Читать книгу Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub - Страница 10

ACHT

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Im spanischen Restaurant sitzt Martha mit hochgezogenen Schultern am Tisch. Die Hände zwischen die Knie geklemmt, starrt sie stumm abwechselnd auf ihren leeren Teller und auf Tanner. So attraktiv sie in der weißen Bluse, in dem kurzen Lederrock und den neuen italienischen Schuhen auch wirkt, die Hilflosigkeit in ihren Augen, verstärkt durch die Haltung ihres Körpers, machen aus ihr in diesem Moment wieder das scheue, ungeschickte Mädchen vom Land, das Tanner aus der gemeinsamen Schulzeit in Erinnerung hatte.

Sie hatte ihn am frühen Nachmittag angerufen und gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, sie in der Weltstadt am See zu treffen, da sie den ganzen Tag dort beschäftigt sei. Er hatte natürlich sofort eingewilligt, obwohl er nicht besonders gerne in die Stadt seiner früheren beruflichen Tätigkeiten zurückkehrte.

Sie reagiert heftiger auf Tanners leisen Bericht über Elsie, ihre Liebe und ihren wahrscheinlich nahen Tod, als Tanner erwartet hatte. Eigentlich wollte er es ihr nicht erzählen, schon gar nicht an diesem Abend, aber irgendwie hat Martha, durch und durch raffinierte Journalistin, ihm schließlich die ganze Geschichte entlockt.

Zur Bedingung, dass sie überhaupt mit ihm essen ging, gehörte ja das Versprechen, dass er ihr von seinem Besuch im Schlaraffenländli erzählte, und zwar mit allen Details, wie sie ausdrücklich betonte. Nun, ihr alle Details dieses Besuches zu erzählen, war kein Problem für Tanner. Zumal es ja ein ziemlich abrupt abgebrochener Besuch war. Aber wie macht man einer Frau begreiflich, warum man zu einer Nutte geht? Und auch noch einer Frau, die einem ungemein gut gefällt?

Und so wurde das Gespräch zwischen Martha und Tanner ernster, leiser und die Spannung zwischen ihnen immer greifbarer. Und zwar eine Art Spannung, die einen immer stärker verkrampft, je mehr man ihr entkommen möchte. Tanner hatte sich den ersten gemeinsamen Abend ganz anders vorgestellt. Dabei hatte ihre Begrüßung und die erste halbe Stunde ihrer Begegnung ein unbeschwertes Klima gehabt. Sie sprachen über unverfängliche Dinge aus der gemeinsamen Vergangenheit. Sie lachten gemeinsam über ihre ehemaligen Mitschüler und über ihre alten Lehrer. Kurz, es war eine Leichtigkeit und Vertrautheit zwischen ihnen, die Tanner freudig überrascht und dementsprechend animiert hatte. Sie versetzte ihn in Hochform. Martha hingegen reagierte anders. Als ob diese Schwingungen sie erschreckten. Als ob diese Stimmung, die sich spontan zwischen ihnen eingestellt hatte, nicht in ihr Konzept passte. Man konnte direkt sehen, wie sie geradezu mit Fleiß und mit System ihre Ausgelassenheit und Offenheit zurücknahm. Wie eine Fischerin, die ihre Netze einholt. Ihre Fragen wurden zunehmend penibler, ihre Ansichten zu allem, was Tanner sagte, schärfer und eigenartiger. Und das Schlimmste für Tanner war: Je mehr er von sich preisgab, desto bedrückter wurde Martha. Es begann ein eigenartiger Teufelskreis: Da er das Gefühl hatte, dass sie ihn immer weniger verstand, holte er immer weiter aus, durchpflügte die Vergangenheit seines Lebens, berichtete von seinen Beziehungen und schilderte ihr so plastisch wie möglich einschneidende Ereignisse. Aus lauter Verzweiflung erzählte er hundert und eine Anekdote. Es nützte alles nichts. Er sah deutlich in ihren Augen, dass er sie nicht überzeugen konnte. Sie bestand darauf, dass er vom Wesentlichen sprach. Und so erzählte er schließlich doch die Geschichte von Elsie. Da begann sie stumm zu werden. Bei allen anderen Dingen, von denen Tanner vorher sprach, hatte sie unerbittlich nachgehakt. Jetzt lauschte sie nur noch stumm seinen Worten. Vom Essen bekam Tanner für einmal wenig mit, obwohl der spanische Koch ohne Zweifel exzellent kochte.

Als Tanner endlich zu Ende erzählt hat, schweigen sie lange. Martha rührt in ihrem Kaffee. Dann blickt sie ihn lange an.

Ich habe dich doch falsch eingeschätzt, Tanner. Es tut mir Leid … du tust mir Leid … die Kinder, obwohl ich sie nicht kenne, tun mir Leid … Elsie tut mir Leid … ja, ja, jetzt fange ich auch noch an zu weinen, Scheiße!

Martha erhebt sich abrupt und verschwindet durch die Reihen der vielen verschiedenen Palmenpflanzen, die das Restaurant in einen wahrhaften Dschungel verwandelt haben; wahrscheinlich flieht sie zu den sehr gepflegten Toiletten, die sich in den Kellerräumen befinden. Unzählige gierige Männerblicke verfolgen die nackten Beine der schlanken Gestalt, bis sie das grüne Dickicht verschlungen hat.

Affen … lauter Affen … Affen im Urwald, murmelt Tanner wütend vor sich hin. Er weiß selber nicht, auf wen er eigentlich wütend sein soll: auf all die Männer, die jedem Minirock hinterherhecheln, oder auf sich selber, weil er es nicht verstanden hat, den Verlauf ihrer Begegnung in andere Bahnen zu lenken.

Barscher als beabsichtigt verlangt er die Rechnung bei dem sympathischen Kellner, der in dem Restaurant arbeitet, seit es unter der Herrschaft des Spaniers mit dem Bleistift hinterm Ohr steht. Tanner erschrickt selber über seinen unfreundlichen Ton. Zum Ausgleich gibt er dem Kellner ein geradezu fürstliches Trinkgeld und entschuldigt sich mit einem etwas verkniffenen Lächeln.

De nada, choder … muchas gracias.

Tanner steht auf und geht Martha nach.

Er lauscht an der Tür der Damentoilette. Offensichtlich telefoniert sie mit ihrem Handy. Leider kann er kein Wort verstehen.

Kein Wunder, bleibt sie so lange verschwunden, denkt Tanner und klopft an die Tür.

Bist du noch da, Martha?

Sie unterbricht ihr Gespräch.

Ich bin gleich fertig, Tanner, entschuldige …

Keine Ursache, ich wollte nur sicher sein, dass du noch da bist. Ich warte hier unten auf dich, ich habe bereits bezahlt. Lass dir Zeit.

Tanner setzt sich seufzend in einen Kinderstuhl bei der Märchenecke, die für die kleinsten Besucher des Restaurants eingerichtet wurde.

Mit wem Martha wohl telefoniert?

Nie im Leben würde er es erraten. Vor allem, was ihr zweites Gespräch betrifft. Aufschlussreich wäre es allerdings schon gewesen, wenn er es gekonnt hätte. Tanner holt tief Atem und seufzt. Gedankenverloren greift er zu einem der Kopfhörer. Eine widerlich süßliche Frauenstimme erzählt in einem völlig falschen Märchenton von Schneewittchen. Und wie es scheint, in ziemlich freier Form. Einer der Zwerge fragt gerade atemlos, welchen von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen sie denn am meisten lieb habe. Er fragt es im Brustton der Überzeugung, dass ganz bestimmt nur er der Auserwählte sein kann. Darauf lässt die Erzähltante das Schneewittchen ziemlich zickig auflachen. Wahrscheinlich war ein liebliches Prinzessinnenlachen gemeint …

Aber ich habe euch doch alle gleich gern, ihr dummen Zwerge, ihr seid mir alle gleich lieb und wichtig.

Was für eine verlogene Antwort, denkt Tanner verstimmt. In diesem Moment tippt ihm Martha auf die Schulter. Er dreht sich zu ihr um. Martha lacht. Die Sonne im Märchen könnte dem naiven Müllersohn nicht freundlicher strahlen.

Du siehst, es geht mir besser. Ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht kann manchmal Wunder wirken.

Martha sieht tatsächlich nicht nur erfrischt aus, sondern sie hat offensichtlich auch ihre gute Laune wiedergefunden. Dass das alles aufs Konto von kaltem Wasser gehen soll, bezweifelt Tanner allerdings. Mit wem sie nur telefoniert hat? Hat sie angerufen oder war es einfach ein Zufall, dass ihr Telefon klingelte, während sie auf der Toilette war? Tanner hat große Lust danach zu fragen, verkneift es sich aber. Was geht es ihn an? Er hat sich über dreißig Jahre lang nicht bei ihr gemeldet, ja nicht einmal an sie gedacht, und jetzt ist er schon verstimmt, wenn ein paar fremde Männer ihr nachblicken und sie ein privates Telefongespräch auf der Damentoilette führt.

Warum habe ich bloß dieses beharrliche Gefühl, dass dieses Gespräch mich irgendwie betrifft, fragt er sich im Stillen. Er beschließt, das Gefühl einfach zu ignorieren. Es fällt ihm gar nicht so schwer, denn Martha hängt sich in diesem Moment mit einem wirklich verführerischen Lächeln bei ihm ein.

Komm, Tanner, lass uns fahren. Ich hoffe, du hast ein schnelles Auto. Ich will mal sehen, wie du wohnst.

Sie holen den kleinen BMW, den Tanner wieder gemietet hat, aus dem Parkhaus. Tanner bezahlt an einem der hypermodernen Parkautomaten, ohne mit der Wimper zu zucken, den horrenden Betrag … Ich will mal sehen, wie du wohnst …

Dieser von Martha leicht hingeworfene Satz dröhnt in Tanners Schädel und will nicht leiser werden. Er hat das Gefühl, als habe ihn irgendetwas Mächtiges geschubst. Sagen wir mal: eine Abrissbirne. Und zwar in eine Richtung gezwungen, die Tanner im Moment etwas unheimlich vorkommt. Wollte er das nicht auch? Wie? Die Nacht mit ihr verbringen! Ja? Nein? Ja, schon, aber …

Leise hört Tanner die alten Richter seines inneren Hohen Tribunals vor sich hin kichern. Sie hatten sich lange nicht mehr gemeldet. Vielmehr: Es hatte lange nichts zu melden gegeben.

Martha plaudert auf ihrem kurzen Weg durch die Innenstadt ohne Punkt und Komma. Wie weggeblasen ihre Verstimmung, ihr Traueranfall. Sie erzählt unbeschwert von ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Zeitung, von ihrem bärbeißigen Chef, den Tanner ja kurz gesehen – und vor allem gehört hatte. Sie berichtet von ihrer neuen Arbeit. Sie bildet wohl eine Art ziemlich selbstständige Abteilung für besondere Aufgaben. Direkt der obersten Leitung unterstellt und niemandem sonst Rechenschaft schuldig.

Tanner hat Mühe, ihren frei assoziierenden Wörterkaskaden zu folgen. Mit ihrer kurzen Bemerkung hat sie ihn ganz schön durcheinander gebracht. Was ist nur in Martha gefahren? Woher dieser Umschwung? Auf einmal, quasi aus heiterem Himmel, will sie seine Wohnung sehen. Sie will also partout nicht in ihre Stadt zurückfahren, sie will Tanners Wohnung am kleinen See sehen.

Hätte ihn jemand gefragt, ob er Martha heute bitten würde, ihn in seine Wohnung zu begleiten, er hätte ihn entweder offiziell für verrückt oder zu einem psychologischen Vollidioten erklärt. Zu einem kompletten Ignoranten der weiblichen Seele auf jeden Fall.

Das Gesetz des Wassers

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