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VIER

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Zurück in der Stadt, weckt Tanner auf dem Zivilstandesamt ein paar Beamte auf, die von der übermächtigen Hitze überwältigt, ihre Siesta halten, ihm aber über seinen Großvater nichts, aber rein gar nichts, erzählen können, denn er existiert in ihren Unterlagen nicht. Natürlich, er ist weder in dieser Stadt geboren noch gestorben. Und geheiratet hatte er Tanners Großmutter wahrscheinlich in Deutschland oder in ihrem Geburtsort.

Meine Herren, Sie können wieder in Ihren Dornröschenschlaf zurücksinken … verzeihen Sie die Störung!

Mehr Glück hat Tanner in dem herrlich kühlen Staatsarchiv, über dessen Tor ein denkwürdiger Satz in Goldlettern prangt: Gott lässt seiner nicht spotten.

Interessanter Hinweis, denkt Tanner amüsiert, aber was ist damit gemeint? Ist es eine Feststellung oder eine furchtbare Drohung? Droht der Satz mit dem berühmten Blitzschlag, der denjenigen treffen soll, der sich über Gott lustig macht?

Tanner geht in den Lesesaal im ersten Stock. Nachdem er knapp sein Anliegen dargelegt hat – und zwar flüsternd, denn die Atmosphäre legt Flüstern nahe –, verweist ihn der zuständige Beamte, dessen Gesichtshaut längst die Farbe und Konsistenz von alten vergilbten Dokumenten angenommen hat und der offensichtlich gerade mit seiner Frau telefoniert, mit majestätischer Geste zu einem immensen Bücherbord voller Adressbücher der Stadt und bemerkt lässig, man müsse jede Suche ganz banal im Adressbuch beginnen, alles Weitere ergäbe sich dann schon. Tanner verbeugt sich stumm vor so viel Weisheit und begibt sich zu besagtem Bücherbord. Tatsächlich stößt er nach ein wenig Blättern auf erste Lebensspuren seines Ahnen.s 1924 taucht sein Name das erste Mal in einem Vorort der Stadt auf. Sein Großvater war offenbar Hilfsschreiber. Was ist bitte ein Hilfsschreiber? Hilft er dem Schreiber beim Schreiben? Vielleicht darf der Hilfsschreiber die Bleistifte vom Chefschreiber spitzen oder die Enden von Gänsefedern schärfen? Farbbänder von Schreibmaschinen auswechseln? Im Adressbuch 1927 ändert sich die Berufsbezeichnung. Er ist jetzt Magaziner, nicht mehr Hilfsschreiber. Nach den sehr fragmentarischen Erzählungen seiner Mutter war er tatsächlich ein einfacher Magaziner in einem Familienunternehmen gewesen, das führend auf dem Gebiet Starkstrom war. Die Firma existiert übrigens heute noch, auch wenn sie wahrscheinlich kein Familienunternehmen mehr ist. Um diese Firma wird Tanner sich noch kümmern, denn dort begann die Geschichte der Krankheit seines Großvaters. Nach Aussage seiner Mutter ist dort etwas passiert, woran dieser schuld gewesen sein soll …

Wie auch immer, bis 1936 findet Tanner insgesamt drei Adressen. Dann verschwindet der Name seines Großvaters plötzlich. Stattdessen ist nur noch seine Frau, also Tanners Großmutter, aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt ist wohl klar geworden, dass der Mann krank ist und krank bleiben würde. Flüsternd wendet Tanner sich an den Beamten, der schon wieder, diesmal mit Augenrollen gegen einen unsichtbaren Beamtenhimmel, sein sicher wichtiges Privatgespräch unterbrechen muss. Wie es denn jetzt weitergehe mit seiner Suche, will Tanner bescheiden wissen. Es gehe gar nicht weiter, spricht der Vielbeschäftigte mit wichtiger Miene. Er, Tanner, müsse nun ein schriftliches Gesuch an das Staatsarchiv stellen, denn die weitere Suche würde ein angestellter Forscher übernehmen. Gegen Bezahlung, versteht sich. Und zwar für fünfundneunzig Franken pro Forscherstunde. Es könne ja nicht jeder selber in den Dokumenten wühlen, das sei doch klar, so weit käme man noch, Datenschutz und so.

Aha! Ja so!

Jetzt weiß Tanner endlich Bescheid und der Beamte kann seelenruhig sein Telefongespräch weiterführen. Tanner holt tief Luft und überlegt sich, ob er ausnahmsweise seinen abgelaufenen Dienstausweis zu Hilfe nehmen soll. Die im Lesesaal anwesenden Personen, die bis jetzt allesamt ruhig über ihre jeweiligen Bücher, Akten oder Notizen gebeugt waren, blicken ihn erwartungsvoll an, denn der Beamte hat, um seiner Auskunft Nachdruck zu verleihen, plötzlich die Flüsterebene verlassen und mit Stimme gesprochen. Tanner lächelt einer rothaarigen Frau zu, die ihn ebenso erwartungsvoll fixiert wie alle anderen. Während sie an ihrem Bleistift knabbert, vor sich das größte Buch, das Tanner je gesehen hat, zuckt sie mit den Schultern. Das soll wohl heißen, da kann man nichts machen. Wie gesagt, Tanner lächelt, dreht sich um und verlässt den Raum. Also wird er halt in Gottes Namen untertänigst ein Gesuch schreiben.

Draußen in der Enge der Gasse, die sich zurück zum Münster schlängelt, empfängt ihn wieder die lastende Hitze. Er glaubt zu ersticken. Um Atem ringend hält er sich an einer Mauer fest. Kein Wunder, dass weit und breit niemand zu sehen ist. Schließlich warnen die Behörden ja täglich vor dem viel zu hohen Ozongehalt in der Luft.

Also, Tanner, langsam Luft holen und nicht an der Mauer festwachsen.

Sein nächstes Ziel ist die Redaktion der Stadtzeitung. Eine alte Bekannte aus seiner Schulzeit war dort Redaktorin für Verbrechen, Vermischtes und Todesanzeigen. Wenn er Glück hat, ist sie es noch. Auf der Fahrt vom Geburtsort seines Großvaters in die Stadt hat sich Tanner überlegt, dass es vielleicht sinnvoll wäre, seine Bekannte, die ihn immerhin in der Schule einige Male in brenzligen Situationen hat abschreiben lassen, aufzusuchen. Um sie über den Toten aus dem Schlaraffenländli auszufragen.

Martha Vogel, das pausbäckige Landmädchen mit den knarzenden Schuhen aus einem abgelegenen Kaff im Umland der Stadt. Das Mädchen, das bei jeder Gelegenheit rot anlief wie ein reifer Apfel. Tanner mochte sie irgendwie gern. In der Klasse war sie nicht besonders beliebt. Sie war nicht der Mode entsprechend gekleidet, zudem verwendete sie kein Deo und sie war in allen Fächern schlicht und ergreifend die Beste. Sie hatte ihre Hausaufgaben ausnahmslos immer perfekt gemacht. Wahrscheinlich als Einzige. Die Kombination dieser Eigenschaften machte sie zur Außenseiterin. Vielleicht mochte Tanner sie deswegen. Wahrscheinlicher ist, dass er von der uneingeschränkten Bewunderung dieses Mädchens geschmeichelt war. Die zeigte sie natürlich nicht offen, dazu war sie viel zu schüchtern.

Nur einmal, auf einem Schulausflug in den Bergen, verriet sie sich quasi in aller Öffentlichkeit. Der Lehrer hatte von der einsamen Höhe seiner Weisheit herab angeordnet, dass bei der Überquerung einer steilen, abschüssigen Stelle jedes Mädchen die Hand eines Jungen nehmen sollte. Tanner wollte flugs seine Hand – ihren Rucksack trug er ja schon, zusätzlich zu seinem eigenen – seinem damaligen Schwarm reichen, einem der beiden tschechischen Fräuleinwunder, die nach der Flucht aus dem Ostblock wie exotische Schmetterlinge in ihrer Klasse gelandet waren. Exotisch, weil sie zwei Jahre älter waren als der Durchschnitt der Klasse, weil sie aus der gefährlichen Fremde kamen und – weil sie schon richtige Frauen waren. Tanners Schwarm hatte einen Busen, der das schweizerische Mittelmaß bei weitem überstieg. Und dann trug sie jeden Tag eine dieser blütenweißen Blusen, bei denen gut die Hälfte der Knöpfe nie in Kontakt mit den für sie vorgesehenen Knopflöchern kamen, ja nicht einmal etwas von deren Existenz ahnten, so weit offen trug das arme Flüchtlingskind aus dem bösen Ostblock seine Blusen. In dieser Zeit ging Tanner richtig gern zur Schule. Er organisierte freiwillig eine große Ausstellung über den Einmarsch der russischen Panzer bei den lieben Pragern, nur um seiner Exildame zu gefallen. So erlebte wenigstens Tanner seine Frühlingsgefühle, nachdem der große politische Frühling in Prag platt gewalzt worden war.

Zurück zur abschüssigen, steilen Wegstelle. Tanner wollte also gerade die männlich starke Hand seinem Schwarm reichen, da sprang Martha Vogel mit ihren klobigen Bergschuhen herbei und packte sich besitzergreifend seine Hand. Ihre Hand war klein, fest und – nass vor Schweiß. Ihre blauen Augen leuchteten ihn an und Tanner brachte es nicht übers Herz, die Hand, die ihn so stürmisch ergriff, abzuschütteln. Alles kicherte natürlich. Tanner nahm die Herausforderung an und geleitete die ihm Anvertraute über die gefährliche Stelle. Dafür wurde er dann mit leckeren Käsebroten aus Martha Vogels Rucksack verköstigt. Auch durfte er anschließend in der Schule jederzeit von ihrer fleißigen Arbeit profitieren.

Wenn sie also noch in der Redaktion arbeitet, wird sie ihm sicherlich mit Informationen aushelfen.

Kurze Zeit später steht er schweißüberströmt an der Rezeption des großen Zeitungshauses. Und er hat Glück. Ein dürrer Mensch an der Rezeption gibt ihm näselnd, aber freundlich, im breitesten Stadtidiom, Bescheid. Ja, die Frau Doktrrr Vooogl sei im Hause, er müsse aber noch etwas Geduuuld haben, sie sei gerade in einer Sitzung. Also nimmt Tanner Platz und durchforstet die heutige Zeitung, auf der Suche nach einer Notiz über den toten Mann aus dem Schlaraffenländli. Das müsste doch für die Zeitung ein gefundenes Fressen sein. Ein Toter im Puff. Dazu noch ein Ausländer. Was für ein Schlagzeilenglück im journalistischen Sommerloch.

Tanner findet nichts und beginnt sich gerade zu wundern, als der Dünne mit den Armen fuchtelt und ihm bedeutet, er könne jetzt mit dem Lift in den zweiten Stock fahren, drittes Büro rechts …

Bevor Tanner an die geschlossene Bürotür klopft, holt er tief Luft.

Da niemand antwortet, geht er hinein.

Hallo, Frau Doktor, darf ich eintreten?

Aus der Tiefe eines sich anschließenden Raumes ertönt eine energische Stimme. Er solle einfach hereinkommen, sie sei sofort da. Enttäuscht stellt er fest, dass ihm die Stimme gar nicht bekannt vorkommt. Viel zu energisch und zu bestimmt, als dass sie zu der erinnerten Gestalt passen würde.

Das Büro von Frau Doktor Vogel ist höchst spartanisch eingerichtet. Unschlüssig steht Tanner mitten im Raum. Soll er sich setzen? Die Entscheidung wird ihm durch das Eintreten einer äußerst attraktiven Frau mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren abgenommen. Elegante Hosen und ein dunkelgrüner Pullover aus Kaschmir betonen ihre schlanke Figur. Sie kommt rückwärts gehend in den Raum, stößt die Tür mit dem Schwung ihrer Schultern auf, denn sie trägt einen Stapel Manuskripte in beiden Händen. Jetzt sieht sie den Besucher mit ihren großen blauen Augen an und friert mitten in der Bewegung ein. Tanner hebt die Hand zu einem lässigen Gruß, aber auch seine Bewegung bleibt mitten in der Luft stehen. Kann diese Frau das Landei aus Tanners Erinnerung sein? Diese Augen?

Bevor Tanner seine Erkundung fortsetzen kann, wird die äußere Bürotür, durch die Tanner soeben eingetreten ist, mit lautem Knall aufgestoßen und eine forsche Männerstimme in Baritonlage überschwemmt die angehaltene Zeit und Stille im Raum. Ein mächtiger Körper folgt der raumfüllenden Stimme.

Marthalein, ich habe unter Einsatz meines Leben alle Unterlagen besorgt, die du so dringend … oh, pardon, ich sehe, du bist nicht allein. Guten Tag. Stettler, ich bin hier das Mädchen für alles. Martha, ich bin in meinem Büro, wenn du noch Fragen hast. Hiermit habe ich mir aber ein schönes Nachtessen mit anschließendem Dessert mehr als verdient, oder?

Ohne eine Antwort abzuwarten, schickt er einen ziemlich feuchten Schmatz durch das Zimmer, ungefähr in Richtung von Marthas leicht geöffneten Lippen. Jetzt hat Tanner die Gewissheit, dass es sich um niemand anders als um seine ehemals sehr unscheinbare und sehr schüchterne Schulkollegin Martha Vogel handelt. Denn das stürmische und laute Intermezzo hat ihre Wangen aufs Schönste entflammt. Sicher sehr zu ihrem Leidwesen. Aber sonst! Was für eine Veränderung! Wie weggezaubert sind die leicht gebückte Haltung und die meist schräge Kopfhaltung, an die sich Tanner erinnert. Aufrecht und schlank steht sie vor ihm mit klarem Blick. Ein äußerst erstaunter, kritischer Blick.

Die kurz geschnittenen Haare bringen ihre großen Augen und ihre glatte Stirne wunderbar zur Geltung. Das Alter kann dieser Frau offensichtlich nichts anhaben.

Hallo, Tanner. Du bist doch Tanner, oder? Hat dir der Auftritt von Stettler die Sprache verschlagen. Stettler ist mein Chef. Von wegen Mädchen für alles. Er untertreibt gerne … äh, er übertreibt gerne … also ich meine …

Martha Vogel! Du …! Nicht Stettler, du hast mir die Sprache verschlagen. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Das ist ja unglaublich … also, ich meine … also, ich will sagen, du bist so …? Richtig schön bist du geworden.

Ach, jetzt hör doch auf. Fang du nicht auch noch an. Ich hasse es, wenn Männer übertreiben. Zudem werde ich immer noch rot, wie du siehst. Und das hasse ich ganz besonders. Willst du dich nicht setzen? Soll ich uns etwas bestellen? Tee? Wasser? Oder willst du ein Bier?

Sie redet ziemlich schnell, wahrscheinlich um von ihren geröteten Wangen abzulenken. Endlich legt sie den Stapel Manuskripte ab. Sie setzt sich auf ihren Tisch, verschränkt die Arme und lässt die Beine baumeln. Tanner betrachtet bewundernd ihre italienischen Schuhe mit den hohen Absätzen. Nichts mehr von knarzenden Bergschuhen.

Ja, Tanner, viel Zeit ist vergangen. Du bist ja zu keiner Klassenzusammenkunft gekommen. Der Herr Kommissar war ja immer viel zu beschäftigt. Jetzt müssen wir die geballte Ladung unserer Veränderungen auf einmal aushalten. Und dieses erschreckende Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht, als wir uns das je vorgestellt haben.

Dann lacht sie unvermittelt ein erstaunlich helles Lachen. Und lässt den Oberkörper auf ihre Schenkel fallen, umfasst mit ihren kleinen, kräftigen Händen beide Fußgelenke. Eine ganze Weile verharrt sie so, auch als das Lachen längst verstummt ist. Tanner schweigt und wartet. Nach einer kleinen Ewigkeit bäumt sich ihr Körper auf, sie springt auf die Füße und geht schnell hinter ihren Schreibtisch. Mit dem Rücken zu Tanner, reibt sie sich die Augen. Als sie sich Tanner zuwendet, schimmern sie immer noch feucht.

Also, Tanner, was verschafft mir die Ehre deines plötzlichen Besuches?

Er seufzt und schaut interessiert an die Decke. Offensichtlich hat sich Martha nach einem Moment der Rührung entschlossen, zu einer Art Förmlichkeit zurückzufinden. Er begreift erst in diesem Moment, dass er den Fall des toten Japaners nicht ansprechen kann, ohne dass offensichtlich wird, dass er selber Besucher dieses Etablissements war. Warum ihn das plötzlich stört, obwohl er sich selber kaum als prüde bezeichnen würde, ist ihm im Augenblick auch klar. Es sind die Augen und das offene Gesicht von Martha.

Tanner, ich habe dich, glaube ich, etwas gefragt. Ich habe leider heute nicht so viel Zeit.

Martha, gestern ist in dieser schönen Stadt ein Mann japanischer Herkunft in einem dieser Etablissements, die offiziell nicht existieren, in den Armen einer sehr existierenden Liebesdienerin gestorben. Die Hitze kann es nicht gewesen sein, die Räumlichkeiten verfügen über Aircondition. Außer, die junge Dame wäre zu hitzig gewesen. Ich meine, für den Herrn. Er sei allerdings ein gut trainierter Mann im besten Alter gewesen. Man hat dann die Polizei gerufen. Was ja in so einem Fall auch vernünftig und normal ist. Was eher nicht so normal scheint, ist die Tatsache, dass in eurer Zeitung nicht die kleinste Information über diese traurige Begebenheit geschrieben steht. Ist das einer ungewöhnlichen journalistischen Diskretion zu verdanken oder wisst ihr nichts davon?

Martha schaut eine Weile schweigend zum Fenster hinaus. Tanner wird in dem Augenblick bewusst, dass er während der Schulzeit vier volle Jahre auf derselben Höhe mit Martha saß, getrennt nur durch einen schmalen Gang. Wie hatte er während dieser ganzen Zeit das Profil von Martha Vogel übersehen können?

Zu seinen Gunsten sagt sich Tanner allerdings, dass er damals, wenn er sie von der Seite ansah, meistens nur zerzauste Haare sah. Heute verstellt keine einzige Haarsträhne den Blick auf die ebenmäßige Linie, die Stirn und Nasenrücken bilden. Freie Sicht auf volle Lippen und auf den frech herausfordernden Schwung der Linie, die unterhalb der Nase die Verbindung zur Oberlippe bildet. Martha blickt ihn einen Moment zögernd an. Hat sie gespürt, wie genau Tanner sie beobachtet? Sie greift energisch zum Telefonhörer. Während sie auf die Verbindung wartet, reibt sie einen imaginären Fleck auf der Tischplatte weg.

Hör mal, wisst ihr was von einem toten Ausländer …? Gestern Abend! Ja, im Milieu …! Nein? Gar nichts? Ach, ich habe nur so ein Gerücht gehört … nein, nein. Danke. War nur aus alter Gewohnheit. Ja … entschuldige die Störung. Danke. Wie? Das mit Stettler …? Das ist auch nur ein Gerücht. Und dazu noch ein ganz blödes. Vergiss es, so weit kommt es noch! Also danke.

Martha legt betont sorgfältig den Hörer auf. Während des kurzen Gesprächs hat sie sich auf ihrem Drehstuhl von Tanner weggedreht. Bei der Erwähnung von Stettler fährt sie sich durch ihr Haar, zwirbelt eine Strähne um ihre Finger und verweilt schließlich bei einem kleinen Muttermal am Hals. Dann dreht sie sich entschlossen wieder zu Tanner.

Also, du hast es ja gehört. Die wissen nichts von deinem Toten.

Tanner gibt sich Mühe, sein unschuldigstes Gesicht zu machen. Denn schon bereut er, überhaupt gefragt zu haben. Es wird ja doch nichts bringen, außer einer Reihe hartnäckiger Nachfragen. Und die, die werden kommen, wie das Amen in der Kirche. Das wäre Tanner auch klar, wenn er nicht das schelmische Funkeln in den Augen von Frau Doktor Vogel bemerken würde. Also geht er zum Angriff über …

Martha, wenn du morgen Abend mit mir essen kommst, erkläre ich dir mit allen Details, was es mit dem Toten auf sich hat und woher ich die Information habe. Was sagst du dazu?

Martha lacht auf und droht ihm mit dem Finger.

Das war jetzt sehr raffiniert. Ich gehe aber nur darauf ein, wenn du versprichst, mir auch zu erklären, was insgesamt in diesem Etablissement passiert ist und was deine Rolle dabei ist. Und zwar auch mit allen Details …

Tanner seufzt und hebt spielerisch seine Hand zum Schwur.

So, und jetzt muss ich dich rausschmeißen, auf mich wartet noch eine Menge Arbeit. Wegen unserer Verabredung, lass uns morgen noch einmal telefonieren, ja?

Ihre Umarmung zum Abschied gestaltet sich etwas linkisch, da nicht so recht klar ist, ob sie sich überhaupt umarmen oder sich nur die Hand reichen sollen. Tanner greift sich, nach einem Moment des beidseitigen Zögerns, die Hand von Martha und zieht sie vielleicht etwas zu stürmisch zu sich heran. Tanner spürt in der Umarmung ihren Körper. Es fällt ihm schwer, Martha nicht auf der Stelle zu küssen, so überwältigt ist er. Sie vermeidet es, Tanner noch einmal in die Augen zu schauen, und schiebt ihn energisch zur Tür hinaus. Dann lehnt sie sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und beißt sich heftig in einen Finger. Das allerdings kriegt Tanner nicht mehr mit.

Das Gesetz des Wassers

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