Читать книгу Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 18

Оглавление

Die Tür, die sie beschützte, war nur ein dünnes Holzbrett. Das Geräusch der Klingel durchschnitt ihren Leib, glitt eiskalt über ihr Rückgrat und hinauf in ihren Nacken. Sie legte ihre Wange an den Türrahmen und spürte das kühle lackierte Holz an ihrer Haut. Sie trug einen verschlissenen, weißen Morgenrock. Der Boden unter ihren bloßen Füßen war kalt. Die Stille nach dem Klingeln brachte ihre Ohren zum Rauschen. Die Angst, die sie vor und nach dem Klingelgeräusch durchströmte, hatte sich gelegt. Sie hielt den Atem an, spürte, wie auf ihrer Stirn und unter ihren Armen der Schweiß hervortrat. Wagte nicht, durch den Türspion zu schauen. Ihr Schatten würde den Spion verdunkeln und ihre Anwesenheit verraten. Ihr Blick traf den Spiegel über dem Telefontisch. Ihre Augen waren groß, rund, blau. Ihre Locken blond, ihre Haut weiß.

Wie groß konnte Angst überhaupt werden? Ein Bild tanzte durch ihr Gehirn. Sie war sechs Jahre alt. Saß unten im Keller in einer Ecke. Die Hände vors Gesicht geschlagen. Das Gewitter hatte den Himmel über dem Haus zerrissen. Ein Vogel war zu Boden gefallen, vor Angst, hatte ihr Vater gesagt. Der Blitz zeigte mit seinen gelben elektrischen Fingern auf die Landschaft, wieder und wieder. Der Vogel war draußen auf dem Rasen. Der Donner dröhnte durch die Grundmauern und spaltete ihr Gehirn in zwei Teile. Einen Vogelteil und einen Menschenteil. Der Vogel starb vor Angst. Und ihr konnte das auch noch passieren. Die Angst vor dem Gewitter, als sie klein war, wurde an dieser neuen Angst gemessen. Sie hatte dasselbe Gewicht, dieselbe Farbe.

Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und die hellen Vorhänge waren vorgezogen. Das Zimmer hing am Flur wie eine dunkle, Geborgenheit schenkende Lunge. Sie konnte sich lautlos zurückziehen. Indem sie sich zusammenkrümmte, sich von der Tür fortbewegte, langsam und leise, und dann die Tür hinter sich abschloss. Sie sehnte sich nach der sicheren Wärme des Wohnzimmers, wagte aber nicht, sich zu bewegen.

Sie hatte das böse Gefühl, quer durch sich selber in ein schwarzes Loch zu stürzen. Die Klingel riss ihren Körper noch einmal in Stücke. Erbarmungslos fegte dieses Geräusch ihr Bewusstsein in ein kaltes, durchbohrendes Licht. Ein Schwarm von roten Punkten tanzte vor ihren Augen.

Cato Isaksen blieb eine Weile vor der kleinen Tür stehen und lauschte. Dann schellte er. Er glaubte, drinnen etwas gehört zu haben, einfach nur eine kleine Bewegung. Die Stille ragte wie eine Mauer vor ihm auf. Er klopfte leise an die Nachbartür. Auch dort war niemand zu Hause. Anschließend klingelte er noch einmal an der Tür von Lise Sommer, Ester Synnøve Lønns Freundin, um dann einen Zettel mit seiner Telefonnummer hinter das künstlerisch gestaltete Türschild mit der Mitteilung »hier wohnen Lise und Florian« zu schieben. Er wartete noch einen Moment, dann machte er kehrt und ging über den Flur mit den vielen Türen. Das Geräusch seiner Schuhe hallte von den Mauern wider. Er erreichte das Treppenhaus und lief die Steintreppen hinunter.

Auf der Wache betonte Cato Isaksen dann, wie wichtig es sei, dass Bjørn Tore Lønn in Untersuchungshaft blieb, bis Johnny Svendsen festgenommen worden war. »Ich glaub ihm nicht«, fuhr er fort und sah Marie Sagen an. »Wir wissen nicht, ob er die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht würde er Svendsen auf dem Laufenden halten und ihm einen noch größeren Vorsprung verschaffen. Und auf jeden Fall kann er Beweise vernichten und eventuelle Zeugen beeinflussen.«

Die Juristin stimmte ihm zu und meinte, dass diese Argumente ausreichen müssten. »Das dürfte kein Problem sein«, sagte sie.

Bjørn Tore Lønn wurde gegen ein Uhr dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Die Polizei wollte ihn noch in Gewahrsam behalten, zumindest bis zur Festnahme von Johnny Svendsen. Sie führten an, dass er der Polizei Informationen verschwiegen und offenbar eine geladene Waffe aufbewahrt hatte. Auch der fingierte Überfall und andere Kleinigkeiten wurden erwähnt. Sein Anwalt hielt das alles nicht für überzeugend. Sein Mandant habe in Wut und Panik gehandelt, brachte er vor. Es sei doch nur verständlich, dass er in dieser entsetzlichen Lage nicht mehr klar habe denken können. Immerhin war seine Schwester ermordet worden. Seine anderen kleinen Vergehen, der Betrug und die Mietrückstände, seien nun wirklich kein Festnahmegrund.

Nachdem die Untersuchungshaft verhängt worden war, hatte Cato Isaksen eine kurze Besprechung mit Ingeborg Myklebust. Diese Begegnung verlief allerdings nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hatte. Die Abteilungsleiterin saß bleich und sichtlich erschöpft auf der anderen Seite des Tisches und bat ihn ganz ruhig, ihre Stellung zu übernehmen. Nur vorübergehend, beteuerte sie, und dann erzählte sie, sie sei ernsthaft erkrankt und müsse operiert werden.

Das war eine Überraschung. Ingeborg Myklebust war bekannt dafür, dass sie hart im Nehmen war. Cato Isaksen wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie krank werden könnte. Sie war doch unbezwinglich, fast wie eine Festung.

Die Beziehung zwischen dem Ermittler und seiner Vorgesetzten war immer angespannt gewesen. Beide waren starrköpfig und verschlossen, immer auf der Hut vor der Meinung des Gegenübers. Bereits nichtige Kleinigkeiten konnten heftige Debatten auslösen. Sie war zu direkt und neigte dazu, Cato Isaksen und seine Leute zu demütigen. Auch wenn er zugeben musste, dass sie eine tüchtige Vorgesetzte war, eine Strategin, die dafür sorgte, dass alle sich nach Kräften ins Zeug legten, um die ihnen übertragenen Fälle zu lösen. Und wenn ihnen das gelang, dann war Ingeborg Myklebust die Erste, die sie lobte und beglückwünschte. Aber vorher war sie anspruchsvoll und ungeduldig. Sie hatte nicht wenige Seiten, die er in sich wiederfand. Vielleicht wurde er deshalb von ihr so oft provoziert.

Aber die Nachricht, dass bei Ingeborg Myklebust ein bösartiger Brusttumor gefunden worden war, freute ihn wirklich nicht. Es hatte sich immer wieder herausgestellt, dass sie unüberwindlich waren, wenn es wirklich darauf ankam. Die Abteilungsleiterin verließ sich auf ihn und zeigte das, indem sie ihn bei den allerschwierigsten und schwersten Fällen als Chefermittler einsetzte. Im Grunde brachten Ingeborg Myklebust und Cato Isaksen einander tiefe Achtung entgegen.

Jetzt sah sie müde aus, wollte aber kein Mitleid. »Lass mich einfach in Ruhe«, sagte sie. »So leicht werdet ihr mich nicht los.« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ich komme schon wieder zurück. Du brauchst an meinem Platz also nicht anzuwachsen, Cato. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich nicht zurückkomme.« Sie lächelte scharf. Ihr Versuch, witzig zu klingen, hatte einen fremden und schmerzhaften Unterton.

Cato Isaksen versprach, seine Vorgesetzte auf dem Laufenden zu halten.

»Das ist gut«, sagte sie. »Dann habe ich Stoff zum Nachdenken.« Einen Moment lang musterte sie ihn mit ernster Miene. »Danke«, sagte sie, erhob sich und ging.

Auf dem Weg nach draußen stieß sie mit Ellen Grue zusammen, die gerade einen gelben Plastikordner vorbeibrachte. Die beiden wechselten ein kurzes Nicken und Cato erkannte, wie ähnlich diese Frauen sich waren, nicht vom Aussehen her, sondern vom Wesen. Kurz angebunden, ein wenig arrogant und herablassend. Ganz anders als Randi Johansen, die stets bescheiden und kooperativ war.

Ingeborg Myklebust ging zu einem wartenden Taxi, während Ellen Grue den Ordner vor ihn auf den Schreibtisch legte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Jede Menge Papiere aus der Wohnung des Mordopfers. Nummeriert und mit der Fundstelle versehen.«

»Und wo sind sie gefunden worden?«

»Auf dem Glastisch, unter anderem, und auf dem Esstisch.«

»Und ist etwas Besonderes dabei?«

Ellen Grue schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Die Kinderzeichnungen stammen von ihrem Sohn. Ansonsten gibt es einen Zeitungsartikel über eine Katze, drei Illustrierte und die Hausordnung. Einen Brief von der Post, zwei gedruckte Vorträge über Psychologie, einige private Notizen über Psychopathen sowie einen Prospekt über eine Reihenhaussiedlung in Østfold, in einem Neubaugebiet namens Sørskogen.«

Der Kommissar nickte. »Ich werde alles durchgehen«, sagte er.

»Ansonsten haben wir in Johnny Svendsens Wohnung einiges gefunden. Unter anderem ein Leatherman-Messer. Die Wohnung war arg heruntergekommen und nur spärlich möbliert. Im Schlafzimmer war eine Wolldecke als Vorhang angenagelt. Die verdreckte Küche quoll förmlich über vor ungespültem Geschirr und Essensresten. Wir haben Fingerabdrücke von Gläsern und Tassen gesichert und vom Badezimmerboden schmutzige Kleider aufgehoben und ins Labor gegeben. Alle Schubladen und Schränke sind durchsucht worden.«

Auch Cato Isaksen hatte zwei Mann in die Wohnung geschickt, um das Beweismaterial durchzusehen. Die Leiterin der Spurensicherung erzählte außerdem, dass ein Lederetui gefunden worden und sofort beschlagnahmt worden sei. Das Leatherman-Messer war ebenfalls ins Labor geschickt worden. Zwar wies es keine sichtbaren Blutspuren auf und die Klingen der verschiedenen Messer waren auch nicht sonderlich lang, aber als Mordwaffe konnten sie nicht ausgeschlossen werden. Es war keine lange Klinge nötig, um eine Halsschlagader zu durchtrennen.

»Thorsen und Billington haben übrigens den Vermieter gefunden. Ein etwas zweifelhafter Typ, aber er beteuert, mit der ganzen Sache nichts zu tun zu haben.«

»Schön.« Cato Isaksen wollte schon einen Kaffee vorschlagen. Aber Ellen Grue stand auf und war verschwunden, ehe er mehr hatte sagen können.

Das Telefon klingelte, sobald die Frau das Zimmer verlassen hatte. Bente wollte wissen, wann er nach Hause käme.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Aber wenn sich nichts Neues ergibt, dann versuche ich, so gegen sechs Feierabend zu machen.«

»Schön. Ich mache mir Sorgen um Vetle.«

»Ist er wieder deprimiert?«

»Ja.« Er konnte beinahe hören, dass sie nickte. »Ich habe heute Abend um zehn Uhr Dienst. Ich möchte ihn nicht allein lassen.«

»Ich bin gegen sechs zu Hause«, versprach Cato Isaksen und legte auf.

Er berief eine außerplanmäßige Besprechung ein. Die Abteilung wurde von Ingeborg Myklebusts Erkrankung informiert. Als vorläufiger Abteilungsleiter war Cato Isaksen jetzt sein eigener Vorgesetzter. Allerdings stellte er sofort klar, dass er nicht vorhatte, sich vom Feld zurückzuziehen. Verwaltungsarbeit und Papierkram zählten nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Er wollte in diesem Fall weiterhin als aktiver Ermittler tätig sein.

Als ihm bereits eine Viertelstunde später von höherer Warte aus im Fall Lønn freie Hand gewährt wurde, erklärte er sich mit der kommissarischen Beförderung einverstanden. Sie würde ihm nicht nur ein höheres Gehalt einbringen, sondern auch seinen Status erhöhen, was er sich schon lange gewünscht hatte. Noch am selben Nachmittag wollte er sich über alle bisher erteilten Instruktionen informieren.

Die nächste Besprechung fand um drei Uhr statt und Randi Johansen und Anne Grethe Juvik berichteten über ihren Besuch an Johnny Svendsens Arbeitsplatz. Es hatte nur wenig an ihm auszusetzen gegeben. Zumeist war er pünktlich erschienen, hatte getan, was ihm aufgetragen wurde, und zufriedenstellende Arbeit geleistet. Niemand hatte jedoch eine engere Beziehung zu ihm entwickelt, obwohl er fast anderthalb Jahre dort angestellt gewesen war. Der junge Mann hatte sich mit keinem Kollegen angefreundet. Einer beschrieb ihn als verschlossen und eigen.

Der restliche Arbeitstag wurde mit der Zusammenfassung und dem Vergleich von Informationen und mit Schlussfolgerungen verbracht. Das ältere Ehepaar im Untergeschoss wurde noch einmal aufgesucht, bestand aber darauf, dass es gegen elf zu Bett gegangen war und dass beide Ohropax verwendet hatten. Cato Isaksen versuchte außerdem mehrere Male erfolglos, Lise Sommer telefonisch zu erreichen.

Gegen fünf konnte er eine kleine Verschnaufpause einlegen. Ziellos blätterte er in den Unterlagen, die Ellen Grue ihm gebracht hatte. Hatte Ester Synnøve Lønn umziehen wollen? Er sah sich den Prospekt an, der von einem Immobilienhändler in Fredrikstad stammte. Das Reihenhaus, etwa 109 Quadratmeter groß, sollte neunhundertzwanzigtausend Kronen kosten. Das Haus war gelb gestrichen und sah wirklich gemütlich aus, mit kleinen Fenstern und einem winzigen Garten. Der Zeitungsartikel über das Kätzchen, dessen Besitzer es bei der U-Bahn-Station Lambertseter hatte umbringen wollen, war am Dienstag, dem 28. Dezember 1999, aus der Abendausgabe der Zeitung Aftenposten gerissen worden. Cato Isaksens Augen blieben am verängstigten Blick des schwarzen Kätzchens hängen. Er hatte selbst einen Kater und war entsetzt über das, was er hier lesen musste. Liv Klevland vom Tierschutzverein ist erschüttert über dieses Vorkommnis. Norwegisches Pionierprojekt zum Thema Gewalt gegen Tiere und Menschen.

Er legte den Artikel weg und sah den Stapel weiter durch. Schließlich fand er einen weiteren Zeitungsartikel, der sich auf die Gesetze der Psychopathie bezog, dazu einige Zeichnungen und aus Zeitschriften herausgerissene Kochrezepte. Die Kinderzeichnungen, die allesamt in schräger kindlicher Schrift mit Markus S. unterzeichnet waren, zeigten einen Jagdbomber mit einer roten Heckflamme, einen Bauernhof mit einem Pferd in einem Pferch und einen großen Wolf, der aus dem Wald hervorlugte, sowie zwei große Dinosaurier mit messerscharfen Zähnen.

Der Trauermantel - Ein Norwegen-Krimi

Подняться наверх