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RELIGION

Wenn Prozesse religiösen Wandels in der Gesellschaft erfasst werden wollen, zum Beispiel mit dem Säkularisierungstheorem, so kann einer Definition von Religion nicht ausgewichen werden. Was man unter Religion versteht, bestimmt, ob und wie stark man die Gesellschaftsverhältnisse als religiös oder säkularisiert wahrnimmt. Das Problem der Bestimmung eines Religionsbegriffs in der religionssoziologischen und religionshistorischen Forschung ist denn auch so alt wie umstritten. Verwendet wird der Begriff ohnehin, auch wenn sich die Stimmen mehren, «die den Versuch, Religion zu definieren, als zum Scheitern verurteilt ansehen und daher von vornherein aufgeben».54 Karl Gabriel zum Beispiel verzichtet darauf, Religion zu definieren, was es schwierig macht, festzustellen, ob sich Religion oder das religiöse Feld vermindert hat oder nicht.55 Dabei muss Religion enger gefasst sein, als die funktionalistische Definition von Thomas Luckmann, für den sich das Religiöse bereits «in der Vergesellschaftung des Einzelnen, in der Objektivierung subjektiver Erfahrungen» zeigt.56 Dieses breite Verständnis von Religion verunmöglicht theoretisch ein Verschwinden von Religion und schliesst deshalb den Vorgang der Säkularisierung per se aus.57 Eine substanzialistische Auffassung von Religion demgegenüber fragt nicht danach, zu was Religion dient, sondern aus was sie besteht; zum Beispiel aus einem Konglomerat von Einstellungen, Glaubenssätzen und Handlungen, basierend auf der Annahme einer übernatürlichen Kraft.58 Vertreter des «orthodoxen Säkularisierungsmodells» präzisieren diese Definition, indem sie diesen Glaubenssätzen das Leben und den Alltag der Menschen determinierende Eigenschaften zuschreiben.59 Der Vorteil liegt hier aber darin, dass die Menge an Religion steigen oder sinken kann. Diese Definition ist stark von einem westlichen Verständnis von Religion geprägt und macht es schwierig, andere, unserem Verständnis nach nichtreligiöse Formen des Übernatürlichen auszuschliessen (ebenso wie der Begriff des «Heiligen» vom Selbstverständnis der verschiedenen Religionsangehörigen abhängig ist). Hier setzt Lucian Hölscher an, der festhält: «Religion ist alles, was man dafür hält.»60 Seine Definition rückt die Selbstbeschreibung sozialer Gruppen in den Mittelpunkt. Mit seinem Verständnis geht Hölscher zwar einer wissenschaftlich-systematischen Bestimmung über das «Wesen des Religiösen» aus dem Weg, ermöglicht es aber, Wandlungen des «Religiösen» als religionsimmanent zu betrachten, ohne gleich bestimmte Glaubensformen oder Glaubenspraxen von vornherein auszuschliessen. Detlef Pollack schliesslich geht einen elaborierten Mittelweg, indem er funktionalistische und substanzialistische Argumente kombiniert. So gelingt es ihm, den Religionsbegriff weit genug zu spannen, um auch ausserkirchlichen Phänomenen wie Astrologie oder Okkultismus Platz zu geben, andererseits fasst er ihn eng genug, um nichtreligiöse Antworten auf die Sinnfrage auszuschliessen. Seine Argumentationslinie ist die folgende: Religion gibt Antworten auf Sinnprobleme, sie bietet Kontingenzbewältigung an. Kontingenz «provoziert die Frage, warum etwas so ist, wie es ist, und warum es nicht anders ist».61 Besonders Situationen wie Ohnmacht, Hilflosigkeit durch Konfrontation mit Armut, Krankheit, Tod oder dem Zerbrechen sozialer Beziehungen rufen in den Menschen Erfahrungen von Kontingenz hervor.62 Das Kontingenzproblem an sich ist nicht religiös, Kontingenzfragen können zum Beispiel auch durch Psychotherapie gelöst werden. Erst Religion aber bewältigt Kontingenz, indem sie Immanenz und Transparenz unterscheidet. Vereinfacht gesagt, vermittelt Religion zwischen dem Erreichbaren und dem Unerreichbaren, dem Bestimmten und dem Unbestimmten, zwischen Mensch und Gott. «Die typischen religiösen Formen wie Rituale, Gebete, Meditationen, Ikonen, Prozessionen, Predigten oder Heilige Schriften haben die Aufgabe, Zugang zum Transzendenten zu gewähren. Gleichzeitig sind sie jedoch aus der Immanenz genommen.»63

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