Читать книгу Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 15
ОглавлениеBjørn Tore Lønn zog seine Jacke fester um sich zusammen. Die Straße war einsam und verlassen. Die Markise über dem Fenster eines pakistanischen Gemüseladens bewegte sich leise. Er fuhr zusammen, als unter einer Straßenlaterne plötzlich zwei dunkelhäutige Männer auftauchten. Der eine blieb kurz stehen und rief dem anderen in einer fremden Sprache etwas zu. Dabei schlug er sich demonstrativ auf die Brust, wie um irgendein Argument zu unterstreichen.
Bjørn Tore Lønn schaute zum ersten Stock hinauf. Die Fenster waren dunkel. Der Arsch schlief wahrscheinlich. Konnte doch tatsächlich schlafen. Fühlte sich sicher, der Mistkerl.
Die beiden dunkelhäutigen Männer waren in einem Torweg auf der anderen Straßenseite verschwunden. Bjørn Tore Lønn öffnete die Haustür. Schwarze Graffiti grüßten ihn von den Wänden auf jeder Seite der Tür, eine trübe Lampe brannte hinter dem Türfenster. Für einen Moment sah er sein Gesicht in der metallenen Türklinke zu einem länglichen weißen Streifen verschwinden. Die Tür schwang hinter ihm zweimal hin und her.
Im Treppenhaus roch es nach Schimmel und altem Holz. Er blieb kurz stehen und horchte, dann ging er langsam die Steintreppe in den ersten Stock hinauf.
Roger Høibakk und Preben Ulriksen tauschten einen Blick, dann stiegen sie aus dem Wagen und stellten sich vor die abgenutzte Haustür, durch die Bjørn Tore Lønn eben verschwunden war. Roger Høibakk spürte, wie sein Herz loshämmerte. Es tat gut, den Puls zu beschleunigen. Im Moment konnten sie nur selten Cowboy und Indianer spielen. Er fand, dass Einsätze wie dieser den von Routine geprägten Alltag in der Wache belebten. Er verabscheute Büroarbeit, Protokolle und die vielen Besprechungen.
»Jetzt brennt Licht.« Preben Ulriksen, der zwei Schritte zurückgetreten war, nickte zu einem Fenster im ersten Stock hoch und bohrte seine Nase für einen Moment in das Teddyfutter seines Jackenkragens.
»Na also, dann wissen wir, wo er ist.« Roger Høibakk sah seinen Kollegen an. Dann warf er einen Blick über die Straße, auf die gegenüber gelegene Mietskaserne. »Warte hier«, sagte er und schob beide Hände in die Ärmel. Er lief über den löchrigen Asphalt und verschwand dann in dem dunklen Torweg.
Dahinter kam er in einen mit Kies bedeckten Hof. In einer Ecke waren unter einer durchsichtigen Plane Gartenmöbel aufgestapelt. Ein spitzer Zweig eines großen Busches bohrte sich in seinen Arm. Er entdeckte eine Tür und riss an der Klinke. Die Tür war offen und er sprang die Treppe hinauf. Im zweiten Stock blieb er auf dem Treppenabsatz stehen. In jedem Zwischengeschoss gab es ein Fenster. Er beugte sich vor und starrte hinaus. Und richtig, er hatte einen hervorragenden Blick auf die Wohnung gegenüber. Preben Ulriksen lief unten auf der Straße vor der Haustür nervös hin und her.
Roger Høibakk legte die Hände auf die breite, schmutzige Fensterbank und versuchte, sich ein Bild von den Geschehnissen in der gegenüberliegenden Wohnung zu machen. Das eine Fenster war halbwegs von einem dünnen grauen Vorhang verdeckt. Trotzdem konnte er für einen Moment zwei Männer sehen, die sich bewegten. Plötzlich sah er Bjørn Tore Lønn mit dem Rücken zum Fenster stehen. Er fuchtelte mit den Händen und gestikulierte heftig. Dann fuhr er herum und schaute aus dem Fenster, als fühle er sich beobachtet. Sein Gesicht war ausdruckslos, lediglich eine helle Fläche hinter dem Glas. Roger Høibakk wich sofort zurück, aber im Treppenhaus war so wenig Licht, dass Bjørn Tore Lønn ihn wohl kaum gesehen haben konnte. Hinter einer Tür bellte ein Hund los, der sich klein und wütend anhörte.
Der Polizist stellte sich wieder ans Fenster und sah zu, wie sich die Situation der beiden Männer in der Wohnung gegenüber entwickelte. Der kleine Hund kläffte weiterhin frenetisch. Und dieser Lärm störte das Bild, das Roger Høibakk sah. Plötzlich hörte er, dass ein Stockwerk weiter oben eine Tür geöffnet wurde. Zugleich wurden die Männer hinter dem Fenster gegenüber handgreiflich. Das war keine unschuldige Rauferei. Sie traten und schlugen sich und gingen plötzlich zu Boden.
Roger Høibakk rannte die Treppe hinunter, durch den Torweg und über die Straße zu seinem Kollegen. »Sie prügeln sich!«, rief er. »Ich glaube, es ist Johnny Svendsen. Ich bin fast sicher.«
Sie rannten die Stufen hinauf und blieben vor der Wohnungstür stehen. Dort wechselten sie einen Blick. Plötzlich war auf der anderen Seite ein ziemlicher Lärm zu hören, während wütende Stimmen lauter und leiser wurden. Was die beiden sagten, war jedoch nicht zu verstehen. Roger Høibakk klingelte. Energisch drückte er auf den Klingelknopf, doch der Lärm in der Wohnung dauerte unvermindert an.
Preben Ulriksen schüttelte den Kopf. Ihm war nicht nach einer Konfrontation mit den beiden Raufbolden zu Mute. Einer von beiden war immerhin ein kaltblütiger Mörder. »Sollen wir nicht Verstärkung holen?«, fragte er.
Roger Høibakk maß die Tür mit den Augen. Er gab keine Antwort, sondern trat nur ein paar Schritte zurück und nahm Anlauf. Mit der Schulter zuerst knallte er gegen die Tür. Das alte Holz gab nach. Es war leichter, als er erwartet hatte. Er wäre fast in die Diele dahinter gepurzelt. »Polizei!«, rief er.
Die beiden Männer verstummten sofort. Bjørn Tore Lønn ließ ein Messer fallen und blieb ratlos stehen, während der andere, der wirklich Johnny Svendsen war, in das Zimmer nebenan stürzte und die Tür hinter sich schloss. Preben Ulriksen lief hinterher, aber Johnny Svendsen hatte bereits den Schlüssel umgedreht. Sie konnten deutlich hören, wie er ein Fenster öffnete.
»Ich lauf nach unten!«, rief Roger Høibakk. »Pass du so lange auf den Bruder auf.«
Er brachte die Treppe mit drei großen Sprüngen hinter sich, stürzte durch die Tür und lief dann die Straße entlang, bis er einen Torweg fand.
Dort sah er sofort Johnny Svendsen. Ein mit Plastikplanen verkleidetes Gerüst war an der Hausfassade angebracht worden. Der Verdächtige kletterte rasch an den schmalen Brettern nach unten, die vor den einzelnen Etagen kleine Plattformen bildeten.
Roger Høibakk räusperte sich. »Wir haben Sie ja doch!«, rief er. »Ergeben Sie sich lieber gleich!«
Johnny Svendsen gab keine Antwort, er sprang nur eine Etage tiefer und wich zwei großen Eisenstangen aus, dann ließ er sich die letzten drei Meter auf den Boden fallen. Er drehte sich zweimal um sich selbst, kam aber sofort wieder auf die Beine und richtete eine Pistole auf den Polizisten.
Roger Høibakk konnte bei Johnny Svendsen keinerlei Anzeichen von Verzweiflung oder Resignation erkennen. Das Gesicht mit den dunklen Augenbrauen und den scharfen Augen starrte ihn wütend an, dann kam der Mann einen Schritt auf ihn zu, bereit, den unbewaffneten Beamten anzugreifen.
Roger Høibakk verfluchte die Bestimmung, dass die Polizei unbewaffnet sein musste. Er wich langsam zurück und starrte den schmalen Ausgang an. »Preben!«, rief er verzweifelt und trat mitten ins Tor, um Johnny Svendsen nicht vorbeizulassen.
Sein Gegner nutzte diesen Moment. Er entschied sich zum direkten Angriff. Schon stand er bei Høibakk, stieß ihn an und rief, er werde schießen, aus lauter Verzweiflung.
Der Polizist ließ die Arme sinken. Johnny Svendsen lief an ihm vorbei und zielte noch immer mit der Pistole auf ihn. Als er ihn passierte, streckte Roger Høibakk ein Bein aus und brachte den Mann damit ins Stolpern. Er ließ die Pistole fallen, als er sich mit beiden Händen abstützte.
Roger Høibakk stürzte auf ihn zu und schrie dabei den Namen seines Kollegen. Johnny Svendsen drehte sich zu ihm um und schmetterte ihm die Faust gegen die Nasenwurzel. Der Beamte empfand einen stechenden Schmerz. Gelbe Punkte tanzten vor seinen Augen, als er gegen die Mauer sank. Mit der Stirn stieß er gegen einen kleinen vorstehenden Stein, der zusammen mit anderen Steinen ein Muster bildete, eine Art Abschluss des Torwegs zur Straße hin. Heißes Blut schoss in seine Augen. Blind vor Wut fuhr er herum und stürzte sich auf Johnny Svendsen, der gerade die Pistole aufheben wollte. Roger Høibakk trat zu und traf ihn an der Hand. Er landete noch einen Tritt, der den Angreifer rückwärts gegen eine Reihe von Mülltonnen warf. Bei dem Höllenlärm wurden sofort mehrere Fenster weiter oben im Haus aufgerissen. Eine scharfe Frauenstimme forderte wütend Ruhe und teilte mit, der Aufenthalt im Hinterhof sei verboten. Ihre Stimme hallte an den Mauern wider und ließ viele leise neue Stimmen zwischen den Häusern hin und her wandern.
Johnny Svendsen war wieder auf die Beine gekommen. Er hatte die Pistole doch noch an sich reißen können. Seine Stimme klang verzweifelt: »Ich schieße!«, rief er und ging rückwärts durch den Torweg. Roger Høibakk glaubte ihm sofort.
Als er fast die Straße erreicht hatte, stand plötzlich Preben Ulriksen da. »Keine Bewegung!«, rief er. Johnny Svendsen fuhr herum. »Ich schieße«, sagte er noch einmal und richtete die Pistole auf sein neues Gegenüber. Seine Miene war nicht schwer zu deuten. Preben Ulriksen blieb nichts anderes übrig, als sich mit erhobenen Händen zurückzuziehen. Johnny Svendsen musterte ihn zwei Sekunden lang, dann warf er einen kalten Blick auf Roger Høibakk, machte kehrt und jagte über die Straße davon.