Читать книгу Das Gesetz des Wassers - Urs Schaub - Страница 8

SECHS

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Zwanzig Minuten nach zwölf ist der Platz um den Brunnen bereits großräumig abgesperrt. Laut Protokoll meldete sich exakt um Mitternacht bei der Hauptwache der Polizei ein anonymer Anrufer, der stammelnd von einem Toten im Brunnen mit den komischen Maschinen berichtete. Danach habe er sofort das Gespräch beendet. Der Mann habe das Stadtidiom mit einem starken Akzent gesprochen. Bei der Polizei wusste man natürlich sofort, um welchen Brunnen es sich handelte.

An diesem Abend hat Hauptkommissar Schmid von der Mordkommission Dienst. Er ist ein Mann um die sechzig. Mit dürrem und schlaksigem Körper. Seine schütteren Strähnen sind sorgfältig nach rechts gekämmt und mit einer Spur zu viel Gel an die Kopfhaut geklebt. Schmid ist Pessimist. Wer ihn kennt, weiß es aus Erfahrung. Man braucht ihn allerdings nicht erst zu kennen, um es zu wissen. Seine ganze Körperhaltung drückt tiefen Pessimismus aus. Wer in seine Augen blickt, sieht nur Skepsis, Misstrauen und einen bestimmten Ausdruck von beleidigter Trauer.

Hauptkommissar Schmid ahnte schon während des ganzen heißen Tags, den er in seinem geliebten Schrebergarten im aussichtslosen Kampf gegen eine bestimmte Sorte Ungeziefer verbrachte, die seinen selber gezüchteten Mini-Romano-Salat attackierten, dass heute noch etwas Unangenehmes passieren würde.

Kurz vor Mitternacht sagte sein engster Mitarbeiter namens Natter, der ein wortkarger, schwergewichtiger Mann mit einer uralten BMW-Maschine war, die er an seinen freien Tagen liebevoll, geradezu zärtlich pflegte, heute werde wahrscheinlich nichts mehr passieren. Er spüre das im Urin. Schmid räusperte sich nur kurz und sagte nichts, legte aber seinen Kopf in diese alles und jedes bezweifelnde Schieflage.

Schmid hasst diese unnatürliche Hitze. In seiner Gartenanlage darf man schon seit Tagen nicht mehr wässern. Als Mitglied der Polizei und als Vorstandsmitglied im Pflanz- und Gartenverein hat er naturgemäß eine gewisse Vorbildfunktion, also darf er nicht gegen das Bewässerungsverbot verstoßen. Bei seinen kleinsten Setzlingen hat er sich allerdings erlaubt, ein Glas Wasser auszugießen. Er tat so, als ob er selber trinken wollte, worauf er aus gespielter Unachtsamkeit stolperte und das Glas Wasser vergoss. Nur für den Fall, dass ihn jemand beobachtet hätte. Und beobachtet wurde man im Kleingartenverein eigentlich immer. Alle wussten von allen, wer wann wie viel Dünger verwendete oder wie groß die Tomaten wurden. Oder wer seinen ihm anvertrauten Garten vernachlässigte. Nach der unrechtmäßigen Wasseraktion fühlte sich Schmid wie ein Verbrecher. Er konnte also nur noch zuschauen, wie sein Gemüse und seine Salatzüchtungen, die noch nicht vom Ungeziefer befallen waren, langsam verdorrten. Andererseits bestätigte ihm diese klimatische Unbill, dass er mit seiner Neuzüchtung sowieso kein Glück haben würde. Zudem hatte er sich vom ewigen Durchzug im Büro einen Schnupfen eingefangen. Und das mitten im Sommer. Und nur weil die Kollegen ständig die Türen offen ließen.

Eine Minute vor Mitternacht gab er seinen Mitarbeitern das Zeichen für den Aufbruch in die Polizeikantine. Es war Zeit für das »Mittagessen« der Nachtschicht. Und genau in dem Moment, wo sich alle von ihren Stühlen erhoben, auf denen man von der Tageshitze noch in der Nacht festklebte, klingelte das Telefon.

Die nackte Frauenleiche liegt mitten im Brunnenbecken. Da die Maschinen und Objekte nachts abgestellt werden, ist das Wasser still und schwarz. Am Rande des Beckens hat ein Polizist zwar bereits Scheinwerfer auf Stativen bereitgestellt, aber noch ist der Strom nicht eingeschaltet. Man kann ohne Licht nicht genau sehen, ob der hellhäutige Körper im Wasser schwimmt oder auf dem flachen Bassinboden aufliegt.

Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken auf einer der Bänke, die in der Nähe des Brunnens aufgestellt sind. Er ist sichtlich verärgert. Um nicht zu sagen: stinksauer. Aber nicht wegen der Leiche. Er findet es eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Seine neueste Salatkreation verdorrt und hier in der Stadt läuft den lieben langen Tag das Wasser in unzählige Brunnen. Allein mit dem Wasser, das jetzt das große stille Becken füllt, könnte er seinen Garten drei Wochen lang bewässern.

Dass Natter kommt und ihm schwer atmend berichtet, dass sich auf dem Platz, wo sich viele Schaulustige hinter der Absperrung tummeln, kein Einziger findet, der als Zeuge etwas aussagen kann oder will, verbessert seine Laune auch nicht.

Tanner sitzt etwas abseits hinter der Absperrung auf einer Treppenstufe. Der weiße Stein ist noch warm von der Hitze der Sonneneinstrahlung.

Michiko, es ist etwas mit Michiko passiert, dachte er sofort, als er von weitem die vielen Fahrzeuge der Polizei, das Feuerwehrauto und den Krankenwagen erblickte. Er brauchte nicht zu warten, bis die Polizei die Leiche im Wasser umdrehte. Ein Blick von weitem auf den makellosen, hell schimmernden Körper bestätigte seinen schlimmen Verdacht.

Dass Tanner zu spät gekommen ist, tut eigentlich nichts zur Sache, denn es ist ganz offensichtlich, dass Michiko nicht hier in der Öffentlichkeit umgebracht worden ist. Dass sie tot und nackt hierher gebracht und ins Wasserbecken des berühmtesten Brunnens der Stadt gelegt wurde, stellt eine unglaublich freche Provokation dar. Normalerweise werden Leichen im Wald verscharrt. Oder zerstückelt und in separaten Paketen an verschiedenen Orten versteckt. Oder die Leiche wird in ein tiefes Wasser versenkt. Auf jeden Fall geht es immer um die – meist trügerische – Hoffnung des Verbrechers, dass die Leiche möglichst lange unentdeckt bleibt, und damit auch er selber. Ohne Leiche kein Verbrechen.

In Michikos Fall haben der oder die Mörder es auf eine sofortige Entdeckung geradezu angelegt. Es handelt sich um Kalkül. Aber mit welcher Absicht?

In diesem Moment lassen die Scheinwerfer der Polizei den Brunnen in hellem Licht erstrahlen. Ein Polizist macht von allen vier Seiten Fotos des Leichnams. Dann treten drei Polizisten mit Gummistiefeln über den niedrigen Beckenrand, nähern sich langsam dem reglosen Körper, als ob sie ihn nicht erschrecken wollten, und greifen vorsichtig ins Wasser. Sie tragen ihn auf eine neben dem Becken bereitgestellte Bahre. Bevor sie ihn auf die Bahre niederlassen, sind die drei Polizeibeamten unschlüssig, ob sie den Körper sofort umdrehen oder ob sie ihn zuerst auf den Bauch legen sollen. Die drei verständigen sich stumm durch Blicke und Bewegungen ihrer Köpfe. Sie beschließen, die Leiche sozusagen in der Luft zu drehen. Dazu müssen die drei Polizisten ihre Griffe an dem nassen, wahrscheinlich glitschigen Körper ändern und es entsteht für einen Augenblick eine eigenartige Skulptur von drei sich bückenden Gestalten um den in der Luft schwebenden makellosen Körper von Michiko, mit sechs sich teilweise kreuzenden und ineinander verschlungenen Händen und Armen. Im Moment, wo Michikos Körper auf die Bahre gelegt wird, kommt der Polizeiarzt angerannt und die drei Beamten treten von der Toten zurück. Sie sind sichtlich erleichtert, dass sie ihre schwierige Aufgabe ohne größere Schwierigkeit gemeistert haben. Verstohlen wischen sie die Hände an ihren Hosen trocken.

Tanner ist ratlos. Wenn ihn Michikos Tod etwas angeht, muss er jetzt aufstehen und der Polizei mitteilen, was er weiß. Aber was weiß er denn schon?

Komm, hör auf. Keine billigen Ausflüchte. Du weißt vielleicht nicht viel, aber vermutlich mehr als die Polizei, murmelt Tanner leise zu sich selbst.

Dass der Tod Michikos in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Tod des japanischen Kunden im Schlaraffenländli steht, liegt eigentlich auf der Hand. Weil beide Japaner waren? Natürlich nicht. Aber ihr Anruf kann doch nur etwas mit diesem Ereignis zu tun haben. Was sonst hätte sie ihm mitzuteilen gehabt. Der Tod des Japaners und seine zufällige Anwesenheit waren ihre einzige Verbindung. Obwohl er sich darauf noch keinen Reim machen konnte. Es handelte sich ja wahrscheinlich um einen Unfall. Das einzig Seltsame an diesem Unfall ist, dass davon bisher nichts in der Zeitung stand.

Bei ihrem Anruf sprach Michiko unglaublich hastig und ihre Stimme klang, als ob sie unter Druck stehe. Hatte sie Angst? Wusste sie damals schon, dass sie in Gefahr war? Was hatte sie ihm mitteilen wollen? Tanner beginnt sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht sofort in die Stadt gefahren ist und versucht hat, Michiko zu finden. Vielleicht hätte er ihren Tod verhindern können.

Es ist ihm natürlich klar, dass er mit der Polizei sprechen muss. Schon allein wegen seiner Telefonnummer, die in Michikos Mobiltelefon gespeichert ist. Falls es von der Polizei gefunden würde, stände er ganz schön blöd da. Er hat aber absolut keine Lust, jetzt aufzustehen, durch die Absperrung zu gehen, sich anschnauzen zu lassen, dass er da nichts zu suchen habe … und so weiter. Er wird einfach später aufs Präsidium gehen, es liegt sowieso ungefähr in Richtung seines Hotels.

Vorerst wird er aber noch auf seinem warmen Stein sitzen bleiben und dem Treiben der Polizei zusehen. Vielleicht kann er später noch selbst die Beckenränder und die Umgebung des Brunnens auf Spuren untersuchen. Schließlich ist der Transport einer toten nackten Frau in ein Brunnenbecken ein aufwändigeres Manöver, als eine Glücksmünze in einen Brunnen zu werfen.

Der Polizeiarzt hat mittlerweile den Leichnam von Michiko zum Abtransport freigegeben. Polizisten und Techniker mit Handschuhen suchen die Umgebung des Brunnens ab. Ab und zu packen sie kleine Gegenstände in Plastiktüten. Hauptkommissar Schmid sitzt immer noch in sich zusammengesunken auf derselben Bank. Dann und wann beugt sich der neben ihm stehende Natter zu ihm hinunter und flüstert ihm etwas zu. Schmid nickt dann bloß oder wiegt skeptisch seinen Schädel. Einmal führt Schmid mit seinem Handy ein kurzes Telefongespräch. Vielleicht mit seiner Frau? Um ihr zu sagen, dass er später als sonst nach Hause kommt? Vielleicht beauftragt er sie, an seiner Stelle in den Garten zu gehen, da er wegen des neuen Falles auch den ganzen Tag über im Dienst bleiben muss.

In der Zwischenzeit hat sich die Menge der Leute hinter der Absperrung verlaufen, denn es gibt nichts Spannendes mehr zu sehen. Einzig Tanner sitzt noch auf seiner Treppenstufe. Die Nachtluft ist endlich angenehm kühl. Still ist es geworden. Die Straßenbahnen fahren nicht mehr und Autos sind nur noch sporadisch zu hören.

Tanner stellt sich die kleine Gedankenaufgabe, wie er es anstellen würde, mitten in der Stadt eine nackte Leiche im Brunnenbecken zu platzieren. Über Motiv oder Tathergang kann er ohne Anhaltspunkte gar nicht nachdenken. Er weiß ja nicht einmal, wie Michiko ermordet wurde. Wegen der Distanz zum Brunnen konnte er weder eine Verletzung noch eine Schusswunde erkennen.

Es müssen auf jeden Fall mehrere Täter gewesen sein. Mindestens drei. Für eine professionelle Nachtaktion mitten in der Stadt wären vier oder fünf Männer besser. Die Männer kommen mit einem Auto – wahrscheinlich mit einem Lieferwagen – und fahren so nahe wie möglich zum Brunnenbecken. Es gibt zwei Stellen, wo ein Auto unweit des Brunnens relativ unverdächtig anhalten könnte. Wenn die Polizei weg ist, wird Tanner aufstehen und beide Stellen überprüfen. Also, bei der einen oder anderen Stelle hält ein Lieferwagen. Drei bis fünf Männer sitzen im Auto. Sie kurbeln die Fenster runter und beobachten ruhig den Brunnen und die Umgebung. Wahrscheinlich flanieren noch ein paar Leute beim Brunnen. Das eine oder andere Paar sitzt auf dem Beckenrand, küsst sich und hält sich liebevoll umschlungen. Die Männer im Auto haben Zeit und Geduld. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da ist plötzlich die Luft rein. Blitzschnell steigen sie aus dem Auto. Zwei behalten weiterhin die Umgebung scharf im Auge. Die beiden anderen packen die leblose Michiko, die wahrscheinlich in ein dunkles Tuch gehüllt ist – oder in einem großen Behältnis oder Wäschekorb liegt – und tragen sie ruhig zum Brunnen. Schwer war Michiko ja nicht. Tanner erinnert sich an den Moment, wo sie auf seinen Knien saß. Nach einer weiteren Sicherheitsüberprüfung steigen die zwei Träger in den Brunnen und legen die Leiche ins Wasser. Die ganze Aktion könnte nach Tanners Berechnung in neunzig Sekunden erledigt gewesen sein. Die zwei Träger, die in das flache Brunnenbecken steigen mussten, haben jetzt nasse Schuhe. Oder sie haben Stiefel getragen. Das Tuch, in das Michiko gehüllt war – oder der Transportbehälter, in dem sie lag – wird zurück ins Auto getragen. Alle steigen wieder ein – der Fahrer ist wahrscheinlich sowieso im Auto sitzen geblieben – und weg sind sie.

Wie auch immer, auf jeden Fall deutet alles darauf hin, dass es sich um professionelle und skrupellose Täter handelt. Professionelle Täter handeln zwar – nach Lehrbuch – im Verborgenen und versuchen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Trotzdem kann man sich die Aktion, die hier stattgefunden haben muss, nicht von Amateuren ausgeführt vorstellen. Dass die Leiche Michikos in einen öffentlichen Brunnen mitten in der Stadt gelegt wurde, ist eine Botschaft. Aber an wen ist sie gerichtet? Auf jeden Fall müssen sich die Täter oder ihre Auftraggeber geradezu unverschämt sicher fühlen.

Die Scheinwerfer erlöschen. Die Polizei hat ihre Untersuchung beendet. Eine Untersuchung, die für Tanners Geschmack etwas oberflächlich war und vor allem ziemlich schnell abgebrochen wurde. Zum Beispiel wurde das Brunnenbecken nicht methodisch und gründlich abgesucht. Tanner hätte auf jeden Fall das Wasser abgelassen und filtriert, um zu schauen, ob im Wasser irgendetwas zum Vorschein gekommen wäre, was Rückschlüsse auf die Täter oder das Opfer erlaubt hätte.

Ja, ja, du! Du hättest … du bist aber nicht mehr im Dienst, und gerade mit solchen Aktionen, wie zum Beispiel hier mitten in der Nacht das Wasser des ganzen Beckens abzulassen, hast du dich nicht gerade beliebt gemacht …

Tanner lacht über seine eigenen Gedanken. Und zuckt einen Augenblick später zusammen, als plötzlich eine hohe Fistelstimme spricht. Lach nur! Lach! Dir wird das Lachen schon noch vergehen, wenn der Gerechte kommt und dich packt.

Die Stimme kommt aus einem Gebüsch dicht unterhalb der Brunnenanlage. Es sind mehrere mannshohe, dornige Büsche, die zusammen ein undurchdringliches Gebüsch bilden. Nach kurzer Pause spricht die Stimme weiter.

Die Stadt lebt in Sünde. Die Menschen dieser Stadt sind alle zum Sterben bestimmt. Zuerst kommt der Tod leise. Als Mahnung und Vorwarnung. Dann, wenn sich die Tage erfüllt haben, kommt ein brausendes Feuer vom Himmel mit großem Lärm über die Stadt.

Tanner steht auf und geht näher an den sprechenden Busch heran.

Wir wissen, dass wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren ist, der bewahrt sich, und der Arge wird ihn nicht antasten. Erstes Buch Johannes, Kapitel fünf, Vers achtzehn …

Die Stimme schweigt. In der Stille hört Tanner ein leises Rascheln. Es klingt, als würde jemand in Plastiktüten wühlen. Dann wird eine Flasche entkorkt. Gleich darauf hört man deutlich Trinkgeräusche. Jetzt spricht sie wieder, die Stimme aus dem Busch.

Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern, ein Hund, ein Kind, ein Halm im Wind oder die Reue einer Dirne?

Schweigen. Dann wieder Trinkgeräusche.

Prost! Auf Ihre Gesundheit! Darf ich Sie kurz stören?

Kaum hat Tanner gesprochen, wird es sofort wieder still im Gebüsch. Tanner versucht, durch die Zweige ins Innere des Gestrüpps zu sehen, aber es ist einfach zu dunkel. Dann wieder die Fistelstimme.

Hau ab, Mensch, sündiger. Du störst. Wenn du beichten willst, komm morgen wieder. Verschwinde, sonst jag ich meine Hunde auf dich … Und wie zur Bestätigung hört man das Knurren mehrerer Hunde. Es klingt, als ob es große Hunde wären. Tanner beschließt sich zurückzuziehen.

Also gut, ich komme morgen wieder. Abgemacht?

Die Antwort ist ein Knurren. Man kann nicht sagen, ob es der Laut eines Menschen oder der eines Tieres ist. Tanner nimmt es als Bestätigung und zieht sich zurück.

Ein seltsamer Wohnort. Mitten in der Stadt und trotzdem unsichtbar. Tanner ist gespannt, was für ein Wesen sich hier sein Nest gebaut hat. Er hat schon Penner und Clochards in Kartonschachteln gesehen, in Abfallcontainern, in ausgebrannten Autos, unter Brücken, in Berge von Zeitungen eingehüllt, in umgestürzten Telefonkabinen. Aber in einem Busch, einem schier undurchdringbaren Gestrüpp … das ist neu. Und wie geht er rein und raus? Das Rätsel wird sich im Tageslicht lösen. Abhauen wird er ja bis morgen nicht. Möglicherweise hat das Wesen im Busch etwas von den nächtlichen Vorgängen beobachtet.

Tanner inspiziert die beiden Stellen, die er in seinem Gedankenspiel vorhin als mögliche Halteorte für das Auto der Verbrecher eruiert hat. Aber er findet nichts. Keinen einzigen Anhaltspunkt.

Enttäuscht und aufgewühlt geht er in Richtung Innenstadt. In Richtung des breiten Stroms. Der Fluss teilt die Stadt in einen größeren, älteren Teil, in dem sich Tanner zur Zeit befindet, der traditionell immer der reichere, gebildete, bürgerliche Teil der Stadt war; und in einen kleineren Teil, auf den früher die Bewohner des größeren Stadtteils naserümpfend hinunterblickten. Nur in dem kleinen Stadtteil war früher das Laster angesiedelt. Heute hat sich alles und jedes auf beide Stadtteile verteilt.

Die Straßen sind wie ausgestorben. Durch die andauernde Hitze der letzten Tage hat die Stadt einen ganz fremden Geruch angenommen. Einen mediterranen goût. Beinahe riecht sie schon wie eine Stadt im Süden. Eine weiße Stadt im Nahen Osten vielleicht. Es ist diese schwer zu definierende Duftmischung aus heiß gewordenem Asphalt, Abgasen, überreifen Früchten, die schon bald vergären, und Abfällen, die zu lange der Tageshitze ausgeliefert waren. Es fehlt nur der Salzgeschmack eines nahe gelegenen Meeres.

Er muss an Michikos Schicksal denken. Er hat sie ja nicht eigentlich kennen gelernt. Er hat bloß ihren makellosen Köper gesehen und ihn einmal kurz berührt. Und dann hat er ihren Schrecken beim Angstschrei ihrer Kollegin gespürt. Da verwandelte sich die unnahbar kühle Schönheit in das kleine Mädchen, das sie hinter der professionellen Maske geblieben war. Ob sie Verwandte in Europa hatte? Dachten sie, ihre Tochter studierte in Europa? Allzu lange konnte Michiko noch nicht als Prostituierte arbeiten, denn sie hatte noch nicht diesen müden, desillusionierten Blick, den alle früher oder später bekommen, die in diesem Milieu arbeiten. Was sie wohl für Träume gehabt hat? Was für Zukunftspläne?

Tanner passiert eine enge Gasse, in der ein übervoller Abfallcontainer eines chinesischen Fast-Food-Restaurants den Weg beinahe versperrt. Wahrscheinlich hat sich seine Bremse gelöst. Um weitergehen zu können, muss Tanner sich zwischen Container und Hauswand hindurchzwängen, den Container sogar etwas beiseite schieben. Sofort raschelt es laut und eine regelrechte Horde fetter Ratten flieht aus dem Küchenabfall ins nächste Kellerloch. Angewidert beschleunigt Tanner seine Schritte. Wenn es noch lange so heiß bleibt, werden die Bewohner dieser Stadt noch einige Überraschungen erleben.

Kurz darauf steht er vor dem Polizeipräsidium. Er fragt nach dem Dienst habenden Kommissar und lässt ihm ausrichten, dass er einige Auskünfte zur Leiche im Brunnen geben könne. Nach telefonischer Rückfrage wird Tanner von einem jungen Bereitschaftspolizisten durch lange Gänge in eine Art Vorraum oder Warteraum geführt. An der Wand hängen Plakate mit steckbrieflich gesuchten Gewaltverbrechern. Die Mehrheit der gesuchten Männer ist aus den drei Osten.

Sagt man hier einfach Osten, dann sind die aus dem Balkan, aus dem ehemaligen Jugoslawien oder die aus der ehemaligen Sowjetunion gemeint.

Mit dem Begriff des Nahen Ostens meint man undifferenziert alle die, die aus dem arabischen Raum kommen. Auch die aus der Türkei. Unter dem schönen Begriff des Fernen Ostens sind die aus Sri Lanka, die Tamilen, aber auch die von der chinesischen und japanischen Mafia gemeint.

Wie beruhigend, Verbrecher kommen aus dem Osten. Selten aus dem Westen. Aus dem Westen kommt das Wetter. Unsere eigenen Verbrecher sitzen ja eher in klimatisierten Räumen, tragen weiße Hemden, dezente Krawatten, fahren große Limousinen, bewohnen Hotelsuiten, haben nicht so böse Gesichter und werden nie auf solchen Plakaten abgebildet.

Was für eine schöne westliche Tradition: Die Gefahr kommt aus dem Osten. Das Irrationale, das Ekstatische, das Fanatische, das Asiatische, die Hunnen, der Ostjude, der Türke, die gelbe Gefahr.

Jetzt reicht es, denkt Tanner. Jetzt sitze ich schon zwanzig Minuten in diesem öden Raum. Und das mitten in der Nacht. Jetzt reicht es.

Tanner geht zur Verbindungstür, die ins Büro des Kommissars führt, und klopft energisch. Als keine Antwort kommt, öffnet er kurz entschlossen die Tür.

Drei Schreibtische sind in dem großen Raum so verteilt, dass jeder möglichst ungestört vom anderen arbeiten kann. Die Luft ist stickig und verbraucht. An der Decke sondern fahle Lampen ein kaltes Licht ab. An den Schreibtischen leuchten die obligaten Schreibtischlampen. In der Ecke steht ein billiger Ventilator, der ratternd die Hitze schön gleichmäßig im Raum verteilt. Cremefarbene Jalousien verschließen den Blick nach draußen. Zwei der Männer haben offenbar bis zu Tanners Eintritt auf den Monitor ihres Computers gestarrt, jetzt blicken sie ihn mit gehässigen Blicken an. Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken an seinem leeren Schreibtisch und fixiert die grüne Schreibunterlage. Bevor Tanner seinem Ärger freien Lauf lassen kann, räuspert sich Schmid laut. Dann spricht er schnell und ungehalten. Ohne aufzuschauen.

Sie haben zwar geklopft, aber niemand hat herein gesagt! Oder haben Sie etwas Derartiges gehört? Ich würde vorschlagen …

Ich würde vorschlagen, dass Sie mich jetzt einfach anhören. Sonst kann ich auch wieder gehen. Schließlich habe ich eine Information für Sie. Ich komme freiwillig hierher, mitten in der Nacht, und Sie lassen mich grundlos warten. Das ist nicht besonders höflich. Also, entscheiden Sie sich. Ich kann morgen auch direkt zum zuständigen Staatsanwalt gehen.

Jetzt blickt Schmid endlich von seinem Schreibtisch auf, unsicher, ob er seiner schlechten Laune nachgeben und den Besucher einfach rauswerfen soll. Seine Mitarbeiter erwarten es von ihrem Chef, das spürt er ganz deutlich. Andererseits gibt es etwas an Tanners Auftreten, das Schmid irgendwie beeindruckt. Er weiß nur noch nicht, was es ist. Aber vielleicht hat der nächtliche Störenfried ja doch eine brauchbare Information.

Gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Natter und Waibel, lasst uns einen Moment allein.

Die Angesprochenen erheben sich zögernd von ihren Stühlen, als ob sie noch nicht so richtig an die Ernsthaftigkeit der Aufforderung glauben. Aber Schmid unterstreicht sie mit einer Geste. Er will seine beiden Mitarbeiter bei dem Gespräch nicht dabeihaben, da er instinktiv spürt, dass Tanner ihm vielleicht intellektuell überlegen sein könnte. Und so eine Situation konnte Schmid noch nie aushalten. Zudem ist es immer von taktischem Vorteil, alleiniger Herr über wichtige Informationen zu sein. Wichtig vor allem für die Karriere, das haben ihn fünfunddreißig Berufsjahre gelehrt. Dass er heute Hauptkommissar ist, und nicht einer seiner Mitarbeiter, hat viel mit wohl überlegter Informationspolitik zu tun. Schmid weiß das. Auch wenn er es nie zugeben würde.

Also, nehmen Sie Platz. Wie ist Ihr Name und was haben Sie mir denn so Wichtiges zu sagen. Um zwei Uhr siebenundzwanzig.

Tanner lehnt sich zurück und schaut offen und direkt in die beleidigte Miene und die skeptischen Augen seines Gegenübers. Bis Schmid ausweicht. Er kaschiert diese erste Niederlage, indem er sich aus der untersten Schublade seines Schreibtisches ein Bündel weißes Papier holt.

Ich habe dem Schild an der Tür entnommen, dass Sie Kommissar Schmid sind. Ist das richtig?

Hauptkommissar, ja, das stimmt.

Schmid könnte sich die Zunge abbeißen, dass er in die erste plumpe Falle gestolpert ist, die ihm Tanner gestellt hat. Aber jetzt ist es zu spät. Wenigstens lässt er sich nichts anmerken.

Freut mich, Herr Hauptkommissar Schmid. Ich heiße Tanner und bin für ein paar Tage in meine Geburtsstadt zurückgekommen. Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Es hat sich zwar einiges verändert, aber es ist immer noch eine der schönsten Städte in diesem Land, wie eh und je. Außer, dass ich mich nicht erinnern kann, dass es früher in dieser Stadt jemals so heiß gewesen wäre.

Als Schmid höflich über diese kleine rhetorische Pointe lächelt, schießt Tanner die Frage gezielt ab.

Sie haben keine Ahnung, wer die tote Japanerin aus dem Brunnen ist, oder?

Schmid verliert für einen Moment die Beherrschung über sein Gesicht. Ein Gesichtsmuskel zuckt und verzerrt seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Schnell wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund.

Wie kommen Sie darauf, dass wir sie nicht kennen?

Jemand hat mir verraten, wie Ihre Mitarbeiter unter den Zuschauern vor Ort nach Zeugenaussagen gefragt haben. Bei der Gelegenheit hat man einem Ihrer Mitarbeiter eine Frage gestellt, und der war so frei, offen zuzugeben, dass die Polizei keine Ahnung habe, wer die Tote sei.

Tanner blufft natürlich. Aber er ist sich sicher, dass die Polizei wirklich keine Ahnung von der Identität der Toten hat.

Gut. Es stimmt. Wir wissen nicht, wer die Tote ist.

Schmid schwitzt bereits an den Händen. Das Gespräch dauert noch keine zwei Minuten und schon drei Punkte für Tanner.

Die Tote heißt Michiko. Das ist ein japanischer Vorname. Die japanische Kaiserin heißt auch so. Michikos Familiennamen kenne ich nicht. Sie lebte in Frankfurt, sprach ziemlich gut deutsch und war regelmäßiger Gast im Schlaraffenländli. Das heißt, sie war natürlich kein Gast, sondern sie arbeitete dort regelmäßig. Sie brauchen also nur nachzufragen. Sie kennen das Schlaraffenländli, oder? Ach, und noch etwas: Falls Sie je ihr Handy finden, werden Sie dort mit großer Wahrscheinlichkeit auch meine Nummer auf ihrer Anrufliste finden. Sie hat mich nämlich gestern angerufen.

Schmid starrt Tanner an. Irgendwie ist ihm jetzt die Frage, die er logischerweise stellen muss, peinlich. Tanner hätte ja gleich alles erzählen können. Aber so einfach wollte der es ihm nicht machen. Woher kennen Sie denn diese … diese Michi …, diese Dame? Ich meine, Sie müssen natürlich nicht antworten.

Oh, kein Problem. Ich kenne sie natürlich aus dem Schlaraffenländli. Und ich hatte sie gebeten sich zu überlegen, ob wir uns nicht außerhalb dieses Etablissements treffen könnten. Deswegen habe ich ihr meine Telefonnummer gegeben. Ja, und deswegen hat sie mich gestern angerufen.

Tanner ist richtig in Fahrt gekommen. Die Lügen sind wie flüssiger Honig aus seinem Mund geflossen. Schmid schaut ihn an, den Kopf in seiner berühmten schiefen Haltung. Wenn Tanner ihn kennen würde, wüsste er, dass Schmid ihm kein Wort glaubt. Schmid glaubt nie jemandem. Grundsätzlich nicht. Und schon gar nicht einem Tanner, der mitten in der Nacht großspurig daherkommt und mir nichts, dir nichts so locker von seinem Besuch im Puff berichtet. Dann nickt er aber Tanner anerkennend zu.

Doch. Doch, da haben Sie uns ganz schön geholfen. Klingt alles sehr plausibel. Doch, alles klar. Vielen Dank, Herr Tanner. Dürfen wir Ihre Telefonnummer auch haben? Und Ihre Wohnadresse? Und in welchem Hotel Sie in der Stadt logieren? Bleiben Sie überhaupt noch weiter hier?

Tanner überhört die Anzüglichkeit, die in dem Wörtchen auch steckt, und bringt die gewünschten Angaben zu Papier. Hauptkommissar Schmid starrt wieder gebannt auf die grüne Schreibunterlage. Jetzt weiß Tanner auch mit Bestimmtheit, dass Claudia vom Schlaraffenländli nicht die Polizei angerufen hat. Er erhebt sich, verabschiedet sich und wendet sich zur Tür. Schmid räuspert sich, bevor er noch einmal ruhig spricht.

Ein bisschen verwunderlich ist es schon, dass Sie mitten in der Nacht zu uns kommen, finden Sie nicht auch? Sie hätten uns das doch alles auch direkt am Tatort sagen können, oder? Aber gehen Sie nur. Sie werden sicher müde sein. Wir sehen uns ja sowieso wieder, da bin ich mir ganz sicher …

Das Gesetz des Wassers

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