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SIEBEN

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In der Zeitung, die Tanner zum Frühstück durchblättert, steht selbstverständlich noch nichts von der ermordeten Michiko. Sie wurde ja erst nach Mitternacht gefunden. Stattdessen liest Tanner einen kleinen Bericht über eine weitere tote Kuh, die in dem kleinen See gefunden wurde, an dem er sich niedergelassen hat.

Wer, um Gottes willen, ermordet Kühe, schneidet ihnen die Ohren mit den gelben Erkennungsmarken ab und wuchtet die toten Kadaver in den See? Tanner beschließt, seinen Freund Serge Michel anzurufen. Vielleicht hat er mit dem Fall zu tun. Leider meldet sich aber nur der Anrufbeantworter und Tanner verspürt keine Lust eine Botschaft zu hinterlassen.

Heute steht ein Besuch der Firma, in der sein Großvater früher gearbeitet hat, auf Tanners Programm. Er will unbedingt wenigstens die Fabrik sehen. Vielleicht gibt es noch alte Gebäude, die damals schon standen. Wenn er Glück hat, besitzt die Firma ein Archiv, in das er Einblick nehmen könnte. Gar zu gerne würde Tanner herauskriegen, an welcher Art von Unglücksfall seinem Großvater die Schuld gegeben wurde. Diese Schuld, oder diese vermeintliche Schuld, sei – nach Aussage seiner Mutter – der Auslöser für seine Krankheit gewesen. Genaueres hatte seine Mutter über die Krankheit ihres Vaters nie gesagt.

Auf Tanners Besuchsliste stehen neben dieser Firma die örtliche Krankenkasse und die psychiatrische Klinik.

Die psychiatrische Klinik nannte man damals kurz und bündig Friedmatt, heute heißt sie PUK. Psychiatrische Universitätsklinik. Wer die Abkürzung nur hört und Shakespeare kennt, denkt zwangsläufig an den Puck aus dem Sommernachtstraum.

Tanner muss unwillkürlich schmunzeln.

Ist das eine Ironie des Schicksals? Man hatte den volkstümlichen Namen Friedmatt, der für alles stand, was mit Psychiatrie zu tun hatte, endlich durch einen seriösen Namen, eine korrekte Abkürzung ersetzt und ist dadurch unbeabsichtigt bei Puck gelandet, dem koboldhaften Verstörer, der den Mädchen mit Vorliebe böse Streiche spielt, und so manchen Wanderer, der durch altenglische Moore streifte, mit seinen Irrlichtern in ein Sumpfloch, sprich: in den Tod führte. So hat es der Zufall – oder eine andere unbekannte, ordnende Macht – verhindert, dass die psychiatrische Klinik eine kühle, verwaltungstechnisch korrekte Bezeichnung bekam, sondern stattdessen einen poetisch verrückten Namen aus der Welt der Träume und der Phantasie.

Neben der Friedmatt gab es für das quasi Nicht-Normale noch einen Ort: die Webstube. Werkstätten für alle, die in den Augen der Gesellschaft zwar nicht normal, aber ungefährlich waren. Das waren vor allem die Mongoloiden, wie man sie damals noch nannte. Inklusive alle anderen Arten von geistig und körperlich Behinderten, für die man noch nicht so differenzierte Bezeichnungen hatte wie heute, außer natürlich den unflätigen. Also nannte man sie allesamt die Webstübler. Man erkannte sie schon von weitem an ihren völlig deplatzierten Kleidern und Mützen. Sie wurden aus Kleidersammlungen für Arme versorgt.

In der nächsten Umgebung der Friedmatt waren auch ein Friedhof, die Kehrrichtverbrennung, eine Knochensiederei, die Großwäscherei für Spitäler und eine Sammelstelle für Kadaver angesiedelt.

Alles, was man in der Stadt nicht mehr haben wollte, und alles, was erst gründlich ausgekocht, gewaschen, durch die Mangel gedreht, therapiert, mit Medikamenten quasi »chemisch gereinigt« werden musste, bevor man es wieder in die Stadt hineinlassen konnte, war in diesem Stadtteil versammelt. Ort der Ausgrenzung. Ort der Verwandlung. Der Gärung. Der Zersetzung. Der alchemistischen Prozesse. Es roch nach Tod. Oder wie man in Tanners Geburtsstadt sagen würde: es schmeckt nach Tod … Heute wird er das noch mal mit anderen Augen sehen.

In den großen Schulferien arbeitete Tanner einmal in der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage. Er saß mit zwei Männern mittleren Alters Tag für Tag acht Stunden und fünfundvierzig Minuten in dem kleinen Haus. Ihre Aufgabe war es, sämtliche ankommende Fahrzeuge, die Kehricht brachten, aufs Genaueste zu wiegen. Nach dem Abladen wurde das leere Fahrzeug noch einmal gewogen und die drei von der Waage ermittelten mittels einer einfachen Subtraktion das gelieferte Nettokehrichtgewicht.

Einer war natürlich der Chef. Er öffnete am Morgen, wenn’s losging, die Schranke des Werkhofs und senkte sie bei Feierabend. Er, und nur er, grüßte jeden aufs Gelände hereinfahrenden Fahrer und jeden, der das Gelände wieder verließ. Er verfügte über eine breite Palette fein abgestufter stummer Gruß- und Winkformen.

Zum Beispiel grüßte er den Direktor der Kehrichtverbrennungsanlage, der als einziger einen Mercedes fuhr, und zwar selbstverständlich einen schwarzen, mit militärischen Ehren. Zweimal täglich. Der König kommt. Der König geht. Er stand stramm und grüßte mit mathematisch exakt angewinkelter Hand an der Stirn. Bis der König, also der Direktor, außer Sichtweite war. Dabei summte er regelmäßig eine ziemlich rassige Marschmelodie, die der Direktor allerdings nicht hören konnte. Am unteren Ende seines Grußregisters gab es nur noch ein nachlässiges, kaum angedeutetes Nicken. Sichtete er einmal wöchentlich die Frau des Direktors in ihrem roten Mercedes Coupé, hob er begeistert beide Arme und schüttelte seine beiden Hände wie zu einem verrückten Tanz, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war. Sie war einmal Miss Schweiz gewesen und beschäftigte zu hundert Prozent die sexuelle Phantasie sämtlicher Angestellter der städtischen Verbrennungsanlage. Die Arbeiter rissen sich einmal die Woche darum, ihr Auto mitten auf dem Werkhof waschen zu dürfen. Es fehlte nicht viel und sie hätten noch auf Knien – und mit einer Zahnbürste bewaffnet – die Profile der Reifen gereinigt.

Einen wöchentlichen Auftrag allerdings hasste Tanner. Er musste die Rechnung in die Knochensiederei bringen. Und da roch es so fürchterlich nach Verwesung und Tod, dass er anschließend jeweils noch zwei Tage glaubte, den Geruch in der Nase zu haben. Diesen Ort würde Tanner auch nicht für viel Geld noch einmal besuchen wollen.

Er wird also in die Psychiatrische Universitätsklinik gehen. Erstens, um zu sehen, wo sein Großvater bei Ausbruch seiner Krankheit eingeliefert worden war, und zweitens, um ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen. Und vor allem will er noch einmal zu dem sprechenden Busch. Die Sprache des verborgenen Wesens hat ihn neugierig gemacht. Außerdem könnte er vielleicht etwas über die Mörder von Michiko erfahren.

Am Nachmittag wird er im Gartenbad hinter dem großen Fußballstadion baden gehen. Ein weiterer Nostalgieabstecher. Außerdem verspricht der Tag wieder heiß zu werden und heute Abend will er ausgeruht und erfrischt zum Essen mit Martha erscheinen. Falls sie es nicht vergessen hat. Sie will ihn ja deswegen noch anrufen. Tanner beendet sein Frühstück und macht sich auf den Weg zum Theaterbrunnen.

In der Stadt herrscht reges Treiben. Jeder, der kann, macht seine Einkäufe und geschäftlichen Besorgungen am Morgen, solange die Luft noch relativ frisch ist.

Tanner sieht etliche Leute, die immer wieder den Himmel mustern. Tatsächlich hat der blaue Himmel einen ungewohnten Gelbstich. Wäre das Gelb noch ein bisschen intensiver, man hätte Weltuntergangsvisionen. Der Himmel verspricht eine unangenehme Hitze für den Tag und sieht irgendwie kränklich aus. Weit und breit keine Wolken.

Tanner gewöhnt sich nach und nach an die Hitze. In Marokko hatte er sie richtig schätzen gelernt. Ein Gräuel blieben ihm allerdings die feucht-kalten Tage im Winter, denn in seinem Haus gab es keine Heizung. Dafür gab es die unendlichen Variationen der tajines von Khadjia. Und abends legte sie warme Steine in sein Bett, die sie in heißem Wasser erwärmt hatte …

Aber das war lange her und die Erinnerungen an seine Jahre in Marokko erschienen ihm plötzlich nicht wie Erinnerungen an eine Wirklichkeit, sondern an eine geträumte Zeit. Der Rauswurf aus dem Land wie ein unsanftes Wecken …

So hektisch und betriebsam es in den Straßen der Innenstadt zu- und hergeht, so leer und ausgestorben ist die Anlage um den Theaterbrunnen. Die Touristen und die Kiffer schlafen noch. Auch für die Liebespaare ist es noch zu früh. Sie träumen noch von ihrer letzten Liebesnacht. Zumal der Bereich um den Brunnen immer noch abgesperrt ist.

Tanner beschließt, sich nicht direkt dem Busch zu nähern, sondern zuerst eine Weile das auch bei Tageslicht undurchdringlich scheinenden Gestrüpp und dessen Umgebung zu beobachten. Er lässt sich auf einer Bank unweit der Stelle nieder, setzt seine Sonnenbrille auf und wartet.

Die Anlage mit dem großen Brunnenbassin, dessen verspielt heitere Maschinen und Figuren aus polizeilichen Gründen noch nicht in Bewegung sind, erscheint heute Morgen inmitten der Betriebsamkeit der Stadt wie eine Oase der Trägheit und Stille. Ab und zu kommen einzelne Passanten durch die Unterführung, durchqueren die Anlage, ohne den Brunnen oder den still dasitzenden Tanner zu beachten.

Nichts deutet darauf hin, dass jemand in diesem Busch sitzt oder jemals saß. Außerdem ist es ein Rätsel, wie man in dieses undurchdringliche Gestrüpp hineinkommt. Oder wieder herauskommt. Immerhin handelt es sich um eine üppig wuchernde Pflanze mit Dornen. Aber die Stimme gestern Nacht war real. Da ist sich Tanner ganz sicher. Das hat er nicht geträumt, obwohl er oft genug an seiner Wahrnehmung zweifelt. Auch war er nicht betrunken. Der Tod von Michiko, der Anblick ihres hellen, bewegungslosen Leibes mitten im dunklen Wasser, die schnelle und flüchtige Arbeit der Polizei, der Besuch bei Kommissar … pardon, Hauptkommissar Schmid, das alles hat er schließlich auch nicht geträumt. Etwas fällt jetzt auf. Die Vögel …

Vögel fliegen den Busch an, setzen sich auf die Zweige und – verschwinden nach kurzem Zögern dann. Tanner versucht sich zu konzentrieren. Kommen sie auch wieder heraus? Vielleicht auf der von ihm abgewandten Seite des Busches? Denn da, wo sie in den Zweigen verschwinden, kommen sie offensichtlich nicht wieder heraus. Na ja, denkt Tanner, vielleicht haben die Vögel im Busch eine Gipfelkonferenz. Wenn es so ist, dann ist es aber eine sehr stille Konferenz. Man hört nämlich keinen Laut. Meditieren Vögel? In der Gruppe?

Tanner lacht still in sich hinein.

In diesem Moment kommt durch die Unterführung eine gebückt gehende Frau. Sie ist klein und schmal, hält ihren Kopf gesenkt und schleppt einen prall gefüllten, einachsigen Einkaufswagen hinter sich her. Diese Art von Einkaufswagen hatte früher auch Tanners Großmutter benutzt. Jetzt steht sie einen Moment still und atmet tief durch. Ihre grauen Haare sind straff nach hinten gekämmt und in einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengehalten. Sie trägt trotz der Hitze mehrere dünne Mäntel übereinander und dicke graue Strümpfe. Jetzt setzt sie ihren Weg fort und verschwindet aus Tanners Blickfeld hinter dem Busch. Da sie nicht wieder auftaucht, denkt Tanner, sie müsse schon wieder eine Verschnaufpause machen. In diesem Moment rauscht es in den Zweigen, und ein Schwarm Vögel schwirrt aus dem Inneren des Dickichts. Wie auf Kommando schießen sie heraus in die Freiheit. Im nächsten Augenblick sind sie schon verschwunden. In alle Himmelsrichtungen. Sind sie vom Auftauchen der Frau erschreckt worden? Und wo bleibt sie eigentlich? Tanner beschließt nach einer Weile, näher zum Busch zu gehen. Ohne Hast und so unauffällig wie möglich nähert er sich.

Plötzlich hört er Stimmen. Tanner bleibt stehen und lauscht. Zwei Stimmen sprechen ohne Punkt und Komma hastig aufeinander ein, gleichzeitig rascheln Papier und Laub. Tanner geht näher und erkennt jetzt die hohe Stimme, die gestern aus dem Busch heraus gesprochen hatte. Offensichtlich schimpft die Stimme mit der Frau, die sich energisch, aber mit gepresster Stimme zur Wehr setzt.

Batterien bring mir Batterien das machst du extra du bist eine Verdammte/ja ja immer brauchst du Batterien ich habe dir vor zwei Tagen welche gebracht warum hast du sie vergessen das machst du extra um mich zu quälen/das bildest du dir ein du quälst mich mit deinen ewigen Vorwürfen/Gottes Strafe soll dich treffen, der Wurm in meinem Ohr hat es mir gesagt/sei still du undankbarer Mensch was würdest du denn ohne mich machen/ich brauche auch wieder neue Zeitungen die hast du mir auch nicht gebracht du weißt dass ich sie zum Schutz gegen die Geister brauche die alten sind schon ganz verschwitzt/ja ja du du du brauchst brauchst und ich soll springen wenn es dem Herrn gefällt/schweig Alte gehe heim und bringe mir Batterien und nicht wieder die falschen die dicken runden die brauche ich und jetzt schweig ich muss beten/ja ja ja

Die Frau murmelt noch eine Weile Unverständliches. Als sie hinter dem Busch wieder sichtbar wird, ist ihr Einkaufswagen leer. Immer noch murmelnd und maulend geht sie zurück, in Richtung Fußgängerunterführung.

Tanner zieht sich leise zurück. Er will sich dem Wesen im Busch nicht mit leeren Händen nähern. Im nächsten Warenhaus findet er, was er sucht.

Diesmal geht er direkt auf den Busch zu. Von derselben Seite, wo die Alte stand. Da befindet sich anscheinend der Besuchs- und Lieferanteneingang. Tanner zitiert zu seiner Anmeldung die Frage, die er gestern Nacht aus dem Busch gehört hat.

Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern, ein Hund, ein Kind, ein Halm im Wind, die Reue einer Dirne?

Es bleibt still im Busch. Tanner neigt sich etwas vor, kann aber durch das enge Geflecht der Zweige und Blätter nichts erkennen. Wenn ihn jetzt jemand beobachtet hätte, ihn sogar gehört hätte, er müsste denken, Tanner sei nicht bei Trost, er sei sicher einer dieser durchs Radio Gesuchten. Gebeten wird um schonendes Anhalten. Na ja, wenn schon.

Vorsichtig beginnt er, mit beiden Händen in die Äste zu greifen. Bevor er sie richtig anfassen kann, schreit die Fistelstimme.

Wage es nicht, den Hakeldamach zu betreten. Wage es nicht, ihn auch nur zu berühren, sündiges Stück Fleisch. Ich allein bewohne den Blutacker. Die flammenden Schwerter meiner Erzengel werden dich zerfleischen …

Und wieder geht die hohe Stimme in mehrstimmigem Knurren und wilden Geräuschen von zähnefletschenden Hunden unter. Diesmal hört man aber deutlich, dass die Batterien des Tonbandes bald am Ende sind. Was gestern Nacht noch einigermaßen überzeugte, wird zum rührend lächerlichen Versuch, böse Geister vom Busch fern zu halten. Damit kann man aber höchstens kleine Kinder erschrecken. Oder vielleicht ganz kleine Hunde, die an den Busch pinkeln wollen. Tanner versucht das Tohuwabohu von Fistelstimme und mehrstimmigem Hundechor ab Konserve zu übertönen.

Ich will nichts Böses. Ich will nur mit Ihnen reden. Und ich bringe neue Batterien, die dicken runden, die sind doch richtig, oder?

Der Busch gibt abrupt Ruhe. Diesmal hört Tanner auch deutlich den Schalter des Tonbands. Nach einer Weile wiederholt er sein Anliegen.

Und ich möchte wirklich wissen, was das Größre ist vor dem Herrn … Lange Stille. Tanner rührt sich nicht.

Was glaubst du denn? Fragen muss man selber beantworten, sonst nützen die besten Antworten nichts. Aber überlege es dir gut!

Tanner verschränkt die Arme. Ja, was ist denn das Größere vor dem Herrn. Die Reue einer Dirne? Reue für was? Das klingt sehr moralisch. Angesichts der toten Michiko sowieso.

Am poetischsten wäre natürlich der Halm im Wind. Ein fast schon japanisches Bild. Die Schönheit an sich. Die Kunst. Ob die Kunst das Größte vor dem Herrn ist? Wohl kaum.

Am philosophischsten ist das Bild vom Apfelkern. Auch wenn er ausgespien wurde. Oder gerade dann. Das scheinbar Unwerte. Der Apfelkern ist winzig, äußerlich banal, unscheinbar, und doch birgt er Leben und es kann daraus ein großer, blühender Apfelbaum entstehen. Und im Laufe seiner Zeit wird er Tausende von Äpfeln produzieren. Und wieder Apfelbäume. Der unscheinbare Apfelkern birgt eine Explosion von Leben in sich.

Und was ist mit dem Kind? Als Antwort wahrscheinlich zu sentimental, auch wenn Jesus gesagt hat, lasst die Kinder zu mir kommen. Ein Hund? In dieser Art von Fragestellung ganz gewiss nicht die richtige Antwort. Also trifft Tanner seine Entscheidung. Kaum hat er sie ausgesprochen, juchzt der Busch auf.

Nein, falsch! Ganz falsch. Ganz daneben. Da wollte einer klug sein … philosophisch sein, ha, ha … völlig falsch gedacht. Ha, ha, falsch … falscher … am falschesten …

Die sonst schon hohe Stimme überschlägt sich und geht in ein heiseres Singen und Lachen über.

Argumentieren hat wohl keinen Sinn, überlegt Tanner, schweigt und wartet, bis der Anfall vorüber ist.

Du kannst die Batterien in die Kiste legen. Und morgen früh darfst du es wieder probieren … mit einer Antwort, meine ich, ha, ha … jeden Morgen eine Antwort. Wenn du die richtige weißt, werde ich mit dir reden … aber erst dann.

Tatsächlich schiebt sich zwischen dem Boden und der untersten Reihe von Ästen eine flache Holzkiste hervor und bleibt auffordernd vor Tanners Füßen liegen.

Seufzend legt Tanner die Batterien hinein. Sofort wird die Kiste in das undurchdringliche, blickdichte Gebüsch zurückgezogen. Und wieder hüllt sich der Busch in Schweigen. Tanner überlegt, ob er noch mal fragen soll, etwa gezielt nach der Toten im Brunnen, aber wahrscheinlich wäre die Antwort unter den gegebenen Umständen nicht ergiebig. Er muss sich wohl oder übel dem begonnenen Frageund-Antwort-Ritual unterziehen.

Wie mag dieser Mann in den Busch gekommen sein? Ist er einfach ein Clochard, der seinen Ort gefunden hat? Was hält ihn gefangen? Innerhalb des Busches kann er ja allerhöchstens zwei Quadratmeter Platz haben. Und wer weiß von seiner Existenz? Die Behörden ja wohl kaum. Und was ist mit den Gärtnern? Die werden doch die Anlage regelmäßig pflegen. Die müssen es ja wissen. Und wer ist die alte Frau, die ihm als Verbindung zur Außenwelt und als Versorgerin dient? Ist sie seine Frau? Der Dialog zwischen den beiden wirkte wie gehässige Eheroutine.

Ohne sich zu verabschieden, entfernt Tanner sich vom Busch. Jede Art von Verabschiedung wäre ihm lächerlich erschienen. Morgen wird er einen zweiten Versuch mit der Antwort machen. Die Alternativen sind ja an einer Hand abzuzählen. Hätte Tanner ein bisschen aufmerksamer auf die Umgebung des Brunnens geachtet, wäre ihm nicht entgangen, dass er nicht der Einzige ist, der sich für den Busch interessiert.

Das Gesetz des Wassers

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