Читать книгу Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 9

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Johnny Svendse eß die Kippe auf den glatten Bürgersteig fallen. Mit raschen Schritten ging er durch die Theresesgate. Einer alten Frau fiel vor einem kleinen Gemüseladen eine Tüte mit Apfelsinen aus der Hand. Die Autos jagten vorbei und hinterließen Abgase und einen kalten Windhauch. Die Reifen rollten mit einem glitschigen Geräusch über den blanken Asphalt.

Johnny Svendsen war einsneunundsiebzig groß und hatte leichte O-Beine. Seine Haare waren mit Gel glatt gestrichen und er trug ausgelatschte Cowboystiefel. Die Hände tief in die Taschen gebohrt, bewegte er seinen Körper energisch hin und her. Es war kalt. Er zog seine dünne Lederjacke fester um sich zusammen, aber die Kälte kroch trotzdem durch seine Hosenbeine hoch.

Johnny Svendsen holte tief Luft. Plötzlich brach es wieder über ihn herein, dieses düstere Gefühl, dieses entsetzliche, alles zerfressende Gefühl, dass es vorbei war. Die ganze Sache war nicht gut für ihn. Er war nervlich am Ende. Sein Leben schien sich in einen dunklen Umhang gehüllt zu haben. Wie viel konnte ein Mensch ertragen?

Nach Hause konnte er nicht. Bjørn Tore hatte auf seinem Handy eine Nachricht hinterlassen. Die Bullen waren hinter ihm her. Nun wusste er nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Und Bjørn Tore war auch nicht gerade in einer guten Lage.

Aber der war kein Vater. Wenn Johnny verhaftet würde, könnte ihm der Kontakt zu dem Kleinen noch schwerer gemacht werden. Der Siebenjährige hatte große Ähnlichkeit mit ihm, war fast ein Abbild von ihm, damals, in diesem Alter. Die dunklen Haare, die grauen Augen, die Wangenknochen, die langen Arme.

Er bog in den Stenspark ab. Der Turm der Fagerborgkirche ragte wie ein kräftiger Speer in den Himmel. An einigen Stellen war es sehr glatt. Das Gras unter seinen Füßen war bedeckt von einer dünnen Eishaut, fast wie ein Leichentuch. Unbarmherzig waren die blutlosen und verwelkten Herbstblätter von Eis und Kälte bezwungen worden. Alles strahlte Leere aus, der Park, die Straßen, die hin und her sausenden Autos. Die Stille, die ihn erfüllte, war unerträglich. Er spürte, wie sein Magen sich vor Hunger zusammenkrampfte.

Er hatte erst kürzlich herausgefunden, wo Markus steckte. Er hätte sich ja denken könnten, dass der Junge unten auf Enger war, aber er hatte keinen Kontakt zu alten Freunden und Bekannten. Jetzt nicht mehr. Nicht einmal bei der Tante, bei der er aufgewachsen war, brachte er es seit einem Jahr noch fertig, sich zu melden. Aber jetzt wusste er, dass Markus auf dem Hof war. Das war immerhin etwas oder im Grunde sogar alles. Und er wusste endlich, wo Ester Synnøve jetzt wohnte. Er hatte über ein Jahr gebraucht, um das in Erfahrung zu bringen. Es hatte ihn viel Zeit und Kraft gekostet. Glaubte sie wirklich, einfach so von der Erdoberfläche verschwinden zu können? Dafür würde sie bezahlen. Sie war Schuld daran, dass sein Leben ruiniert war.

Ester hatte ihn gedemütigt. Die Wut, die er empfand, konnte er nicht beschreiben. Eigentlich war seine Exfrau verdammt verwöhnt, ja, das war sie. Alles sollte immer nach ihrem Kopf gehen. Was erwartete sie eigentlich? Dass er die ganze Zeit nach ihrer Pfeife tanzte? Dass er sich benahm, wie sie das nannte. Ja, verdammt, und wie er sich benehmen würde. Sie sollte nicht über ihn entscheiden.

Wenn er an Markus dachte, dann spürte er diesen wahnwitzigen Hass, der hinter seiner Stirn losschlagen wollte. Er wurde zum Tier. Er wusste nicht mehr, was er tat, vergaß, was er aß und wann. Schlief fast nie. Das Ganze ging ihm immer wieder durch den Kopf, wie ein böser Refrain, der kein Ende nehmen wollte. Wie sollte er sich rächen, wie sollte er ihr klarmachen, dass sie keine Wahl hatte, dass sie zu ihm zurückkommen musste? Er hatte nicht aufgegeben. Er würde niemals aufgeben. Nun zog er die Hände aus den Taschen und rieb sie aneinander, als wollte er dadurch die Kälte vertreiben.

Er hatte es fast immer schwer gehabt, aber die Zeit mit Ester war anders gewesen. Bei ihr war er zu Hause. War jemand. In ihrem Licht war seine Einsamkeit nicht so schlimm gewesen. Denn sie waren zusammen gewesen, zu zweit. Allein zu sein, das war unerträglich. Sie waren mit vierzehn zusammengekommen und zusammengeblieben, bis sie ihn vor zwei Jahren verlassen hatte. Er hatte geglaubt, dass sie eine gute Beziehung gehabt hätten. Das hatte er wirklich geglaubt. Natürlich wusste er, dass er manchmal ungerecht sein konnte, aber er hatte nicht gedacht, dass ihr das so viel ausmachte. Er meinte es doch nicht so ernst. Und sie war auch nicht immer pflegeleicht. Manchmal hatte er geglaubt, sie spiele sich für andere Männer auf. Er hatte keine handfesten Beweise gehabt, es war eher ein Gefühl gewesen. Er wusste es nicht, vielleicht hatte er übertrieben. Aber sie war so hübsch.

Der junge Mann biss die Zähne zusammen. Dieses Miststück hatte ihm so viel kaputtgemacht. Hatte ihn in die finstere Einsamkeit hinausgestoßen, ihm den Jungen weggenommen, ihn heimatlos und arm gemacht. Jetzt schmarotzte er bei einem entfernten Bekannten, lieh eine Wohnung von jemanden, der im Grunde nicht einmal ein Freund war.

Johnny Svendsen bog in die Stensgate ab. In der Luft hing ein kalter Wind. Zwei Frauen kamen an ihm vorbei, völlig in ihr Gespräch vertieft. Gesprächsfetzen trieben ihm entgegen. ... nichtnur das, aber weißt du, was er gesagt hat ...es ist einfach unglaublich.

Jetzt war Markus sein eigentliches Ziel. Er durfte nicht zur Arbeit gehen, da die Bullen ihn suchten. An sich hätte er an diesem Tag Frühschicht gehabt.

Er schob die Hand in die Tasche und fischte die Zigaretten hervor, steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Wegwerffeuerzeug an. Dann überquerte er die Straße und steuerte das Haus Nummer 21 an. Die Tür war natürlich abgeschlossen. Er musste Lises Namen auf dem Klingelbrett erst suchen. Er war schon oft hier gewesen, konnte sich aber nie daran erinnern, wo ihr Name stand. Er musste sie dazu bringen, ihm mit dem Summer die Tür aufzumachen. Diesmal musste sie ihn einfach hereinlassen. Er studierte die Namen, die neben den Klingeln standen. Am Ende fand er den Gesuchten. Sommer, stand auf dem Messingschild zwischen den vielen anderen Namen. Energisch drückte er auf den Knopf und trat zwei Schritte zurück. Er konnte nicht stillstehen, die Kälte hatte sich schon längst durch seine Stiefel und in seine Füße gefressen.

Die Stille ragte vor ihm auf. Wieder und wieder drückte er auf die Klingel. Er wusste nicht, ob sie bei der Arbeit war. Er wusste nicht einmal, wo sie arbeitete oder ob sie überhaupt Arbeit hatte. Er hatte sie verdammt lange nicht mehr gesehen.

Ein letztes Mal drückte er auf den Knopf und wollte gerade gehen, als die Gegensprechanlage knackte. Eine müde, belegte Stimme sagte: »Hallo.«

»Hier ist Johnny, ich muss mit Lise sprechen.«

Einen Moment blieb alles still. »Ich will dich nicht sehen«, flüsterte sie dann.

Die Gegensprechanlage rauschte leise, dann hörte er ein metallisches Klicken. Sie hatte das Gespräch beendet, ohne die Tür zu öffnen. Wütend drückte er noch einmal auf den Klingelknopf.

»Ich will nicht mit dir sprechen.« Lise Sommer war sofort da. Ihre Stimme zitterte. »Nie mehr, habe ich gesagt.«

»Aber was zum Teufel ist los? Ich habe dir nichts getan. Auch wenn Ester und ich ... wir können doch trotzdem befreundet sein!«

Er wusste natürlich, dass sie zu Ester hielt, aber trotzdem. Früher hatte er auch über Lise eine gewisse Macht ausgeübt. In den alten Tagen, als er im Mittelpunkt der Clique gestanden hatte. Im Grunde hatte er über alle Macht gehabt. Aber was war dann eigentlich passiert? Was passierte hier mit ihm? Er drückte noch einmal auf den Klingelknopf. Dieses Mal würde er nicht aufgeben, verdammt. Er warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus. Dann donnerte er mit der Faust gegen die Messingplatte mit den Klingelknöpfen.

Seine Fingerknöchel schmerzten. Aus einer kleinen Wunde sickerte Blut. Mehrere Klingeln waren ruiniert. Er zog an zweien und riss daran, bis sie nur noch an ihren roten und schwarzen Leitungen hingen. »Das hast du nun davon, du blöde Kuh!«, brüllte er, dann schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch, drehte sich um und lief zitternd vor Wut und Kälte die Straße hinunter.

Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi

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