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Taktgefühl

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Die quirlige Ute Weber hat vom ganzen Ort Geschenke bekommen, sogar von denen, die für ihren Geiz bekannt sind. Sie hat sich aber gar nicht so richtig darüber freuen können, weil es ihr so schlecht ging. Sie lag im Krankenhaus und konnte sich nicht bewegen, wenn sie bei sich war. Es hat über eine Woche gedauert, bis es hieß, Ute sei über den Berg.

Und das alles wieder mal wegen der Amis. Aber diesmal wegen böser!

Ute fährt einmal in der Woche zum Stenokurs nach Auenheim. Sie ist fleißig, weil sie mal genau so eine Chefsekretärin werden will, wie ihre Mutter. Diese arbeitet bei einem ganz wichtigen Direktor in der Kunstlederfabrik. Als dessen rechte Hand. Utes Vater ist im Krieg vermisst. Seine letzten Briefe, welche ihre Mutter wie ein Heiligtum hütet, kamen aus Russland. Frau Weber ist eine höfliche, leise und immer lächelnde Frau, die es nicht leicht hat. Glücklicherweise hat sie noch ihre Mutter und ihren jüngeren Bruder, die alle einträchtig zusammenwohnen und gemeinsam die Tochter erzogen haben.

Die Oma hat das mit vielen Büchern gemacht, die sie Ute vorlas und der Onkel mit Süßigkeiten. Der Onkel ist selber süß. Er heißt Bernd, hat kuschelige schwarze Locken und ein ausgesprochen jungenhaftes Wesen. Ich kenne die Familie, weil dieser Onkel ein Kollege von meinem Vater ist. Für meine Mutter ist er so eine Art Sohnersatz, sie hat immer ein Stück Kuchen oder eine Rippe Schokolade für ihn übrig. Jedenfalls etwas von den guten Sachen, die sie vor meinem Vater versteckt. Für Mama ist Schokolade nämlich reine Nervennahrung, die sie ab und zu braucht.

Als Ute das letzte Mal zum Steno nach Auenheim fuhr, hatte sie noch Zeit, bis ihr Bus kam. Da wurde es ihr zu langweilig. Kein Mensch außer ihr stand noch an der Haltestelle. Außerdem war es schon dunkel. So schlenderte sie eben mal gemütlich zum Bahnhof, um die Zeit totzuschlagen.

Frau Weber machte sich keine Gedanken, da sie ja wusste, dass Ute in ihrem Stenokurs war. Ihre Mutter saß im Wohnzimmer und hörte Radio und Bernd hatte seinen Tischtennisabend. Also war alles in schönster Ordnung, wie sonst auch. Sie bügelte in der Küche. Frau Weber bügelt so gern, dass sie sogar die Handtücher plättet. Bei dieser Arbeit kann sie nämlich so ganz nebenbei ihren Gedanken nachhängen, und sie tut trotzdem etwas Praktisches.

Plötzlich hörte sie so etwas wie einen dumpfen Aufprall an der Tür. Sie lief hinaus und erstarrte.

Ute lag vor der Tür!

Ihr Zustand muss grauenerregend gewesen sein, weil Frau Weber ganz entsetzliche Schreie ausstieß. Die ganze Straße hörte sie. Viele Leute rannten spontan zu ihr. Herr Peitzke, der in unserem anderen Hauseingang wohnt, hat von Frau Webers Telefon aus einen Krankenwagen gerufen. Die Firma hat Ihrer Chefsekretärin nämlich ein Telefon legen lassen, damit diese jederzeit erreichbar ist.

Der Rettungswagen war schnell da und Ute wurde ganz behutsam hineingehoben. Selbstverständlich ist Frau Weber mit ins Krankenhaus gefahren. Dort hat sie als Erstes eine Spritze gegen ihre Schreie bekommen. Dann durfte sie die ersten Untersuchungsergebnisse abwarten.

Ich besuchte Ute dann Zuhause und war entsetzt, weil sie immer noch ganz furchtbar aussah. Die ursprünglich tiefvioletten Flecke hatten alle möglichen Farben angenommen, sodass ihr Kopf jetzt eher einer Landkarte ähnelte. Sie rang sich ein Lächeln ab. Es wirkte ausgesprochen gequält, also musste es ihr sehr wehtun. Da tat ihr ein Lachen bestimmt erst recht weh. Deshalb empfahl ich Ute ernsthaft, sie solle das von mir mitgebrachte Buch erst dann lesen, wenn sie wieder ganz in Ordnung wäre. Denn sonst wäre sie gar nicht richtig gesund geworden, weil sie so viel hätte lachen müssen. Dabei sagen die Leute immer, Lachen sei die beste Medizin. Da sieht man mal wieder, dass die Erwachsenen doch nicht alles besser wissen, jedenfalls was die praktische Erfahrung angeht. Ute hatte ja noch so viele andere Geschenke. Das Zimmer sah fast wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag gleichzeitig aus. Ich war gar kein bisschen neidisch. Darüber habe ich mich selbst am meisten gewundert. Ich gönnte ihr all die schönen Sachen von ganzem Herzen. Ich fand ich es ganz toll, dass so viele Leute Ute eine Freude machen wollten. Auch wenn dieses Freudemachen was gekostet hat! Sogar die Amerikaner haben ihr Geschenke geschickt und nicht nur die Familien, bei denen sie Babysitter ist.

Ute hat mir alles erzählt, obwohl ich sie gar nicht danach gefragt habe. Schließlich habe ich ja genug Taktgefühl. Meine Mutter hat es mir gehörig eingetrichtert. Mit anderen Worten: Ich durfte Ute nicht mit Fragen löchern.

„Diese Sache ist schon schlimm genug, Ulli, wenn Du da auch noch mit Deiner Neugier kommst, reißt Du kaum vernarbte Wunden auf. Es ist vielleicht besser, wenn Du überhaupt nicht hingehst!“

Ich musste ihr hoch und heilig versprechen, weder Andeutungen zu machen, noch sonst etwas zu sagen, was diese Sache betraf. Nur mein Geschenk durfte ich abgeben und alles Gute wünschen. Das Ganze nennt man dann Takt haben.

Weil Ute sich ein bisschen die Zeit vertreiben wollte, ging sie zum Bahnhof. Da muss man am Damm entlang gehen. Das ist ein einsamer, dunkler Pfad, besonders im Winter. Plötzlich tauchten zwei Gestalten auf, die Ute nicht erkennen konnte. Aber sie merkte trotzdem, dass sie Uniformen trugen. Sie begriff zu erst gar nicht, dass die Männer es auf sie abgesehen hatten. Diese stopften ihr massenweise Papiertaschentücher in den Mund und warfen ihr einen Sack über den Kopf. Dann droschen sie mit Knüppeln auf sie ein, egal, wo sie gerade hin trafen. Das arme Mädchen konnte weder schreien, noch sich wehren, hilflos war sie den brutalen Gangstern ausgeliefert.

Bis sie von nichts mehr wusste.

Erst im Krankenhaus kam Ute wieder zu sich. Die starken Schmerzen weckten sie sicher. Wie sie sich nach Hause geschleppt hat, ist ihr nach wie vor schleierhaft. Das war wahrscheinlich instinktiv. Das sagen jedenfalls die Leute.

Überall in Kattenbach hängen jetzt Plakate, dass zwei Verbrecher gesucht werden. Der Text ist in der ersten Hälfte auf deutsch und in der zweiten Hälfte auf Englisch gedruckt. Es steht aber dasselbe drauf. Auch in der Stadt und in der Umgebung wurden die Plakate aufgehängt.

Die Leute reden pausenlos über den Überfall. Wo man auch hinkommt, man hört nichts anderes. Und Vermutungen über Vermutungen werden aufgestellt.

Frau Mühlbauer aus unserem Haus hat meine Mutter gefragt, ob sie die Sache mit Ute auch für einen Racheakt hielte.

„Wie kommen Sie darauf?“ hat Mama ganz erstaunt gefragt.

„Nun ja, die ist doch dauernd bei den Amis. Vielleicht hat sie dem Einen oder Anderen schöne Augen gemacht. Und dann hat sie ihnen die kalte Schulter gezeigt!“

Mama hat sich in eine kämpferische Pose geschwungen und unsere Nachbarin in einer auffälligen Weise gemustert:

„Also wissen Sie, das Mädchen ist gerade mal fünfzehn Jahre ...“

„Sicher, sicher, Frau Scholl, aber bei der Jugend heutzutage. Die haben doch alle nur ihr Vergnügen im Kopf!“

„Ute ist ein anständiges Mädchen!“ Ich konnte mich nicht beherrschen, meinen Senf dazuzugeben. „Außerdem ist sie so fleißig, dass sie neben der Schule abends noch Kurse macht. Und in ihrer Freizeit passt sie auch noch auf Babys auf!“

„Sei still, Ulrike“, ermahnte mich meine Mutter sanft „Das weiß Frau Mühlbauer auch.“ „Woher haben Sie eigentlich diesen böswilligen Klatsch“, wandte sie sich wieder an die Nachbarin. Die klappte den Mund auf und bekam ihn nicht mehr zu, als meine Mutter auch noch etwas von übler Nachrede sagte.


Die Männer im Ort sind da ganz anderer Meinung. Sie glauben, dass das alles politische Hintergründe hätte. Die Buben in meiner Klasse meinen, der Überfall auf Ute wäre ein kriminalistischer Fall. Sie sind zum Tatort gelaufen, um Spuren zu sichern. Die sind jedoch von einem kalten Nieselregen inzwischen vernichtet worden. Jetzt überlegen sie ernsthaft, ob die Gangster doch Deutsche sind. Vielleicht haben sie sich amerikanische Uniformen angezogen, um damit zu vertuschen, dass sie deutsche Verbrecher sind.

Großer Gott, wenn die Leute nur was zum Reden haben!


Wir haben jetzt eine anständige Beleuchtung in Kattenbach. Sogar auf dem Fußweg zum Bahnhof wurden Laternen aufgestellt. Der Gemeinderat hat sich dafür einstimmig eingesetzt, wie es heißt. Da es sich um den Schutz der eigenen Bürger dreht, fühlte jeder Einzelne seine Verantwortung und bewilligte die notwendigen Gelder sofort.

Die Straßenbeleuchtung kommt also jedem zugute. Aber die Schnäbel werden trotzdem heftig gewetzt. Ja, wenn es sich nicht um die Tochter einer wichtigen Chefsekretärin handeln würde, hätte der Ort sich diese Illumination bestimmt gespart. Aber so ...

Meine Mutter meinte zwar auch, dass der Brunnen erst abgedeckt wird, wenn das Kind reingefallen ist. Aber die Gemeinde hätte die Straßenbeleuchtung ganz bestimmt auf jeden Fall angeschafft, egal, wer überfallen worden wäre.

Jetzt hoffe ich nur noch, dass die Gangster geschnappt werden. Man sollte sie auch ordentlich verprügeln. Dafür sind sage und schreibe tausend Mark Belohnung ausgesetzt. Ich meine fürs Schnappen, nicht fürs Verprügeln.

Unser Herr Malek rennt jetzt dauernd mit wichtiger Miene herum, und seinen Schäferhund hat er auch immer dabei. Man kann gar nicht mehr unterscheiden, wer von beiden mehr schnüffelt, aber rausgekommen ist bisher noch nichts.

Leider!

Lockenkopf 2

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