Читать книгу Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub - Страница 13

ELF

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Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern … hallo, ich bin wieder da. Ich habe jetzt die Antwort!

Der Busch, vor dem Tanner einmal mehr steht, antwortet nicht. Auch das Tonband mit den fürchterlichen Höllenhunden bleibt stumm. Gut, es ist schon ziemlich spät am Abend, aber trotzdem ist es rätselhaft. Wie kann der Mann sein Dornenreich verlassen? Abgesehen davon hatte Tanner den Eindruck gewonnen, dass der Mann wie ein Einsiedler lebt, sein Platz gar nie verlässt, nicht mehr verlassen will. Warum müsste ihn denn sonst seine Frau versorgen? Er wird es in einer Stunde noch einmal versuchen.

Tanner setzt sich in das halb leere Gartenrestaurant, das sich oberhalb der Brunnenanlage befindet, und bestellt ein Bier. Ob er Martha anrufen soll? Vielleicht besser nicht.

Beim Frühstück war sie wieder merkwürdig reserviert und zurückhaltend gewesen. Wie weggeblasen war die aufgedrehte Laune der Nacht, da sie so schön und zärtlich gesungen hatte.

Mitten in der Nacht schlich er sich zu ihrem Bett, um zu sehen, wie sie schlief. Ein Streifen milden Mondlichts fiel quer über die Bettdecke. Ihre Schultern und ein kleiner Ausschnitt ihrer Brust waren zu sehen. Tanner setzte sich behutsam auf die Bettkante. Ihr Gesicht, ohne die geöffneten großen Augen und ohne ihre lebendige Mimik, sah im Dunkel seltsam slawisch aus. Ihre Wangenknochen wirkten höher und ausgeprägter als im Tageslicht. Irgendwie katzenartig. Wie ein Wesen von einem fernen Stern. Als sie sich ihm plötzlich zudrehte, erschrak er, denn er dachte, er hätte sie geweckt. Aber sie schlief fest. Durch die Drehung gab die Bettdecke ihr linkes Bein frei, bis hinauf zu ihrem Po. Was würde passieren, wenn er sie jetzt berührte? Es kostete ihn einige Anstrengung, sie nicht anzufassen. Seine Hand fuhr bloß mit gutem Abstand über Po und Bein, um quasi in der Luft ihre schönen Linien nachzuvollziehen. Er tat dies mehrmals. Den Abstand jeweils verkleinernd, bis er die Wärme ihrer Haut zu spüren glaubte. Dabei ließ er es klugerweise bewenden und kehrte zurück zu seinem Sofa. Dort lag er dann bis am Morgen mehr oder weniger schlaflos und belauschte die Konferenz einer immensen Vogelvollversammlung.

Das Gespräch beim Frühstück bestritt Tanner praktisch allein. Martha hatte ihn nach dem Zustand von Elsie gefragt. Dies wahrscheinlich, um den Abstand zwischen ihnen zu festigen. Anfänglich erzählte er deswegen auch nur das Nötigste. In Fahrt kam er erst, als er von seinem regelmäßigen Vorlesen sprach. Elsie hatte ihm nämlich in den Tagen ihres kurzen Glücks gebeten, wenn sie einmal gemeinsam viel Zeit hätten, müsse er ihr sämtliche Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vorlesen. Zwischen ihren Liebesakten sozusagen. Sie kannte einige Geschichten von der Schule her und liebte sie sehr.

Als Tanner nun tagelang verzweifelt neben Elsie saß und irgendwann nicht mehr wusste, was er ihr erzählen sollte, denn man hatte ihm dringend empfohlen, täglich mit Elsie zu sprechen, kam ihm die Idee mit dem Vorlesen. Am Anfang fühlte er sich eigenartig verklemmt dabei, seiner Geliebten vorzulesen, die zwar atmet, aber sonst wie leblos daliegt. Aber die Ärzte meinten, man wisse eben nicht, ob jemand, der im Koma liege, nicht trotzdem alles mitbekäme. Vielleicht fände er einen Weg, in ihr Bewusstsein vorzudringen, auch wenn es sich bis auf den Meeresgrund zurückgezogen hätte.

Meeresgrund war übrigens das Wort, das Glöckchen, die jüngste Tochter von Elsie, verwendete, um sich und ihren Freundinnen den Zustand ihrer Mutter zu erklären.

So begann er dann eines Tages mit dem Vorlesen. Jeden Tag eine Geschichte. Die vergangenen Tage waren die ersten, an denen er nicht bei Elsie war. Wegen der Recherchen über seinen Großvater. Heute Vormittag hat er die Geschichte der dreihundertsten Nacht vorgelesen, das heißt einen Teil der Geschichte von Abu Mohammed, dem Faulpelz. Tanner hatte es sich angewöhnt, genau der Einteilung von Schehrezâd zu folgen, die klugerweise die Geschichten jeweils an einer spannenden Stelle unterbrach, wenn der Morgen kam, und erst in der nächsten Nacht weitererzählte. So hielt sie die Spannung auf die Fortsetzung der Geschichte über den Tag wach. Im Falle von Elsie hielt mit dieser Methode die Spannung bis zum nächsten Tag. Er hoffte es wenigstens. Denn, das war ja die schlimmste aller Ängste: eines Morgens zu kommen – und Elsie könnte nicht mehr zuhören. Insgeheim dachte und hoffte Tanner, dass eine der Geschichten so etwas wie ein Zauberschlüssel sei, der sie aus der Gefangenschaft ihres Zustandes befreien werde. Je länger er las, desto besessener war er von diesem Gedanken. Aber welche Geschichte wird es sein? Wird es morgen sein, wenn sie die Fortsetzung der Geschichte von Mohammed, dem Faulpelz hören wird? Wird es erst in vier Tagen sein, wenn es Mohammed gelingen wird, seine Geliebte aus den Händen des bösen Geistes Mârid zu befreien? Oder will sie sich sämtliche Tausendundeine Geschichten anhören? Und erst dann aufwachen? Tanner wischt diese Gedanken weg, die ihn ja sowieso nur wahnsinnig machen. Von diesen Dingen berichtete er Martha auch kein Wort.

Weißt du, Martha, zu Beginn dachte ich noch, ich würde allein wegen Elsie lesen. Jetzt brauche ich das Vorlesen genauso. Das Lesen stellt für mich mittlerweile eine Art Verbindung zu ihr her. Wenn ich nicht mehr lese, bricht diese Verbindung ab. Kannst du das verstehen? Wenn sie sich denn wirklich auf dem Meeresgrund befindet, wie Glöckchen in ihrer kindlichen Ernsthaftigkeit behauptet, so wäre das tägliche Lesen in Glöckchens Bild so etwas wie der Sauerstoffschlauch bei einem altertümlichen Taucher. Wie auch immer: Ich habe mich an das tägliche Lesen gewöhnt und bin überzeugt, dass Elsie auf ihre Art die Geschichten hört.

Für ihn selbst sind die Geschichten auf jeden Fall schon zur Medizin geworden. Denn seit er vorliest, hat sein Leben wieder einen neuen Sinn bekommen.

Die Vielfalt dieser Geschichtensammlung lässt sich in ihrer Bedeutung und Tiefe ohne weiteres mit dem gesamten Repertoire der klassischen Musik vergleichen.

Und auch die Wirkung auf mich ist ähnlich magisch, wie wenn ich klassische Musik höre.

So redete er heute Morgen drauflos und Martha nickte verständnisvoll.

An dieser Stelle seines Berichtes strich ihm Martha flüchtig übers Haar und schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, trotz ihrer morgendlichen Reserviertheit. Ansonsten hörte sie mehr oder weniger stumm zu. Er vermied es, mit irgendwelchen Fragen in sie zu dringen. Obwohl da schon einige Fragen waren, die er gerne hätte stellen wollen. Auf dem Weg in die Hauptstadt sprachen sie nur noch über belanglose Dinge.

Er setzte sie in der Nähe des Kunstmuseums ab und sie verabredeten einen Zeit- und Treffpunkt für die Rückfahrt am Nachmittag. Zurück in ihren Alltag, wie sie es nannte.

Tanner fuhr dann in die kleine Klinik, die etwas außerhalb der Stadt liegt, um Elsie vorzulesen. Sie lag da wie immer, mit leicht geöffnetem Mund, und man hatte wirklich den Eindruck, als schliefe sie. Er küsste sie lange auf den Mund, nahm ihre Hand in die seine – und begann zu lesen. Ab und zu schaute er auf, um zu sehen, ob sie vielleicht auf eine besonders schöne Stelle der Erzählung reagierte. Heute war er nicht ganz so konzentriert wie sonst. Immer wieder geriet ihm das schlafende Katzengesicht von Martha dazwischen und zugegeben: auch die sanfte Linie ihres Pos und ihres Beines. Der heutige Abschnitt war kurz. Er blieb noch eine Weile sitzen, dann verabschiedete er sich, sprach kurz mit dem jungen Arzt, der Dienst hatte. Der konnte ihm natürlich nichts Neues sagen, aber Tanner hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag mit dem Dienst habenden Arzt zu sprechen. Auch dies gehörte zum Ritual. Etwas leichter ums Herz, verließ er die Klinik.

Auf dem Weg zu seinem Mietauto rief ihn Michel an und bat dringend um ein Treffen. Sie verabredeten sich in einem Gartenrestaurant.

Michel bestellte sich zwei große Bier aufs Mal. Damit der Kellner nicht gleich wieder kommen müsse, meinte er erklärend. Tanner begnügte sich mit einem Espresso und einer Karaffe Wasser. Seit der ganzen Finidorigeschichte, oder wie Michel sie nannte: der Finidorischeiße, waren sie richtig gute Freunde geworden. Oft erschien er unangemeldet bei Tanner, dann saßen sie, wenn es das Wetter erlaubte, bis in alle Nacht draußen im Garten oder gingen runter an den See – und schwiegen. Sie konnten unglaublich gut zusammen schweigen. Oder Tanner kochte für sie.

Heute war Michel ausgesprochen gesprächig. Er berichtete Tanner über alle Details seiner Leidensgeschichte mit den Kühen. Er sprach etwas wirr von seinen Theorien, von Helikoptern und allerlei weiteren abenteuerlichen Spekulationen. Am Schluss war klar, Michel wusste nicht, wie weiter und erhoffte sich von Tanner einen Rat.

Lieber Kollege, du weißt ja genauso gut wie ich: Wenn man gar nichts in der Hand hat, bedeutet es meistens, dass man etwas übersehen hat. Oft etwas sehr nahe Liegendes. Da man dieses aber nicht auf Knopfdruck finden kann, denn es gibt ja einen Grund, warum man es nicht sieht, wenden wir uns erst einmal dem Problem des Motivs zu. Keine Tat ohne Motiv. Schon gar nicht, wenn es sich um eine wiederholte Tat handelt. Da wir also den Täter nicht kennen, müssen wir erst einmal ein überzeugendes Motiv finden. Bist du so weit einverstanden, Michel?

Er nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Da es sich in dem Fall nicht um Menschen handelt, können wir alle Motive, die sich auf die Opfer selber beziehen, ausschließen.

Ach? Wie meinst du das?

Wie ich das meine? Lieber Michel, ich glaube nicht, dass jemand eine Kuh umbringt, weil er sie persönlich hasst. Ich kann mir auch kein Eifersuchtsdrama zwischen Mensch und Kuh vorstellen oder so.

Ja, ja. Ich verstehe.

These eins: Die Kühe werden umgebracht, um den Besitzer zu schädigen.

Michel nickt.

These zwei: Darüber hinaus soll damit ein Zeichen gesetzt werden. Verstehst du, was ich meine? Es soll nicht nur in der Öffentlichkeit geschehen, es soll die Menschen auch aufregen, besser noch aufwühlen. Es soll dramatisch sein. Würde der Täter bloß jemanden schädigen wollen, könnte er doch einfach die Kühe vergiften, oder?

Das stimmt. Aber warum schneidet der Täter dann den Kühen die Ohren mit den Erkennungsnummern ab, wenn er will, dass es öffentlich wird?

Stopp, Michel! Ich habe gesagt, er möchte den Besitzer schädigen. Ich habe nicht behauptet, der Täter wolle unbedingt den Besitzer der Kühe bloßstellen. Das ist ein Unterschied.

Michel nickte, trank einen Riesenschluck Bier, rülpste und maulte irgendwas von spitzfindig. Dabei grinste er.

Wir müssen aber auch überlegen, was es bedeuten würde, wenn es der Besitzer selber wäre, der seine Kühe erschlägt, die Ohren abschneidet und sie in den See schmeißt. Was würde das für einen Sinn machen? Ich meine, abgesehen davon, dass sich mit dieser Theorie das Ohrenabschneiden relativ gut erklärt. Ich würde aber diese Gedankenspur vorläufig beiseite lassen, sie kommt mir irgendwie zu abstrus vor. Bleiben wir einmal bei These eins und zwei.

Okay, Tanner. Und wir vernachlässigen erst einmal die Frage nach dem Wie, stimmt’s?

Ja. Das Wie überlegen wir uns, wenn wir ein überzeugendes Motiv gefunden haben. Ich meine, wenn wir eine überzeugende These zu einem Motiv gefunden haben.

Dann schwiegen die beiden und beobachteten eine Gruppe japanischer Touristen, die in den Garten strömten. Wahrscheinlich waren sie gerade mit einem Bus angekommen. Michel räusperte sich, so wie er es immer tat, bevor er ein neues Thema ansprechen wollte.

Mir hat ein Japaner erzählt, dass sie so viele Fotos machen, weil sie normalerweise nur einmal im Leben nach Europa kommen. Sie werden dann innerhalb von zwei Wochen organisiert durch sämtliche Länder und Städte gekarrt. Sie könnten das alles gar nicht richtig aufnehmen. Die Fotos aber könnten sie in Ruhe noch jahrelang studieren. Und damit übrigens auch beweisen, dass sie überall gewesen sind. Deswegen stellen sie sich so gerne in den Vordergrund der Fotomotive, verstehst du das? Ich finde das lächerlich. Was ist aus dem Volk der Samurais geworden …

Tanner dachte an ganz andere Dinge. An die schöne Michiko, die er kennen gelernt hatte und die jetzt tot war. Er spürte plötzlich eine Wut in sich, die sich gestern oder vorgestern gar nicht eingestellt hatte.

Was hast du denn plötzlich, Tanner?

Nichts, nichts! Ich dachte nur gerade an eine Japanerin, die ich mal gekannt habe.

Haben die wirklich so eine kleine, äh … du weißt schon? Also, das muss ja unglaublich sein.

Michel, nicht ablenken. Wir waren bei einem möglichen Motiv. Ich sehe zwei Möglichkeiten.

Na, da bin ich ja gespannt. Dann schieß mal los, Herr Lehrer.

Entweder hat es mit den Kühen selbst zu tun oder es hat mit den Kühen nichts tun.

Ach ne. Wie meinst du das? Immerhin sind die Kühe tot.

Michel kichert wie ein Schuljunge. Tanner fährt unbeirrt fort.

Nehmen wir an, es gibt einen Wettbewerb um die besten Milchkühe.

Wenn jetzt einer die Kühe von seinem Konkurrenten erschlägt, damit seine Kühe gewinnen, dann geht es doch um die Kühe selbst. Wenn einer aber dem anderen die Kühe erschlägt, um sich zum Beispiel zu rächen, weil der andere ihn mit seiner Frau betrogen hat, dann geht es offensichtlich nicht primär um die Kuh, verstehst du? Also, was ist denn daran so komisch?

Ich lache wegen der Vorstellung, ein Gehörnter erschlägt Hornvieh, um sich zu rächen. Hornvieh erschlägt Hornvieh.

Ja, es war ja nur ein Beispiel. Mann …! Jetzt sei mal wieder ernst.

Okay! Ich habe es kapiert. Es war nur ein Beispiel. Entschuldigen Sie, Herr Professor, die Hitze …

Du hast alle Bauernhöfe im Umkreis kontrolliert, sagst du. Bist du da ganz sicher? Abgesehen davon: Deine Helikoptertheorie erweitert den Umkreis natürlich mächtig. Hast du das bedacht? Nein? Na, dann denk mal drüber nach. Gibt es hier irgendeinen Versuchshof, wo sie neue Kühe züchten oder so. Genetisch manipulierte Kühe. Einen Hof, den du übersehen hast. Vielleicht sieht er nicht aus wie ein traditioneller Bauernhof? Und noch was. Habt ihr denn die Kühe überhaupt untersucht? Wenn es Versuchstiere wären, müsste sich das doch feststellen lassen. Wenn es dann nicht der Fall ist, kannst du diese Möglichkeit ausklammern. Aber wissen muss man es. Vielleicht stellt sich doch heraus, dass es irgendein Fanatiker ist, der etwas gegen genmanipulierte Kühe hat. Man weiß ja nie. Verstehst du?

Si, Tanner. Io capito. Das sieht aber alles nach sehr viel systematischer Arbeit aus. Und das bei dieser mörderischen Hitze. Und du kennst ja meine Schwachköpfe.

Noch etwas, Michel. Ich meine, wenn ihr den Fall wirklich ernsthaft lösen wollt. Das geht jetzt allerdings wieder mehr auf das Konto der Frage nach dem Wie. Wisst ihr genau, wo die Kühe im See jeweils aufgetaucht sind, respektive, wo sie gesichtet wurden? Durch den See fließt ja der Fluss, also gibt es eine Strömung. Man könnte sich mal über diese Strömung Gedanken machen.

Wie denn? Soll ich mich ins Wasser werfen und schauen, wo es mich hintreibt?

Ja, Michel, das ist endlich mal eine gute Idee von dir. Gewicht und Volumen kommen ja auch in etwa hin …

Tanner duckte sich lachend, um dem Schlag auszuweichen, zu dem Michel, über sein ganzes Gesicht feixend, ausholen wollte.

Aber jetzt mal ernsthaft. Man könnte mit dem Strömungsverhalten zum Beispiel herausfinden, wo man eine Kuh in den See werfen muss, damit ihr Körper dort hingetrieben wird, wo die Kühe gesichtet wurden. Wer weiß, vielleicht ergeben sich dadurch neue Aspekte. Frag mal einen der Surfer, die Tag für Tag auf dem See zu sehen sind. Die kennen sich bestimmt mit den Strömungsverhältnissen aus. Möglicherweise sind die Kühe nicht mitten in den See geworfen worden, sondern da, wo der Fluss in den See fließt. Dort gibt es zum Beispiel ein Kieswerk und eine Werft. Hast du diese stillgelegten Anlagen schon einmal unter die Lupe genommen? Wenn nicht, dann weiß ich nicht, warum du immer noch hier rumsitzt.

Okay, Tanner, du hast gewonnen. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ob unser frisch gebackener Oberstaatsanwalt all diese Abklärungen genehmigen wird, wird sich herausstellen.

Sie verabschiedeten sich freundschaftlich. Und ein jeder ging seiner Wege, wie es so schön heißt.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Tanner mit dem erfolglosen Versuch, in der Fabrik, wo sein Großvater gearbeitet hatte, etwas zu erfahren. Eine aufgedonnerte Mittvierzigerin am Empfang hörte sich zwar freundlich seine Bitte an, aber weiterhelfen konnte sie ihm nicht. Von der Direktion seien alle im Ausland. Und ob die Firma über ein Archiv verfüge, könne sie im Moment leider auch nicht sagen.

Tanner seufzt und kommt zurück von seinem kleinen Erinnerungsausflug. Er trinkt sein Glas aus. Mittlerweile ist es schon knapp vor Mitternacht.

Er steht auf und legt das Geld hin. Leider muss er einige Zeit beim Brunnen warten, denn ein sehr junges Liebespaar küsst sich ausgerechnet neben dem sprechenden Busch. Der Junge hat dem Mädchen das T-Shirt hochgeschoben und massiert ihre großen Brüste, die wunderbar weiß im Schein der Laterne leuchten. Nach einer Weile hat Tanner genug und räuspert sich. Das Paar erschrickt, das Mädchen zieht schnell ihr Hemdchen wieder runter und sie eilen davon. Wahrscheinlich denken sie, er sei ein Spanner.

Na ja, wenn schon. Man hat schon Schlimmeres von mir gedacht, murmelt er.

Tanner steht vor dem Busch, zückt seine kleine Taschenlampe und versucht, in das wirre Gestrüpp zu leuchten. Sofort ertönen, diesmal sehr laut, die Hunde. Tanner löscht das Licht.

Hallo, Buschmann, ich weiß jetzt die Antwort. Hören Sie mich?

Die Hunde werden leiser gestellt.

Ich sehe dich. Her mit der Antwort.

Die Hunde werden ganz abgestellt. Man hört deutlich den Tonbandschalter.

Tanner sagt das Wort.

Stille.

Er sagt es noch einmal. Und erntet ein gehässiges Lachen.

Nein. Falsch. Falsch. Du denkst falsch. Ganz falsch. Du hast ja keine Ahnung. Glaubst du überhaupt an Gott? Los, sag!

Tanner zögert. Ist das jetzt auch eine Prüfung? Er beschließt, mit einem berühmten Zitat zu antworten. Vielleicht kommt er damit durch. Die Anrede aus dem Zitat wird er allerdings tunlichst weglassen.

Hm …also: Wer darf sagen: Ich glaub an Gott? Magst Priester oder Weise fragen, und ihre Antwort scheint nur Spott über den Frager … Ha, ha, ha! Danke für die Antwort. Ich bin aber nicht das Gretchen. Wenigstens hast du mich nicht mit Liebchen angesprochen. Du glaubst also nicht an Gott.

Der Buschmann spricht plötzlich klarer als die anderen Male. Ohne diesen aggressiven, keifenden Ton.

Sieh mal einer an, er kennt Goethe. Das ist ja ein ganz neuer Aspekt.

Entschuldigen Sie, ich wollte nicht spotten oder so. Ich finde aber wirklich, dass die Frage nicht so einfach zu beantworten ist.

Warum? Entweder du glaubst an Gott oder nicht. Was ist daran schwierig?

Also gut, wenn Sie es genau wissen wollen: An den Gott, an den man mich lehren wollte zu glauben, an den glaube ich nicht. Habe ich auch nie geglaubt. Das, woran ich jetzt glaube, ist, eh … ja, das ist nicht so leicht zu beschreiben.

Der Mann im Busch lacht meckernd.

Schmonzes … Balonzes! Alles Mumpitz. Du hast einfach Angst, wie alle, an etwas zu glauben. Und ich sage dir, ihr macht euch alle etwas vor. Bastelt an eurem eigenen Bild herum, bis es passt. Und bis alles hineinpasst, was hineinmuss. Bis es euch eben in den Kram passt. Aber damit kommt ihr nicht durch, wenn der Jüngste Tag einmal da ist, ha, ha, ha … Und was die andere Sache angeht, musst du halt morgen wiederkommen und eine neue Antwort versuchen. Und jetzt verschwinde! Ich habe zu tun.

Stille. Nicht einmal ein Rascheln ist zu hören.

Ich habe zu tun? Was hat er denn in seinem Busch zu tun?

Tanner ist aber klar, dass die Sitzung für heute zu Ende ist. Dafür war die Ansage aus dem Busch zu kategorisch.

Das Gesetz des Wassers

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