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ОглавлениеPROTESTANTISMUS UND MILIEU
Nachdem der einschlägige Forschungsstand zur Geschichte des Protestantismus lange Zeit personen- und theologiegeschichtlich orientiert war, findet sich in der jüngeren sozialgeschichtlichen Protestantismusforschung die Einsicht, dass sich nicht nur im Katholizismus, sondern auch im Protestantismus Milieustrukturen herausgebildet haben. Basierend auf dem wegweisenden Aufsatz von M. Rainer Lepsius über die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, der die Unterscheidung von vier sozialmoralischen Milieus herausarbeitet (katholisch, bürgerlich-protestantisch, konservativ und sozialistisch), wird im deutschen Sprachraum seit den 1980er-Jahren verstärkt zum protestantischen Milieu geforscht.38
Die Frage nach der Existenz eines oder mehrerer protestantischer Milieus hat insbesondere für die Regionalgeschichte eminente Bedeutung. Liesse sich im überwiegend protestantischen Basel ein Milieu nachweisen, dessen Mitglieder sich durch ihre Kirchenbindung, ihre Mitgliedschaft in einem evangelisch-reformierten Verein, ihre Prägung durch das protestantische Deutungssystem und ihr damit verbundenes soziales, kulturelles und politisches Verhalten charakterisierten, präsentierte sich nicht nur die Sozialgeschichte der Stadt unter einem veränderten Licht – dem Milieu spricht Kuhlemann die Eigenschaft eines für die politische Mobilisierung wichtigen soziokulturellen Reservoirs zu. Die soziale Gestaltungskraft des Protestantismus in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, seine mögliche Marginalisierung in den Umbruchsjahren ab 1960, liessen sich neu beurteilen. Möglicherweise liessen sich verschiedene regionale «Mikro- und Mesomilieus»39 zu einem überregionalen, nationalen protestantischen «Makromilieu» bündeln oder, analog zu dem von Altermatt umschriebenen Durchschnittskatholik, ein «Durchschnittsprotestant» zeichnen.40
Einig ist sich die Forschung darüber, dass neben dem Katholizismus auch im Protestantismus milieuartige Strukturen existiert haben. Über die Homogenität dieser Strukturen, ihre Anzahl und allfällige Abgrenzungen zueinander bestehen hingegen unterschiedliche Auffassungen. Während Günter Brakelmann in seiner Untersuchung drei Typen von «milieuprotestantischer Kirchlichkeit» ausmacht, die sich weitgehend aufgrund ihrer sozialpolitischen Anschauungen und ihres damit korrespondierenden unterschiedlichen Wahlverhaltens manifestieren, sieht Thomas Nipperdey in seiner Darstellung zur Religionsentwicklung im Kaiserreich eine Tendenz zur nationalen Vereinheitlichung des Protestantismus im Sinne eines «innerkirchlichen Pluralismus».41 Dieser Auffassung widerspricht Gangolf Hübinger deutlich. Er zeichnet eine scharfe Fraktionierung des Protestantismus in Konservative und Liberale nach und vertritt die These einer «innerprotestantischen Versäulung» bis zu den «Ekelschranken», wie sie sonst nur zwischen Katholiken und Protestanten zu finden waren, und nach der es «selbst in existenziellen Situationen und protestantischen Verbänden keine Kommunikation und erst recht keine Zusammenarbeit» gegeben haben soll.42 Frank-Michael Kuhlemann wiederum kommt in seiner Untersuchung zum protestantischen Milieu in Baden zum Schluss, dass sich dort zwar zwei protestantische Teilmilieus zum Teil scharf voneinander abgegrenzt haben, die verbindenden Elemente innerhalb des Protestantismus aber so stark waren, dass von einem übergeordneten protestantischen Milieu gesprochen werden kann.43 Der These einer zunehmenden Polarisierung des Protestantismus bis hin zu den «Ekelschranken» widerspricht Kuhlemann.44
Die Herausgeber der hier zitierten Studie «Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen» schlagen das Konzept «Milieu» unter anderem deshalb vor, um den Problemen, die mit der Anwendung der Modernisierungstheorie auf die Religions- und Kirchengeschichte entstehen, aus dem Weg zu gehen beziehungsweise sie zu lösen. Mit der Idee der konstanten Modernisierung, einer steten linearen Entwicklung der Gesellschaft hin zu mehr Rationalität und ihrer konstruierten Dichotomie zwischen Tradition und Moderne, lassen sich religiöse und kirchliche Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert nur ungenügend erklären.45 Blaschke und Kuhlemann folgen Lepsius’ Definition des «sozialmoralischen Milieus» als «soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden».46 Sie beziehen den Begriff indessen «primär auf die gesellschaftlich-kulturelle und weniger auf die politische Sphäre».47 Wie bei Lepsius, verstehen sie die Formierung von Milieus als Reaktion auf die Moderne, aber wenn Kuhlemann konzediert, dass die Milieubildung «der entscheidende gesellschaftliche Strukturprozess des Protestantismus im Wandel von einer religiös dominierten Staats- und Gesellschaftsordnung zur Provinzialität der Religion in der Moderne [sei]»,48 so dreht er mit dieser These das Konzept von Lepsius ins Gegenteil: Bei Letzterem war der Niedergang der Milieus Beweis für die Modernisierung der Gesellschaft, bei Kuhlemann ist die Existenz von Milieus der Beweis für die Modernisierung.49
Damit sei angedeutet, dass auch der Gebrauch des Milieukonzepts nicht alle Schwierigkeiten einer modernisierungstheoretisch untermauerten Religionsgeschichte umschiffen kann. Nicht ohne Grund ist das Milieukonzept in jüngster Zeit in die Kritik geraten. Insbesondere die Lepsiussche Interpretation der Milieuauflösung durch fortschreitende Industrialisierung, wachsende Mobilität und soziale Differenzierung trägt die heute aktuelle Kritik am Milieuansatz bereits in sich.50 So weist Benjamin Ziemann auf die «konzeptionelle Ratlosigkeit» des Milieukonzepts hin, im Hinblick auf den «unwiderruflichen Abschied vom Milieu seit 1970 ...».51 In der Tat bietet das Milieukonzept nach seiner Anwendung auf die Zeit des Niedergangs der Vereine nach 1945 keine fruchtbare Perspektive mehr für die Erforschung der Transformation der Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.52 Die «übergrosse Aufmerksamkeit», welche die Milieuhistoriker den qualitativen Parametern schenken, ist für Ziemann ein weiteres Problem dieses Forschungsansatzes, «weil diese Daten selbst ein Produkt des [...] Milieus sind», das mit statistischen Erhebungen seine Selbstbeschreibung zu untermauern suchte, umso mehr, als die kirchliche Statistik ein Produkt der Milieuträger ist und wohl von diesen auch benutzt wurde, «mit künstlich aufgebauschten Zahlen ein potemkinsches Dorf der Frömmigkeit in ihrer Gemeinde zu errichten».53
Der Nachweis eines protestantischen Milieus im Raum Basel würde vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nicht überraschen, ist aber nicht das primäre Ziel dieser Forschungsarbeit. Natürlich kann auch die Untersuchung eines Milieus im Niedergang ertragreich sein. Die im Verhältnis zur Erforschung des Vereins- und Milieukatholizismus grossen Defizite in der sozial- und kulturhistorischen Erschliessung der zahlreichen protestantischen Vereine sowie des breiten religiösen Zeitschriften- und Literaturmarktes haben dazu geführt, dass die Debatte über Dechristianisierung und Entkirchlichung einem allzu engen, Institutionen-zentrierten Konzept der Kirche verpflichtet geblieben ist. Hier bietet der Milieuansatz weiterhin eine wichtige und wünschenswerte Alternative.