Читать книгу Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub - Страница 12

ZEHN

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Serge Michel sitzt in seinem klimatisierten Dienstwagen und kaut lustlos an einem mächtigen Spezialsandwich, das die Vermieterin des trostlosen Appartements, das er seit Jahren bewohnt, fachgerecht für ihn zubereitet hat. Fachgerecht im Michel’schen Sinne. Das macht sie jeden Tag.

Für das Sandwich nimmt sie eines jener unglaublich knusprigen Halbweißbrote, ein halbes Kilo schwer, schneidet es mit ihrem scharfen Sägemesser einmal quer durch, bestreicht die aufgeschnittenen Brotteile dick mit Butter, die sie sich bei dem Bauern um die Ecke besorgt. Auf die Butter kommt eine dicke Lage Senf. Ein viertel Glas geht dabei spielend drauf. Dann kommen verschiedene Lagen Fleisch und Gemüse. Auf die glatte Senfpiste kommt erst einmal eine ebenso glatte Schicht fein geschnittener, gekochter Schinken. Dann eine Lage Speckstreifen, und zwar in krauser, aufgelockerter Form, nicht glatt hingelegt. Auf den Speck kommt je nach Jahreszeit eine Lage frische Tomaten, gebratene Auberginen, gedämpfte Peperoni oder in Gottes Namen halt sonst ein Gemüse, das die Frau vielleicht noch vom Mittagessen des Vortages übrig hat. Nur jede Art von Kohl hat sich der gute Michel verbeten. Und keine Gurken. Michel hasst Gurken. Auf das möglichst farbige Gemüsebeet oben drauf – quasi als innerster Kern des Sandwichs – wird gebratenes Fleisch gebettet. Wiener Schnitzel hat er am liebsten. Es darf ab und zu auch einmal das ausgelöste Fleisch eines gebratenen Huhns sein. Auf diese innerste Fleischschicht kommt dann in umgekehrter Reihenfolge wieder Gemüse, Speck, Schinken. Am Schluss die zweite mit Butter und Senf bestrichene Brothälfte. Symmetrie ist alles.

Dass er lustlos isst, kommt bei dem kolossalen Vielfraß Serge Michel im Schnitt erwiesenermaßen höchstens alle zehn Jahre einmal vor. Jetzt ist die Statistik allerdings ins Wanken geraten, denn vor zwei Wochen ist es schon einmal vorgekommen. An dem Tag nämlich, als ihn seine Geliebte mit den Worten verließ, sie könne leider nicht mit einem Polizisten zusammen sein. Es sei für sie ganz und gar unmöglich, da sie nämlich jeden Tag vor Angst um ihn fast sterben müsse. Sie würde das bei aller Liebe und trotz allnächtlicher sexueller Ekstase, was sie so noch nie erlebt habe – wie auch, sie war ja noch Jungfrau, als sie den dicken Michel kennen lernte – einfach nicht aushalten. Er sei ja als Polizist mit dem Abschaum der Menschheit konfrontiert und ständig in Gefahr. Außerdem wolle sie Kinder, und das ginge nun partout nicht, nein, nein. Ein Vater, der ständig in Gefahr sei. Kinder, die mit einem Bein schon im Waisengrab stehen. Nein, nein, nein!

Sie war nicht zu bremsen, waren ihre Bilder und Beispiele auch noch so abstrus. Wie ein steter Lavafluss strömten ihre Argumente. Jedes, das Michel widerlegte, gebar sieben neue. Er mühte sich ab, erklärte, beschwor, flehte auf Knien und weinte. In den letzten Nächten ihres Beisammenseins steigerte er seine Bemühungen um ihre sexuelle Befriedigung ins schier Übermenschliche. Sie bebte und zitterte vor Lust. Ihr weißer Leib glühte vor angeheiztem Verlangen. Die pralle und an köstlich steil aufragenden Erhebungen, Spalten und Ausbuchtungen so reich gesegnete Topographie ihres Fleisches wurde von Michels Händen derart bearbeitet, als gälte es, sie neu zu formen. Die Wellen ihrer Wollust nahmen geradezu beängstigende Formen an, quasi tsunamihafte Ausmaße. Er sah nach diesen Tagen seines erbitterten Kampfes aus, als hätte er ganz allein noch einmal die blutige Schlacht von Solferino geschlagen. Und verloren.

Eines Morgens war das Bett neben ihm leer und im Badezimmer waren alle ihre Sachen weg. All die Fläschchen, Döschen und sonstigen geheimnisvollen Gerätschaften, die eine Frau braucht, die sich an den Schimären der illustrierten Hefte orientiert – alles war verschwunden. An diesem Tag hat Michel wirklich wenig gegessen und das Wenige lustlos.

Heute allerdings will sich der übliche Heißhunger aus einem anderen Grund nicht einstellen. Die dritte erschlagene Kuh ist im See gefunden worden. Und er hat immer noch nicht den geringsten Hinweis in der Hand. Nicht das leiseste Anzeichen von einer Spur. Es ist zum Davonlaufen. Auch die Laune des Herrn Oberstaatsanwalt verschlechtert sich von Tag zu Tag. Tote Kühe im See machen sich irgendwie nicht besonders gut. Die Hotels am See klagen schon über sinkende Bettenbelegungen.

Zu allem Überfluss hat sich das Wasser des Sees über weite Flächen in tiefrotes Blut verwandelt. Da die farbliche Verwandlung zeitlich hinterlistig exakt nach dem Auftauchen der ersten erschlagenen Kuh begann, verbindet die einfache Volksseele das rote Wasser mit den toten Kühen. Dass es sich um eine explosionsartige Vermehrung der so genannten Blutalgen handelt, ein Phänomen, das sich in diesem See alle paar Jahre wiederholt, kann nichts an der Penetranz ändern, mit der eine gewisse Presse genüsslich einen Zusammenhang mit dem Blut der Kühe suggeriert, lechzend und bereitwillig aufgenommen von einer sensationslüsternen Bevölkerung. Normalerweise ergötzte sich der Volksmund an der Verbindung zu den in diesem See kurz nach Pfingsten 1476 abgeschlachteten Burgundern. Wenn sich also alle paar Jahre der See rot färbte, sprach man mit angenehmem Schaudern vom Burgunderblut.

Michels Auto steht ganz oben auf dem sanften Hügel. Weit unterhalb liegt der blutrote See. Wer um Gottes willen erschlägt wehrlose Kühe? Und mit so ungeheurer Gewalt? Um einen massigen Kuhschädel derart zu zertrümmern, muss einer schon mit einem riesigen Bauhammer mit ungeheurer Kraft zuschlagen. Muss mit einem langstieligen Hammer ausholen wie der Waldschrat mit der Riesenaxt auf dem berühmten Bild. Im Moment des Ausholens muss die Kuh den Täter mit ihren großen, sanften, ja zärtlichen Augen angeschaut haben, denn die Schläge sind genau frontal geführt worden. So viel hat die Gerichtsmedizin in ihrem kurzen Bericht geschrieben. Und das Motiv? Niemand hatte eine brauchbare Vorstellung davon. Sein Freund Tanner würde jetzt sicher Shakespeare zitieren. Ein Königreich für ein Motiv oder so.

Michel schüttelt sich vor Abscheu, legt sein Sandwich kurz auf den Beifahrersitz und betet die Kette seiner Lieblingsflüche herunter. Während der nicht enden wollenden Reihe angelt er sich, ohne hinzugucken, vom Hintersitz den Flachmann, den er dort für Notfälle bereithält, schraubt mechanisch den Deckel auf und leert ihn in einem Zug, so groß ist schließlich seine Not. In letzter Zeit häufen sich allerdings die Notfälle bedenklich, das muss sich Michel selber eingestehen. Wenigstens in hellen Momenten. Jedes Mal, wenn Michel den Flachmann geleert hat, beschließt er aufs Neue, ihn beim nächsten Mal wegzuschmeißen. Allerdings erst beim nächsten Mal. Schließlich hat ihm der kleine Schluck richtig gut getan. Er gibt sich einen Ruck, greift erneut nach seinem Brot, nimmt einen kräftigen Biss und während er kaut, schreibt er auf seinen bereitgelegten Notizblock.

In einer Spalte notiert er in Stichworten die Dinge, die er bereits geklärt hat. Zum Beispiel hat er mit seiner ganzen Mannschaft systematisch die Bauernhöfe abgeklappert, die direkt um den See herum liegen. Fazit: Kein einziger Bauer vermisst eine Kuh. Und schon gar nicht drei. Und bei keinem ist irgendetwas Verdächtiges gefunden worden. Weder ein mit Blut verschmierter Hammer noch abgeschnittene Ohren. Auch keine gelben Ohrenmarken mit Registrierungsnummern. Die Abklärung betreffend der Rasse hat auch nur ergeben, dass praktisch die meisten Bauern in der Gegend genau diese Art Kühe in ihren Ställen haben. Er kam sich schon ziemlich merkwürdig vor, bei den Bauern die Fotos der toten Kühe rumzuzeigen und sie ernsthaft zu fragen, ob sie eine dieser Kühe kennen. Die meisten Bauern taten ihm zwar den Gefallen und betrachteten lange und ernsthaft die Bilder, aber keiner konnte zu den Kühen etwas sagen. Hinter seinem Rücken hörte er sie dann lachen.

Er hat Thommen und Lerch in das zentrale Registeramt geschickt, in dem über sämtliche Kühe des Landes Buch geführt wird. Sie sollen die Listen, die ihm jeder einzelne Bauer übergeben musste, mit den Eintragungen im Amt vergleichen. Viel wird da nicht herausschauen, das weiß Michel schon jetzt. Aber so ist er wenigstens seine Mitarbeiter für ein paar Stunden los, deren Anwesenheit er im Moment schlecht erträgt. Und er muss sich nicht ihre dummen Vorschläge zu diesem dummen Fall anhören, in dem er feststeckt wie ein Schuh in der Kuhscheiße. Das letzte Wort wiederholt er einige Male laut vor sich hin. Sehr laut.

Auf der gleißenden Goldfläche entdeckt er jetzt ein Boot. Von hier oben sieht es winzig aus und die blutrote Wasserfläche reflektiert so stark, dass er nur mutmaßen kann, ob es sich um eines der kleinen Kursschiffe handelt oder um eine private Yacht. Wahrscheinlich um ein Kursschiff, denn wer würde freiwillig bei dieser Hitze aufs Wasser fahren, zumal absolute Windstille herrscht. Ihn würden sowieso keine zehn Pferde auf so ein schwankendes Schiff bringen, egal ob mit Wind oder ohne. Die feste Erde unter den Füßen ist ihm da tausendmal lieber. Überhaupt diese verfluchte Sucht alles zu befahren, alles zu besteigen, in alles hineinzukriechen, zu fliegen, zu tauchen … die Menschen spinnen doch. Hat er nicht letzthin in einem sehr weisen Buch gelesen, dessen pessimistische Grundhaltung gerade so recht seiner eigenen Lebenssituation entsprach, dass alles Unglück in dem Augenblick beginnt, da man sich entschließt, sein Bett zu verlassen, statt sich die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen?

Er wäre heute Morgen auch besser im Bett geblieben.

Dies ist nicht mein Tag, sagt er leise und greift nach dem Zündschlüssel. Da entdeckt er am südwestlichen Horizont einen winzigen Punkt am Himmel, der sich erstaunlich schnell vergrößert. Er zögert mit dem Starten des Motors.

Es ist ein Helikopter. Der Pilot nimmt offensichtlich Kurs auf den See. Jetzt kann man sehen, dass der Helikopter an einem langen Seil irgendeinen Gegenstand transportiert. Der Helikopter hat mittler-weile die Mitte des Sees erreicht und geht zügig tiefer, auf die Wasseroberfläche zu. Michel lehnt sich zurück.

Was zum Teufel? Was treibt der denn?

Einen Augenblick später begreift er, dass das nicht irgendein Behälter ist, der da unter dem Helikopter hängt, sondern dass es sich um eine Art überdimensionierten Wassereimer handelt, der jetzt eben ins Wasser getaucht und gefüllt wird. Da wird Michel klar, dass der Helikopter hier Wasser holt, um ein Feuer zu löschen. Und tatsächlich hat er im Radio gehört, dass weiter unten im Welschland ein Wald brennt.

Na ja, kein Wunder bei der Hitze.

Er dreht entschlossen den Zündschlüssel.

Im Moment, da er den ersten Gang einlegt, kommt ihm der Gedanke. Vor Schreck lässt er die Kupplung zu schnell los und würgt den Motor ab.

Scheiße! Mit dem Helikopter! Auweia, das ist die Lösung! Die haben die Kühe mit dem Helikopter transportiert! Oder?

Da ihm niemand antwortet, wischt er sich mit einer seiner heiß geliebten Windeln den Schweiß vom Gesicht und nickt dabei heftig mit dem Kopf, als ob er sich in einem lächerlichen Rollenspiel selber eine Bestätigung geben möchte.

An den erschlagenen Kühen hatte man nämlich keinerlei Schleifspuren entdeckt, was bislang rätselhaft war. Denn wären die Kühe mittels der gängigen Transportmöglichkeiten, die – sagen wir mal – einem gewöhnlichen Bauern zur Verfügung stehen, transportiert worden, ginge so ein Transport vom Tatort bis zum See ganz sicher nicht ohne Schleif- und Kratzspuren ab. Aber mit einem Helikopter sieht die Sache ganz anders aus. Die Kuh wird auf ein am Boden ausgebreitetes Transportnetz geführt, dort erschlagen und das Netz wird samt Inhalt an den Helikopter gehängt.

Nachtflug zum See … ausklinken … wegfliegen … und fertig ist die Lauge! Das Letzte spricht Michel EINS wieder laut, worauf Michel ZWEI erneut energisch nickt.

Oh, jetzt krieg ich euch, ihr Schweine. Ihr verfluchten Kuhmörder. Ihr Schweine, ihr.

Wieder dreht Michel den Schlüssel, gibt aber vor Aufregung zu viel Gas – und der Motor säuft ab. Nach mehreren erneuten Startversuchen ist die Batterie am Ende, denn der gute Michel hat viel zu lange bei ausgeschaltetem Motor die Klimaanlage laufen lassen. Die Flüche, die jetzt erklingen, hört zum Glück niemand, denn auf die Anhöhe, wo das Michel’sche Auto steht, verirren sich Ausflügler höchstens an Wochenenden.

Was jetzt folgt, hasst Michel am allermeisten. Er muss einen seiner Blödmänner anrufen und um Hilfe bitten. Lerch oder Thommen – je nachdem, wer zufälligerweise sein Mobiltelefon gerade einmal nicht vergessen hat. Schwer seufzend greift er nach seinem. Im Moment, da seine Hand in die Leere greift, fährt ihm die Erkenntnis wie ein heißer Strahl ins Hirn, dass er das Telefon in seiner Wohnung hat liegen lassen. Angeschlossen an den Stromkreis seines kleinen Appartements, da er beim Aufstehen erst bemerkt hatte, dass der Akku leer war.

Wäre ich nur im Bett geblieben … quod erat demonstrandum!

Das Gesetz des Wassers

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