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Ein atemberaubendes Kunststück

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Unsere Inge hat es gut. Sie braucht nicht mehr in die Schule zu gehen. Bevor sie und ihre Klassenkameradinnen jedoch ins Leben entlassen wurden, veranstaltete die Schule noch einen Elternabend. Meine Mutter ist seufzend hingegangen. Nach all den salbungsvollen Reden der Nonnenlehrerinnen kam eine normale Frau, die den Eltern in kurzen, verschämten Worten die Aufklärung ihrer Töchter ans Herz legte. Zu diesem Zweck verteilte sie kleine Heftchen. Mama nahm ihres mit rotem Kopf entgegen und gab es kommentarlos an meine Schwester weiter. Obwohl die Weitergabe in meinem Beisein erfolgte, wurde es mir streng verboten, das Heftchen zu lesen. Also hat Inge es so gut vor mir versteckt, dass ich es beim besten Willen nicht finden konnte. Dabei hätte ich mich doch auch so gerne aufgeklärt!

Jetzt macht Inge eine sogenannte Lehre. Deshalb darf sie jeden Tag mit dem Zug nach Frankfurt fahren. Ich beneide sie, denn ich fahre ja auch so furchtbar gerne mit der Eisenbahn.

Ein paar Mal war ich auch schon in Frankfurt. Da haben wir meistens Tante Lotte und Renate besucht. Die wohnen in einem langen schmalen Flur unterm Dach eines alten Hauses. Das ist genau so solide gebaut wie unseres und genau so zugig. Der Wind verfängt sich in den alten Mauern. Das hört sich an, als würden Gespenster heulen. Schön gruselig ist das. Aber ich bin sehr gerne dort. In einer richtigen Wohnung im selben Haus wohnt eine Frau Kraus, eine Witwe, die das Glück hatte, nicht ausgebombt zu werden. Das alte Haus blieb wunderbarerweise sogar im dichtesten Bombenhagel stehen. Frau Kraus ist eine ganz liebe alte Dame, die mit dafür gesorgt hat, dass Renate was auf die Rippen kriegte. In der schlechten Zeit hatte sie nämlich immer was zu essen für sie. Mal eine Scheibe Brot mit Handkäse, der zwar stinkt, aber trotzdem gut schmeckt. Oder auch mal Suppe, in der sogar Fleisch gekocht worden war. Manchmal gab es auch eine Hühnerkeule mit den dazu gehörenden Bratkartoffeln. Als ganz besonderen Leckerbissen steckte sie Renate ab und zu ein Stück Kuchen mit Falläpfeln zu. „Frau Kraus hat Organisationstalent und ein gutes Herz“, sagte Tante Lotte damals immer. Dieser guten Nachbarin verdankte Renate also auch, dass sie am Leben blieb. Das gute Futter gab ihr Kraft, als sie sehr schwer krank war. Damals glaubte sogar der zuständige Pfarrer, dass das Kind sterben müsse. Deshalb taufte er sie nicht nur noch einmal richtig, nein, er gab ihr sogar die Notkommunion. Das erste Mal, als unwissendes Baby hatte man sie nämlich evangelisch getauft. Der Priester wollte nur das Beste für das Kind. Es sollte in den richtigen Himmel kommen, zum katholischen lieben Gott. Aber der liebe Gott verzichtete Gott sei Dank auf Renates vorzeitiges Erscheinen bei ihm. Ja, sie konnte sogar noch mal ihre Kommunion feiern. Diesmal die normale. Sie trug ein ganz süßes Kleid. Das hatte ihr ihre Mutter aus einem nicht mehr benötigten Fallschirm zusammengenäht. Das Gebetbuch in der einen, eine riesige Kerze in der anderen Hand, sah Renate lieb, blass und fromm darin aus. Naja, schließlich kam der Stoff für ihr Kleid auch direkt vom Himmel.

Inge und Renate unternehmen jetzt öfter mal was zusammen. Tante Lotte soll ja bald eine richtige Wohnung bekommen. Da kann Inge dann auch in Frankfurt übernachten. Das beruhigt meine Mutter, weil Inge nicht mitten in der Nacht heimfahren muss. Aufpassen auf Inge und Renate tut Tante Lotte schon. Sie ist nämlich sehr streng und hat so eine herrscherliche Würde an sich, dass man ihr einfach gehorchen muss.

Inge darf ja jeden Tag mit dem Zug fahren. Morgens fährt sie eine Stunde hin und abends eine Stunde zurück. Dabei hat sie entweder Gesellschaft oder ein Buch. Es kommt vor, dass Inge einschläft wenn sie allein ist. Dann fährt sie an Kattenbach vorbei. Wenn sie Glück hat, wacht sie schon in Flörsbach auf. Da muss sie aber immer fast zwei Stunden warten, bis ein Zug wieder zurück nach Kattenbach fährt. Das ärgert wieder meinen Vater, weil er dann Hunger hat und niemand ihm die Kartoffeln aufsetzt. Mama arbeitet nämlich jetzt von zwei Uhr mittags bis zehn Uhr abends. Sie geht ganz in ihren chemischen Versuchen auf. Ich habe dabei immer eine leise Angst im Hinterkopf. Schließlich könnte das Labor ja mal in die Luft fliegen. Und sie mit. Da bekämen wir gar nichts mehr zu essen. Sie bereitet doch immer alles vor, Inge macht das Essen dann nur fertig. Ich würde das ja auch tun, aber man lässt mich ja nicht an den Herd. Und Männer sind dazu offenbar nicht fähig.

Es ist auch schon vorgekommen, dass wir nach Frankfurt zum Einkaufen gefahren sind. In Hanau bekommt man zwar auch alles, meine Mutter meint nur, dass es in der Großstadt billiger sein muss, weil es da mehr Konkurrenz gibt. Papa meint aber jedes Mal, dass man schließlich das Fahrgeld dazu rechnen müsste. Da hört meine sparsame Mutter aber überhaupt nicht hin. Sie fühlt sich in Frankfurt wohl auch ein kleines bisschen zu Hause. Immerhin hat sie einen großen Teil ihrer Jugend dort verbracht. Die Zeit, bevor sie Papa kennenlernte. Eben eine schöne Zeit, trotz der Verhältnisse. Ich jedenfalls freue mich auf die Eisenbahnfahrt und das Rumlaufen. Es gefällt mir, die Straßenbahnen zu zählen und die vielen Menschen zu beobachten. Die Leute hasten da alle so. Man scheint in der Großstadt viel weniger Zeit zu haben als an normalen Orten.

Froh bin ich, wenn ich Schuhe brauche, und die brauche ich öfter. Erstens gehen die bei mir immer so schnell kaputt, zweitens wachsen meine Füße. Wir kaufen die Schuhe meistens in einem Geschäft, in dem ich einen kleinen Gummiball geschenkt kriege. Aber nur, wenn wir wirklich Schuhe kaufen. Die sammle ich dann und übe damit jonglieren. Nicht mit den Schuhen, sondern mit den Bällen. Mit solchen praktischen Kenntnissen kann ich später vielleicht mal zum Zirkus gehen. Ich fürchte nämlich, dass ich doch keine Tänzerin werden kann. Ich bin schon zu alt. Für Ballettunterricht war eben kein Geld da.

Mit Milchkannen kann man auch jonglieren. Das hat mir neulich Gisi Simoneit gezeigt. Ich habe sie bei Frau Pfeffer getroffen. Sie hat auch Milch holen müssen. Aber nur einen Liter. Ich habe eineinhalb geholt, weil Samstag war und Mama selbst kochen konnte. Sie wollte Reisbrei mit Zucker und Zimt machen. Der lässt sich wochentags nämlich nicht vorbereiten, weil er bei Inge anschließend anbrennen würde.

Vor dem Laden hat Gisi mich gefragt: „Was gibst Du mir, wenn ich Dir ein atemberaubendes Kunststück zeige?“

„Nichts“, habe ich geantwortet.

„Wollen wir wetten, dass ich meine Milchkanne so rumschleudern kann, dass kein Tropfen verloren geht?“

Ich habe blitzschnell überlegt. Ja, auf diese Wette könnte ich eingehen. Wunder kann schließlich nicht mal Gisi vollbringen. Ich habe in meinen Taschen gekramt. Da ich meine Latzhose mit den sechs Taschen anhatte, hat es etwas länger gedauert. Aber ich habe was gefunden. Da hatte ich doch noch einen nagelneuen Kaugummi noch kein einziges Mal gekaut!

„In Ordnung, ich wette um einen Dubble Bubble!“

Ich habe den Kaugummi Gisi gezeigt. Er war zwar etwas zerdrückt vom längeren Aufenthalt in meiner Hosentasche, aber noch original verpackt. Trotzdem hat sie ihn mir abgenommen und mit halb zugekniffenen Augen geprüft, ob der Kaugummi schon benutzt worden war und nur wieder eingepackt wurde.

„Na gut“, sagte sie, „ich nehme den Kaugummi.“ „Wieso? Den kriegst Du erst, wenn Du die Wette gewinnen solltest.“

„Ich gewinne die Wette, Du wirst sehen!“

„Und was ist, wenn Du die Milch ausschüttest? Was kriege ich dann von Dir?“

Gisi blickte mich so treuherzig an, wie sie das beim Flaschensammeln macht, wenn sie weniger Flaschen als die anderen gefunden hat. Da wird sie immer ganz fromm und sagt: „Es wird christlich geteilt!“ Hat sie aber mehr leere Flaschen als die anderen erbeutet, heißt es: „Jeder soviel, wie er hat!“ Und jetzt sagt sie doch tatsächlich: „Dann kannst Du Deinen Kaugummi behalten!“

Ich bin einen Moment sprachlos: „Der gehört mir doch sowieso. Du musst mir was von Dir geben, so ist das nun mal beim Wetten, wenn man verliert.“ Wir einigten uns schließlich auf eine Murmel, eine große, mit der man die kleinen abwerfen kann. Die hatte ungefähr den Gegenwert meines Dubble Bubble. Gisi bildet sich viel auf ihre angeblich von ihrem Vater ererbte Intelligenz ein. Ihr Vater war Offizier im Krieg, ist aber trotzdem gefallen. Außer der Intelligenz wird sie auch das Aussehen ihres Vaters geerbt haben, denn ihre Mutter ist hübsch! So dumm bin ich aber auch nicht, dass ich mich von Gisi übers Ohr hauen lasse.

Allerdings war ich gar nicht so wild darauf, die Wurfmurmel zu gewinnen. Ich war einfach furchtbar neugierig, ob Gisi wirklich die Milchkanne mit einem Liter Milch so schleudern konnte, dass nichts daneben ging.

„Na, dann los, zeig mir, ob Du es schaffst!“

Sie stellte sich kerzengerade hin und sah sich gründlich um, ob auch ja niemand in der Nähe war. Es war keiner da, bloß ich. Da befahl sie mir mit hoheitsvoller Miene, einen Meter wegzutreten, von wegen der Fliehkraft. Ich trat weg und grübelte darüber nach, was sie mit Fliehkraft meinen könnte. Als ich Gisi danach fragte, zuckte sie nur mit den Achseln. „Wenn ich es Dir erklären würde, könntest Du das doch nicht verstehen. Es hat was mit Schleudern zu tun. Jetzt pass auf, Du wirst was Tolles erleben!“

Es war wirklich toll. Sie packte die Kanne ganz fest und schleuderte sie blitzschnell herum. So schnell, dass die Milch gar keine Zeit hatte, herauszulaufen. Wirklich, sie hatte keinen Tropfen verschüttet. Ich war so beeindruckt, dass mich der Verlust des Kaugummis kaum schmerzte.

„Wirklich toll, Gisi, meinst Du, das könnte ich auch lernen?“

Sie nickte gönnerhaft, während sie den Kaugummi schälte. „Du kannst es ja versuchen, aber ich glaube nicht, dass Du nur halb so gut schleuderst wie ich. Ich meine damit, dass man eine bestimmte Technik gewissenhaft lernen muss und den nötigen Grips dazu, naja, den muss man halt haben.“ Dabei grinste sie mitleidig, seufzte und blickte himmelwärts.

Diese Angeberei, ich spüre richtig, wie ich das Kribbeln im Bauch bekomme. Das ist Wut. Der werde ich es zeigen! Ich hole innerlich tief Luft, um nicht zu platzen und sage so ganz nebenbei:

„Natürlich, Du hast Recht, Grips muss man haben. Ich wette jetzt mit Dir, dass ich genauso gut schleudern kann wie Du!“

„Von mir aus, aber ich wette, dass Du eine ganze Menge verschüttest!“

„Und ich, dass kein Tropfen verloren geht!“

„Um was wollen wir wetten?“

„Ich gebe Dir den Kaugummi zurück“, sagte Gisi, „das heißt, wenn die Milch drin bleibt!“

Ich habe mich breitbeinig hingestellt, damit ich einen sicheren Stand hatte und die Milchkanne fest gepackt. Dann habe ich sie, innerlich frohlockend, mit all meiner Kraft geschwungen. Fast im selben Augenblick wurde ich blind und klebrig. Nachdem ich mir die Augen gerieben hatte, konnte ich zwei Dinge feststellen: Gisi lachte sich halb tot und ich hatte die Kanne gegen einen Baum geschleudert. Ich hatte vergessen, mich vorher genau umzusehen. Das erzielte eine Doppelwirkung. Die Milchkanne wurde total zerbeult und die Milch lief mir über den Kopf, um an meinem Körper zu versickern. Eineinhalb Liter!

Milch futsch, Geld für die Milch futsch, die Kanne kaputt und meine Frisur ist auch hin. Ach ja, da war ja auch noch der Dubble Bubble. Nur eins ist gut, Milch soll die Haut zart machen. Berühmte Kaiserinnen haben sogar täglich in Milch gebadet.

Leider interessiert sich meine Mutter nicht besonders für Hautzartmacher. Wie soll ich ihr das nur wieder erklären!?


Lockenkopf 2

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