»Glaubst du, wir könnten die Typen vom Südostasien-Verein übernehmen, wenn wir Yongkang ausschalten?«

»Wird schon gehen.«

»Unsere Jungs werden sich aber nicht freuen, wenn wir sie mit denen zusammenstecken.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Huisu lakonisch.

Ist doch egal, wenn sie sich nicht freuen, dachte er. Um seine Interessen zu verteidigen, brauchte er Männer. Er war dringend auf diese Asiaten angewiesen. In Guam gab es nur Weichlinge. Alle Kerle, die einigermaßen korrekt waren, saßen im Gefängnis oder waren gegangen, um anderswo leichter ihren Unterhalt zu verdienen. Es gab keine Kleinkriminellen mehr, die bereit waren, gemeinsam in vergammelten Bruchbuden zu hausen und füreinander einzustehen. Nur noch kleine, berechnende Trickser, die es möglichst bequem haben wollten. Huisus Zigarette war zu Ende geraucht, und Danka, der auf dem Sofa in Zeitungen geblättert hatte, stand auf.

»Ach, übrigens, morgen kommt Ami aus dem Gefängnis. Wusstest du das?«

»Ja.«

»Die Jungs freuen sich so darauf, ihn abzuholen, dass der Strand jetzt schon wie leer gefegt ist. Verrückt, dass Ami immer noch so gefragt ist. Gehst du auch hin?«

»Und du?«

»Kann nicht, hab zu viel zu tun.«

»Ich werde wohl auch nicht hingehen.«

»Okay, na, dann bin ich mal weg und lass dich arbeiten.«

»Ich hoffe, du bist mir nicht allzu böse, dass ich dir dieses Mal nicht genug gebe.«

»Wenn ich du wäre, würde ich mein Versprechen halten, ich meine die Schirme …«

»Hey, Danka …«

»Was?«

»Lässt du mir deine Kippen da?«

»Scheiße, kannst du dir nicht selbst welche kaufen?«

Schimpfend nahm Danka seine Zigaretten aus der Hemdtasche, legte sie ihm hin und ging. Huisu zündete sich eine an, betrachtete das Meer, ließ seine Gedanken schweifen. Während er dem Rauch nachschaute, der im Meerwind davonwehte, flüsterte er: »Ami kommt zurück.«

Ami war 1989 im Gefängnis gelandet. Huisu zählte die Jahre an den Fingern ab: Es waren genau vier. Vor fünf Jahren hatte Ami dem Yeongdo-Clan nach einem Revierstreit den Krieg erklärt. Yeongdo war der Schoß, aus dem alle wichtigen Gangs von Busan hervorgegangen waren, um sich später in anderen Vierteln selbstständig zu machen. Ursprünglich von Flüchtlingen nach dem Koreakrieg gegründet, war Yeongdo eine sogar landesweit derart mächtige Organisation geworden, dass ganz Busan schon seit vier Jahrzehnten unter ihrem Joch lebte. Die ersten Mafiagenerationen der Stadt waren alle in den Flüchtlingsvierteln herangewachsen, die während des Krieges entstanden waren, Nambumin, Chojang, Wandwol, Gamcheon und eben die Insel Yeongdo. Unter all diesen Gangs war der Yeongdo-Clan immer der mächtigste gewesen. Schon sehr früh hatte er den großen Handelshafen beherrscht und seine Aktivitäten beträchtlich ausgeweitet, als man die Waren, die dort im Korea- und später während des Vietnamkriegs als Nachschub gehortet wurden, in Umlauf bringen konnte. Durch den Handelshafen hatte der Clan auch dauerhafte Beziehungen zur russischen Mafia und den japanischen Yakuza aufbauen können. Yeongdo war also eine breit aufgestellte Organisation, die in einer völlig anderen Liga spielte als der Clan von Guam.

Im Grunde waren die Handelshäfen das, was aus Busan eine Stadt der Gangster gemacht hatte. In den 1930er-Jahren hatte sie mit ihren gerade mal zweihunderttausend Einwohnern nur eine kleine Anlegestelle. Ein großer Hafen wäre unnötig gewesen, weil die ängstlichen Joseon-Könige bis dahin eine Politik der Abschottung praktiziert und jeden kulturellen und kommerziellen Austausch mit anderen Ländern abgeblockt hatten. Mit Ausbruch des Koreakriegs aber wurde für die enormen Lieferungen von Nachschub und Material ein großer Hafen gebraucht, und die plötzlich mit Waren überschüttete Bevölkerung von Busan begann so rasant zu wachsen, dass innerhalb von dreißig Jahren die Vier-Millionen-Marke erreicht war.

Zur Entstehung des modernen Busan hatten Menschen beigetragen, die nicht von dort stammten, sondern vor den Kommunisten aus der Manduschurei in Richtung Süden geflohen waren. Diese Menschen, die nicht mehr besaßen als ihr Leben, hatten nicht nur erstaunlich viel Energie, sondern – nach den Erfahrungen der Flucht – auch einiges an Wut in sich. Man konnte sie nicht zwingen, weiter zurückzuweichen, denn hinter ihnen war jetzt nur noch das Meer.

In Guam dagegen lebten Menschen, die in Busan geboren waren. Die Gangster von Guam waren äußerst stolz darauf, dass schon der Vater ihres Vaters hier das Licht der Welt erblickt hatte und an demselben Strand herumgestreunt war wie sie. Während die Gangster aus Dongnae, Haeundae und Oncheonjang ihre Heimat Fremden überlassen hatten, war es ihnen in Guam gelungen, dies zu verhindern. Was allerdings vor allem daran lag, dass es ein uninteressanter Stadtteil war, in dem es schlicht und einfach nichts zu holen gab …

Den Krieg gegen Ami hatte der für seine Brutalität bekannte Cheon Dalho geführt. Er stand an der Spitze des Dalho-Clans, eines der mächtigsten Zweige der von Doyen Nam geführten Yeongdo-Organisation. Ami war von den meist ängstlichen, duckmäuserischen Männern aus Guam der Erste, der sich einer so großen Organisation entgegenstemmte. Als er Vater Son gebeten hatte, ihn in diesem Krieg gegen den Dalho-Clan zu unterstützen, hatte der nur den Kopf geschüttelt. Nicht einen seiner Männer hatte er Ami geschickt und ihm keinen Cent gegeben, sondern im Gegenteil angekündigt, dass er die Verbindung zu ihm kappen werde, sollte er diesen Krieg wirklich anfangen. Doch Ami hörte nicht auf ihn. Mit sieben Kumpanen, alle mit nichts als Spielzeug-Baseballschlägern bewaffnet, hatte er sich Yeongdo tapfer in den Weg gestellt. Einer von ihnen starb. Zwei andere waren seitdem Invaliden. Die übrigen fünf retteten sich vor den Dalho-Männern in die Provinz oder ins Ausland. Vom Dalho-Clan und der Polizei verfolgt, musste auch Ami fliehen und sich fast ein Jahr lang verstecken. Irgendwann schalteten sich Vater Son und Doyen Nam als Vermittler ein. Die Einzelheiten des Agreements, das eher einer einseitigen Kapitulation als einem Waffenstillstand gleichkam, wurden also von Vater Son, Doyen Nam und Cheon Dalho festgelegt; Ami war nicht beteiligt. So wurde beschlossen, dass er Dalho seine gesamten Geschäfte übergeben und ihm sämtliche Krankenhauskosten sowie eine Entschädigung zahlen müsse. Es war eine verdammt hohe Summe, die das Leben eines Menschen verändern konnte, und Vater Son hatte sie aus eigener Tasche beglichen. Mit dem Erfolg, dass sich die Leute von da an das Maul über seinen krankhaften Geiz zerrissen. Da er ja anscheinend genug Geld hatte, um Cheon Dalho zu entschädigen, hätte er Ami auch von Anfang an helfen und ihn anständig ausrüsten können. Wie dumm, so viel Geld zu verlieren nach allem, was schon passiert war … Doch Vater Sons Meinung war unerschütterlich geblieben, denn für ihn kam es nicht infrage, gegen eine so mächtige Organisation wie Yeongdo auch nur eine Sekunde lang Krieg zu führen.

Als das Agreement mit Dalho beschlossene Sache war, brach Huisu auf, um Ami zurückzuholen. Er fand ihn irgendwo in weiter Ferne in den Bergen, auf einem Schweinehof versteckt, wo es sein Job war, dafür zu sorgen, dass sich die Schweine miteinander paarten. Er war ausgemergelt und verängstigt. Das Leben auf der Flucht, ohne Geld und ohne Bleibe, war sehr hart. Das wusste Huisu, er hatte es selbst schon drei Mal durchgemacht: ein endloser Kreislauf aus Einsamkeit, Sorge und Verzweiflung. Auf Huisus Rat hin ging Ami widerstandslos zur nächsten Polizeistation. Der Richter schickte ihn und seinen großen, starken Körper für vier Jahre hinter Gitter.

Heißes Blut

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