Читать книгу Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub - Страница 7

FÜNF

Оглавление

Erst als Tanner und Bruckner sich über dieses unglaubliche tiramisù vom alten Italiener hermachen, das noch immer das beste ist, was Tanner je gegessen hat, und zwar inklusive aller intensiver Feldforschungen zu diesem Thema in Italien, erzählt er seinem Freund von der Begegnung mit Martha Vogel. Bruckner, als er den Namen Martha hört, zaubert dieses besondere Lächeln auf seine Lippen, das Tanner seit jeher bewundert und das ihn gleichzeitig befremdet hat. Eine Mischung aus Wohlwollen und Amüsement, bei der man nie weiß, ob er sich über den Gegenstand oder über sein Gegenüber lustig macht. Oder über sich selbst? Lächeln als Selbstschutz?

Tanner wollte gleich, als sie sich getroffen haben, von Martha erzählen. Er hat sich dann aber doch beherrschen können, zumal er erst einmal die Begegnung mit Bruckner verkraften musste. Bruckner ist zwar älter geworden, aber in seinem äußeren Erscheinungsbild hat sich praktisch nichts verändert. Und das irritierte Tanner ziemlich. Ein schlanker, großer, äußerst attraktiver Mann, dessen Alter erst aus nächster Nähe abzuschätzen ist. Er trägt exakt dieselbe Frisur wie früher, außer dass sich an den Schläfen ein paar silberne Haare zeigen. Seine roten Haare waren schon immer, Tag für Tag, scheinbar gleich lang gewesen. Bei anderen Menschen sieht man, wenn sie ihre Haare geschnitten haben. Bei Bruckner sah man das nie. Die Kleidung ist wie eh und je perfekt. Und teuer. Klassisches englisches Understatement. Damit fiel Bruckner früher in der Schule natürlich auf, weil er einfach zu jung für diesen Stil war. Jetzt nicht mehr. Bruckner ist quasi in seinen schon früh gewählten Stil hineingewachsen. Er trug früher natürlich nur zu bestimmten Anlässen Anzüge. Im normalen Alltag sah man ihn immer in diesen feinen englischen Hemden, in Kaschmirpullovern und Pullundern, in Wollhosen mit Bügelfalten und Tweedjacken mit den lederverstärkten Ellbogen. Und das in einer Zeit, in der die anderen um nichts in der Welt auf ihre Jeans verzichtet hätten.

Bei der Begrüßung vor gut einer Stunde haben sie sich zu einer herzlichen Umarmung hinreißen lassen. So etwas wäre früher selbstverständlich nie vorgekommen. Im Gegenteil, sie hatten damals beide mit großem Spaß an ihren betont kühlen Umgangsformen herumgefeilt. Hatten sozusagen ihre Beziehung wie ein kleines Kunstwerk ständig inszeniert und verfeinert. Sehr zum Ärger ihrer Klassenkollegen, die einfach nie herausfanden, ob Tanner und Bruckner das ernst meinten oder sich auf Kosten der anderen einen Spaß erlaubten. Wussten sie es selber?

Bruckner hat denselben Tisch reservieren lassen, an dem sie früher gemeinsam viele Stunden verbracht hatten. Und er stellte wie immer das Menu zusammen und schaute nur am Ende der Bestellung Tanner fragend an. Dieser nickte bloß, auch wie immer, und so wurde die umfangreiche Bestellung in die Küche weitergeleitet. Bis der cinque terre bianco, dieser gar nicht so leichte, bernsteinfarbige Weißwein aus Ligurien auf den Tisch kam, der schon immer den Auftakt zu ihren kleinen Gelagen gebildet hatte, sprachen sie kein Wort. Auch dies eine Sitte, die sich die beiden von früher gemerkt hatten.

Als sie schweigend dasaßen, schoss Tanner ein verrückter Gedanke durch den Kopf. Waren die verflossenen Jahre wirklich real gewesen? Die Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, kam ihm plötzlich bloß wie eine kleine Unterbrechung vor. Zum Beispiel so lange, wie es braucht, um auf die Toilette zu gehen. Diese Erkenntnis traf ihn so unvermittelt, dass ihm schwindlig wurde. Er wusste zwar, dass er am Tisch saß, fühlte sich aber plötzlich wie losgelöst von allem. Vom Körperlichen. Vom Stofflichen. Wie frei schwebend. Oder besser noch: frei fallend.

Tanner fragte sich, während er schweigend am Tisch saß, worin eigentlich der Unterschied im Erleben eines Traumes und eines Ereignisses in der alltäglichen Wirklichkeit bestand. Dass man beim Träumen wieder in einer anderen Wirklichkeit aufwachte? Aber wie unterschied sich im Rückblick, in der Erinnerung, Geträumtes und Erlebtes?

Träumen Sie, Tanner? Nein? Worauf sollen wir denn unser Glas erheben? Auf unser Wiedersehen? Das wäre ein bisschen einfallslos, oder?

Bruckner hatte ihm von dem köstlichen Wein eingeschenkt und sein Glas zum Toast erhoben. Tanner überlegte einen Augenblick, dann blickte er Bruckner lächelnd an.

Ich würde vorschlagen, dass wir uns endlich du sagen und damit sozusagen ein Zeichen für eine neue Etappe unserer Freundschaft setzen. Was halten Sie davon, Herr Bruckner?

Herr Tanner, Sie versetzen mich doch immer wieder in Erstaunen! Aber vielleicht haben Sie Recht! Also, ich bin einverstanden. Ich heiße Richard … ha … ha …

Nun überkam Bruckner ein so befreiendes Lachen, dass sich auch Tanner ihm nicht entziehen konnte, zumal auch er ganz förmlich ankündigte, er heiße Simon. Erst nach einiger Zeit hatten sie sich so weit beruhigt, dass sie einen Schluck aus ihren Weingläsern trinken konnten. Mit ihrem Lachen hatte sich einiges von der Nervosität gelöst, die beide natürlich nicht wahrhaben wollten. Immerhin hatten sie sich gut dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Warum eigentlich?

Als drei Kellner gleichzeitig aufkreuzten, beladen mit vielen kleinen Platten, Tellern und Schüsselchen, schob Tanner die Fragen erst einmal beiseite.

Die drei Kellner, jeder traditionell in schwarzer Hose, weißem Hemd mit diskret farbiger Krawatte und weißer, gestärkter Kellnerjacke gekleidet, bildeten das perfekte Komikertrio. Wie aus einem alten Schwarzweißfilm. Ein großer Dünner unbestimmten Alters, mit messerscharfem Oberlippenbart, offensichtlich der Chef des Trios; dann ein ganz Kleiner, der das unverzichtbare Dummerle wäre und bei einem Banküberfall höchstens Schmiere stehen und auch dann noch versagen und alle drei ins Unglück stürzen würde; als Dritter im Bund der obligate Dicke, der natürlich in seiner Jugendzeit keine Turnstange hochkam, dafür schon damals die ganze Klasse zum Lachen brachte, indem er sämtliche Lehrer perfekt imitieren konnte. Ein Team, das mit betont ernsten Mienen und elegant eingespielten Bewegungsabläufen dem Gast das Gefühl vermittelt, es gäbe im Moment nichts Wichtigeres auf der Welt als seine Zufriedenheit. Also kurzum, die letzten drei Vertreter einer ausgestorbenen Spezies.

Bruckner und Tanner fühlten sich sauwohl.

Während sie die reichhaltigen antipasti aßen, bestehend aus insalata di mare mit seppie, polpi e vongole, flankiert von übervollen Tellerchen mit prosciutto, fave e fichi mit ravanelli con tonno, diesen herrlich erfrischenden Radieschen mit Thunfisch und dem köstlich duftenden Weißbrot, berichtete Bruckner über sein berufliches Leben. Tanner wäre überrascht gewesen, hätte sein Freund mit dem Privatleben angefangen.

Bruckner arbeitete tatsächlich immer noch bei derselben Großbank, bei der sicher die Hälfte der Bürger dieses Landes ihr Geld lagern, in der Hoffnung, dass es sich fröhlich vermehren werde. Was es auch lange Zeit getan hatte. Das böse Erwachen angesichts der großen Geldvernichtung begann ja erst vor wenigen Jahren. Dafür umso heftiger und nachhaltiger. Bruckner erzählte, dass er mittlerweile die Kontrolle über das gesamte Kulturbudget der Bank habe. Diese Tatsache kommentierte er mit einem äußerst schiefen Lächeln, er habe ja Gott sei Dank nichts mit der schmutzigen Seite des Geldgeschäftes zu tun. Er verwalte und verteile das gute Geld seiner Bank. Das Alibigeld.

Tanner versuchte, matt zu protestieren, indem er von dem einen oder anderen Reichen mit echtem Kunstverstand erzählen wollte. Zum Beispiel habe es diesen Direktor des einen Chemiewerkes gegeben. Dieser knallharte Manager sei ja gleichzeitig Präsident der schweizerischen anthroposophischen Gesellschaft gewesen. Und nicht nur pro forma, sondern der sei wirklich ein Mann des Geistes gewesen. Bei dem Spagat zwischen Beruf und Neigung zwar offensichtlich schizophren veranlagt, aber immerhin.

Ach, hör auf, Simon, komm mir nicht mit einem einzigen, noch dazu mehr als obskuren Beispiel, unterbrach ihn Bruckner lachend und schenkte beide Gläser randvoll, ich habe seit fünfundzwanzig Jahren mit der ganzen Bande zu tun. Es ist allein die Geldgier und Sucht nach immer mehr Macht. Die treibt die Herrschaften an. Und ab und zu verordnet ein gewisser verinnerlichter Mechanismus eine kleine Schamspende an die Kultur. Auch wenn es manchmal große Beträge sind, so scheinen sie doch nur dem Normalverbraucher groß. Für die selber sind das Peanuts.

Bruckner unterbrach die Rede über sein offensichtliches Lieblingsthema, denn das Trio räumte in atemberaubender Choreographie die leeren Teller und Schälchen ab und zauberte neues Besteck für den nächsten Gang hervor. Als sie wieder weg waren, beugte sich Bruckner über den Tisch und in seinen Augen glimmte dieses eindringliche Leuchten, das Tanner schon früher ab und zu bemerkt hatte. Zum Beispiel, wenn er sich von einem der Lehrer ungerecht behandelt vorkam. Wenn es passierte, überkam ihn ein leichtes Zittern, als ob sein Körper fröstelte, und dieses seltsame Leuchten erschien in seinen Augen. Er fixierte dann den Lehrer, sagte aber nie ein Wort. Heute kommt es Tanner vor, als sei dieses Leuchten ein intensiver Abglanz eines ziemlich großen, inneren Feuers, das hinter der kühlen und kultivierten Maske seines Freundes brennt.

Mein größtes Vergnügen besteht darin, das Geld in Projekte zu stecken, die den innersten Interessen meiner Bank möglichst diametral entgegenstehen. Und meine Chefs merken es nicht einmal, solange ich zur Verschleierung dieser Politik immer genügend konventionelle Projekte unterstütze. Mäzenatentum ist wie eine Art modernes Ablassgeschäft. Mit so und so viel Geld, das sie in die Kultur stecken, also in etwas, das aus dem Blickwinkel ihrer Geschäfts- und Geldwelt völlig nutzlos ist, dürfen sie dann wieder eine bestimmte Menge an Dreckgeschäften machen. Die Kunst besteht darin, das alles immer schön in einer gewissen Balance zu halten. Du musst ihnen nur mit allen Mitteln suggerieren, dass es sich um hohe und wichtige, ja besser noch, um unbequeme Kultur handelt, dann erhöht das den Ablasswert, verstehst du?

Die drei Kellner brachten die unverzichtbare pasta, einen neu gefüllten Brotkorb und den köstlichen montepulciano. Bruckner hatte sich heute für Spaghetti alla puttanesca entschieden, eine Spezialität aus den Abruzzen, mit schwarzen Oliven, Sardellen, viel Knoblauch und mindestens noch einem Geheimnis. Eine brisante Mischung, die ihrem Namen mehr als gerecht wird. Nach den ersten Bissen stößt nämlich der Italienliebhaber einen Satz aus, in dem mindestens dreimal das Wort putta vorkommt und ebenso oft madre, und das Ganze mit Vorliebe gen Himmel, während die Hände verzweifelt nach dem Brotkorb tasten. Und wehe, der Brotkorb ist leer …

Die Mahlzeit zum Thema, grinste Bruckner und verschluckte sich fast vor diebischer Freude an seiner These, dass die einen das Geld immer schön am Rande der Legalität entlangscheffeln und die anderen ihnen Absolution verschaffen, indem sie ihnen zeigen, wie sie es sinnvoll ausgeben können. Huren sind wir alle … oh, ist das scharf … madre di …

Seine Worte endeten in einem regelrechten suffocato, und nur das Stück Brot, das Tanner ihm reichte, konnte ihn vor dem sicheren Erstickungstod erretten. Nachdem Bruckner sich erholte hatte und die Tränen getrocknet waren, die ihm die Schärfe des Essens in die Augen getrieben hatte – oder war’s das Vergnügen am Thema? –, meinte er ernsthaft, dass ihm sein Beruf große Freude mache. Da er schon immer gewusst habe, dass er selber über keinerlei künstlerische Fähigkeiten verfüge, sich aber immer leidenschaftlich zur Kunst hingezogen fühlte, sei das für ihn genau die richtige Beschäftigung. Er vermittle zwischen teilweise ignoranten, aber reichen Kulturbanausen und Künstlern, die er, Bruckner, für unterstützungswürdig befinde.

Dann meinte Bruckner unvermittelt, er habe fürs Erste genug erzählt. Jetzt sei Tanner an der Reihe. Bruckner legte prophylaktisch ein Stück Brot neben seinen Teller und drehte sich geschickt eine nächste Portion Spaghetti auf die Gabel. Er tat dies sehr kunstvoll und brauchte dazu auch keinen Löffel. Tanner schwieg, trotz der Aufforderung zu erzählen. Bis Bruckner ihn verwundert ansah.

Ja, Richard, eh … bei mir ist das leider nicht so einfach. Einen Beruf habe ich im Augenblick keinen mehr. Oder sagen wir, ich habe keine Stelle. Will auch keine mehr. Oder wenigstens im Moment nicht. Du siehst, ich stottere. Mh … also, ich war ja lange im Ausland, in Marokko, und das endete leider äußerst … sagen wir mal unglücklich. Nein, unglücklich stimmt nicht, es endete desaströs. Ich kam auf Umwegen in die Schweiz, verfolgte den Fall, um dessentwillen ich aus Marokko geschmissen worden war, in der Schweiz. Ich fand sogar den Mörder. Aber um welchen Preis … verfluchte Schei …

Tanner brach abrupt seinen wirren Bericht ab und legte beide Hände auf sein Gesicht. Bruckner legte seine Gabel behutsam auf den Teller. Erzähl mir das alles später, wenn du magst. Jetzt sag mir doch einmal, was dich in unsere schöne Stadt treibt, die du vor dreißig Jahren fluchtartig verlassen hast und seither gemieden hast, als drohte sich das Erdbeben vom Jahre 1356 zu wiederholen. Sollen wir übrigens auf den nächsten Gang verzichten? Es ist einfach zu heiß, oder? Ich gehe schnell in die Küche und kläre das.

Er warf die Serviette auf den Tisch, sprang auf und verschwand in Richtung Küche.

Diskretion und Takt waren schon immer die großen Stärken von Bruckner gewesen. Auch darin haben sie sich ergänzt, wenn man das ergänzen nennen kann. Das waren ja nun noch nie Tanners Stärken. Im Gegenteil: Bitte, wo geht’s zum nächsten Fettnäpfchen?

Tanner war Bruckner dankbar, dass er ihn alleine am Tisch ließ. Er war von seinem eigenen Gefühlsausbruch völlig überrumpelt. Vielleicht war es die Hitze. Oder weil er den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Oder die unvermittelte Begegnung mit seiner Jugendzeit.

Sein Körper zitterte, als ob er fröre. Er spürte aber keine Kälte. Eigentlich spürte er überhaupt nichts. Er hatte nur das Gefühl, unvermittelt in ein großes Loch gefallen zu sein, in dem es keine Geräusche mehr gab. Obwohl er doch mitten in einem Restaurant saß und Menschen um ihn herum waren. Er sah ihre Münder. Sie bewegten sich. Aber er konnte nichts hören. Als ob sich über ihn ein akustisch toter Raum gestülpt hätte. In seinem Innersten zog sich etwas zusammen, wurde immer kleiner, bis es ganz klein war. Etwas, das gleichzeitig sehr schwer, sehr heiß und äußerst schmerzhaft war.

Wenn das jetzt nicht aufhört, schreie ich, hämmerte es in seinem Schädel. Im Moment, wo Tanner glaubte, er würde es nicht mehr ertragen, gab es in seinem Innersten plötzlich ein Geräusch. Eine Art plop. Ein ganz und gar banales Geräusch, für das sich Tanner insgeheim schämte, obwohl er nicht wusste, weshalb. Aber immerhin löste sich Tanners innerer Krampf so schnell, wie er gekommen war. Er holte tief Atem.

So viel zum Thema, ob die vergangene Zeit real gewesen ist. Und zur Frage, was denn der Unterschied zwischen Leben und Traum sei …!

Ach gut, du lachst ja wieder, Tanner. Eh … ich meine, Simon.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass Bruckner zurückgekommen war. Tatsächlich lachte er. Auch das bemerkte er erst, als Bruckner ihn darauf ansprach. Warum er lachte, war ihm nicht bewusst.

Tut mir Leid, Richard. Ich hoffe, ich habe dir unser gemeinsames Essen nicht verdorben.

Bruckner winkte ab und lächelte ihn aufmunternd zu.

Ich bin in dieser Stadt, weil ich auf der Suche nach der Geschichte meines Großvaters bin. Ich weiß nicht, ob ich dir früher mal von ihm erzählt habe? Ich habe ihn natürlich nicht gekannt. Es hieß in unserer Familie, dass er verschollen sei. Einfach verschwunden. Er hat sich irgendwie in Luft aufgelöst. Es wurde früher kaum darüber gesprochen.

Das Wort verschollen besaß für mich lange Zeit eine gewisse Magie, wie du dir sicher vorstellen kannst. Bis meine Mutter – übrigens bei der Beerdigung meines Vaters – eine merkwürdige Bemerkung über ihren Vater machte, also über meinen verschollenen Großvater Land. Da begann ich zu ahnen, dass sich hinter dem Wort wahrscheinlich nichts Magisches und auch nichts Poetisches versteckt.

Tanner berichtete von den mageren Resultaten seiner bisherigen Recherche. Bruckner anerbot sich sofort, Tanner zu helfen. Er kenne in dieser Stadt schließlich Gott und die Welt. Beim Stichwort Gott erschien das Kellnertrio und zelebrierte die Ankunft, besser gesagt, die Niederkunft der göttlichen Nachspeise. Dann stellten sich die drei zum Gruppenfoto in taktvollem Abstand zum Tisch und warteten auf die Reaktion ihrer Gäste, ganz wie Mütter sehnsuchtsvoll auf das Bäuerchen ihres Babys warten. Bruckner vollzog mit seinem Löffel, stellvertretend für beide, den ersten Spatenstich ins tiramisù. Schon die Konsistenz, spürbar beim Einstechen mit dem silbernen Löffel in die Masse, verführte Bruckner zu einem leisen Seufzer, den die drei mit einem wissenden Lächeln quittierten. Bruckner führte den vollen Löffel zu seinem Mund, roch plötzlich kritisch an der Ladung und – verzog das Gesicht. Die Kellner schlugen voller Entsetzen die Hände vors Gesicht. Daraufhin lachte Bruckner, steckte sich den Löffel in den Mund und stöhnte voll demonstrativem Entzücken. Die zwei Klügeren vom Trio begriffen sofort, dass sie hereingelegt worden waren, und lachten erleichtert auf, obwohl sie es trotzdem für ein Sakrileg hielten. Man spielt nicht mit dem Essen, und schon gar nicht mit den sensiblen Seelen von Kellnern. Dem dritten mussten sie die Sache auf dem Weg in die Küche erklären.

Jetzt essen sie beide schweigend von der köstlichen Nachspeise. Dann endlich erlaubt sich Tanner seinem Schulfreund von der Begegnung mit ihrer gemeinsamen Schulkollegin Martha Vogel zu berichten. Und Bruckner lächelt sein Lächeln. Nachdem Tanner seine Eindrücke ausführlich geschildert hat, lächelt Bruckner noch immer. Früher hätte ich gesagt, der Befund ist eindeutig. Du hast dich auf der Stelle verliebt. Ich weiß natürlich nicht, ob du heute immer noch so … so leicht entflammbar bist. Bist du?

Richard, hast du dein Auto dabei? Lass uns wie früher eine nächtliche Spritzfahrt machen. Du fährst. Ich sitze neben dir und erzähle dir einige Dinge.

Bruckner nickt und springt auf.

Gute Idee! Ich gehe in die Küche und bezahle beim Alten.

Kurz darauf sitzen sie in Bruckners angenehm kühlem und komfortablem Jaguar und fahren in Richtung Süden, aus der Stadt hinaus, durch das merkwürdig fremde Tal, das schon früher ihre Lieblingsstrecke gewesen ist. Es ist noch nicht ganz dunkel und die Hitze ist immer noch unerträglich.

Vielleicht wird es weiter oben kühler, da, wo sich das Tal verengt, manchmal fast schluchtartig. Erinnerst du dich?

Tanner nickt.

Bis sie die Zementfabrik passiert haben, mit dieser ewig langen, leicht schräg gestellten Röhre, in der Kalk und Ton gebrannt werden und die sich langsam dreht, schweigen sie beide. Man hört nur das leise Schnurren des Jaguars. Ein Motorengeräusch kann man das kaum nennen. Zufriedene Wohllaute einer ausgefeilten Technik. Für ein paar ausgewählte Reiche, zu denen sein Freund ohne Zweifel gehört.

Tanners Augen streifen bewundernd über diese Mischung von Leder, Wurzelholz und digitalen Raffiniertheiten. Bruckner fährt mit großer Gelassenheit und Sicherheit. Liebevoll steuert er den schweren Wagen durch die jetzt schnell hereinbrechende Nacht. Er passt perfekt in das Interieur des Autos. Als wäre das alles für ihn maßgeschneidert worden. Tanner mustert seinen Freund von der Seite und staunt wieder über dessen jugendliche Züge. Und wie früher fragt sich Tanner, wie wohl die dunklen Seiten seines Freundes aussehen. Denn, dass es sie bei jedem Menschen gibt, darüber besteht kein Zweifel. Um den Reichtum hat Tanner ihn früher dann und wann beneidet, aber er hat ihm das viele Geld nie missgönnt, zumal Bruckner die gleiche Leidenschaft für Kunst, Politik und Gerechtigkeit an den Tag legte wie Tanner.

Übrigens, Simon, ich kenne in groben Zügen die Geschichte deiner Taten in Marokko. Ich weiß auch, wie unfair du von der Regierung behandelt worden bist. Wie gesagt, ich kenne Gott und die Welt. Das bringt mein Job so mit sich. Und mit deinem Fahndungserfolg hier in unserem Land vor einiger Zeit waren die Zeitungen ja voll. Ich habe natürlich alles genau verfolgt, wie du dir denken kannst.

Tanner nickt, behält aber seine Verwunderung für sich. Was heißt das: alles genau verfolgt? Spricht er von den oberflächlichen Berichten in der Zeitung, oder besitzt sein Freund andere Informationskanäle? Bruckner schweigt.

Tanner hat keine Lust nachzufragen, streckt seufzend seine Beine ganz aus und überlässt sich der Magie der nächtlichen Fahrt. Bruckner betrachtet mit einem schnellen Seitenblick seinen Freund, macht die Musik an – Mozart, wie eh und je – und drückt aufs Gaspedal. Nach und nach stellt sich bei Tanner die Trance ein. Wie früher.

Der schwere Wagen wiegt sich leise durch die Kurven. Der Körper wird schwerelos. Die Materie löst sich auf. Die kinetische Energie der Bewegung wird scheinbar null. Nicht das Auto fährt, sondern die Landschaft rast und fließt dem Auge entgegen. Das Licht sägt aus dem Dunkel einen Film mit rasch wechselnden Bildern. Das monotone Band der Straße mit seiner weißen, regelmäßig unterbrochenen Linie bildet die stetige Basslinie, den Takt des rasenden Bilderreigens. Der schwarze Asphaltfluss reiht tausend Bildfetzen aneinander. Von grellen Scheinwerfern der schwarzen Nacht entrissen. Kaum geschaut, selten ganz begriffen, blitzen Gegenstände flüchtig auf und werden sofort wieder unwiderruflich in ihre dunkle Existenz entlassen. Zurück in das Nichts. Bäume, Sträucher, Gehsteige, Fragmente von Häusern, Gärten, Brücken, Bäche, nicht zu identifizierende Gegenstände am Straßenrand. Auch die banalsten Gegenstände bekommen durch die rasende Abfolge ihrer kurzfristigen Erscheinung eine neue Bedeutung. Die schnellen Schnitte schaffen neue Zusammenhänge. Ein Verkehrsschild warnt vor Schleudergefahr, ein Fuchs starrt mit seinen diamantenen Augen ins gleißende Licht, das fahl erleuchtete Fenster einer allein stehenden Hütte, der verlorene Kinderschuh am Straßenrand, aus dem offenen Fenster eines am Waldrand parkierten Autos blendet die weiße Haut eines nackten Frauenarms.

Der nackte Frauenarm …

Als er Elsies nackten Arm über den Bettrand hängen sah – das Erste, was er erblickte, als er das letzte Mal in ihr Zimmer trat –, wusste er Bescheid. Sie würde nie mehr erwachen. Sie würde aus dem Koma direkt ins andere, ins ferne Land wechseln. Wie konnte er das an ihrem über den Bettrand hängenden Arm erkennen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es sofort und mit erschreckender Klarheit erkannte. War es dieses schwer fassbare Leuchten, das in den letzten Stunden ihren ganzen Körper umgab? Dreizehn Monate, drei Tage und sieben Stunden dauerte bis zu diesem Zeitpunkt ihr Koma. Seit einem Jahr lebte er wie betäubt in seiner Wohnung am See, die er nach den Ereignissen im Eiskeller bezogen hatte. Er konnte nicht alleine im Haus von Elsie leben, die Kinder waren ja sofort zu Ruth und Karl gezogen. Nach Elsies wahrscheinlichem Tod würden sie die Kinder adoptieren. Er, Tanner, verließ das große Haus am See, dessen obersten Stock er bewohnte, nur dann, wenn er seine stumme Geliebte im Spital besuchte. Sie, Elsie, sie war jetzt plötzlich zum Dornröschen geworden. Und er konnte sie nicht aufwecken. Er war offenbar nicht der Prinz, der über diese Fähigkeit verfügte. So vergrub er sich in dem alten Haus, spielte Tag für Tag stundenlang sinnloses Zeug auf dem alten Flügel, den der Hausbesitzer im unbewohnten Parterre des Hauses hatte stehen lassen.

Elsies Kinder haben sich damals sofort instinktiv an Ruth und Karl geklammert. Und genauso instinktiv haben sie sich von Tanner zurückgezogen, als ob er für ihre armen kleinen Seelen zu stark mit Elsie verknüpft war, oder schlimmer noch: Vielleicht gaben sie ihm unbewusst die Schuld am Zustand ihrer Mutter? Würden sie ihm später auch einmal die Schuld an ihrem Tod geben?

Ich muss dringend wieder einmal Ruth anrufen, denkt Tanner. Dann zuckt er zusammen.

Apropos Anruf … so ein Mist, sagt Tanner unvermittelt laut in die Stille. Wie spät ist es, Richard?

Es ist kurz nach elf. Was hast du denn? Du kannst einen vielleicht erschrecken.

Entschuldige, Richard. Es gibt eine ganz wichtige Sache, die ich beinahe vergessen hätte. Ich muss gegen Mitternacht in der Innenstadt sein. Ich kann dir das jetzt nicht näher erklären. Und schau mich nicht so schief an. Es geht um eine Informationsübergabe. Dreh bitte sofort um, es ist wichtig.

Mehr will Tanner seinem Freund nicht preisgeben. Viel mehr weiß er selbst ja auch nicht. Und über die Umstände, wie er Michiko kennen gelernt hat, will er mit Richard nicht reden. Der ist taktvoll genug, nicht weiter zu fragen. Etwas anderes hat Tanner von ihm auch nicht erwartet.

Warum er das Treffen mit Michiko beinahe vergessen hat, ist ihm schleierhaft. Die ganze Zeit hat es ihn beschäftigt, nur in den letzten paar Stunden war der Gedanke an diese Verabredung wie ausradiert gewesen. Er findet keine Erklärung für diesen Vorgang. Und das beunruhigt ihn.

Nachdem Bruckner das Auto bei der nächsten Gelegenheit gewendet hat, redet sein Freund nur noch über Belangloses. Anekdoten von ehemaligen Schulkollegen und deren beruflicher Entwicklung, über die er ziemlich gut Bescheid weiß. Das schöne Schweigen ist anscheinend nicht mehr möglich und Tanner fühlt sich außerstand, seinem Freund von Elsies Zustand zu erzählen. Es wird sicher eine andere Gelegenheit geben. Bruckner lässt sich nichts anmerken und plaudert munter drauflos. Er lässt Tanner irgendwo in der Nähe der Innenstadt aussteigen. Obwohl Tanner schon zwanzig Minuten zu spät ist, will er die letzten Schritte zu Fuß gehen. Bruckner soll nicht denken, er habe beim Theaterbrunnen ein Rendezvous. Denn der Ort, wo Michiko ihn hinbestellt hat, ist wirklich einer der beliebten Treffpunkte für Liebespaare. Zumindest war es früher so. Sie verabschieden sich etwas steif und förmlich. Trotzdem haben beide das Gefühl, dass der unterbrochene Kontakt wieder geknüpft ist und dass man sich in Zukunft öfter sehen wird. Unter welchen Umständen das sein wird, kann sich noch keiner der beiden vorstellen.

Das Gesetz des Wassers

Подняться наверх