Читать книгу Lockenkopf 2 - Ursula Essling - Страница 8
Wahrsagen ist doch ganz einfach
ОглавлениеWenn das Wetter einigermaßen mitspielt, spielen wir Kattenbacher Kinder immer noch am liebsten draußen. Man trifft sich halt, mal hier, mal dort, mal anderswo. Da sind dann sogar große Mädchen dabei, die schon Busen haben. Aber auch pfiffige kleine Kinder, die daheim nur stören. Mit den Kindern in meiner Altersklasse lässt sich logischerweise am meisten anfangen. Wir sind normalerweise in einem gesunden Mischungsverhältnis vertreten. Nämlich Buben und Mädchen. Außerdem sind wir noch nicht so abgeklärt und müde wie die langweiligen Halbstarken. Gut, die dürfen auch so sein, denn für sie kommt sowieso bald der große Schock, den man das wirkliche Leben nennt. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich immer: „lebt man bis dahin denn falsch?“
Am liebsten spielen wir „Bunter Abend“. Da kann jeder irgendwie mitmachen, denn da kommt es einzig und allein auf die Einfälle an. Und die haben wir.
Gisi Simoneit bestimmt, das wir „Modenschau“ spielen. Natürlich! Sie hat ja auch schon von sich behauptet, sie sei das geborene Mannequin. Die Leitung hat Magda Schultheiss aus der achten Klasse. Sie trägt eine Brille mit ganz dicken Gläsern und kann das ganz toll. Bei ihr fühlt sich nämlich alles so echt an. Außerdem hat sie eine so durchdringende, jammervolle Stimme, dass sie überall zu hören ist. Da sie eine etwas unglückliche Figur besitzt, führt sie selbst nicht vor. Ihre Beine gleichen Säulen. Und mit diesen Stampfern kann sie unmöglich zierlichen Schrittes über den schmalen Laufsteg trippeln. Das weiß sie aber selbst, denn ihre Eltern sagen es ihr oft genug. Dafür hat sie aber das Sagen, beziehungsweise das Ansagen. Ihre Klassenkameradin, die farblose Brigitte, unterstützt sie dabei. Sie nennt sich Assistentin und lässt jedes Mal ihr spitzes Kinn vorschnellen, wenn das nächste Mannequin dran kommt.
Die Vorbereitungen für die „Modenschau der Saison“ sind schnell getroffen. In Windeseile werden die Kleiderschränke der in der Nähe wohnenden Mütter ausgeräumt. Auch ein paar Jungen machen mit. Sie nehmen sich die Garderobe ihrer Väter vor und nennen das Ganze organisieren. Selbst wenn eine der Mütter aus dem Fenster gucken sollte, besteht für die Vorführenden keine Gefahr. Wir sind nämlich gerade außerhalb der Sichtweite. Jenseits von Hof und Bleichwiese des Gemeindehauses. Dafür aber ganz nahe am Wäldchen mit seinen vielversprechenden Huppeln, die im dreißigjährigen Krieg als Schanzen dienten.
Die Mädchen haben sich im Nu in wunderschöne Mannequins mit klingenden Namen verwandelt. Da schwebt die unwiderstehliche Rosa von Schaumburg in einem Ensemble vorbei, das die Ansagerin nur als „Hingehauchten Traum in Himmelblau“ bezeichnen kann. Der Eingeweihte erkennt natürlich sofort Frau Simoneits bestes Sommerkleid. Da der Ausschnitt ihrer Tochter über den Nabel hängt, hat diese einen Langschal mit türkischem Muster darüber drapiert. Dafür hat sie viel Beifall bekommen, den sie mit einem gnädigen Nicken entgegen nahm.
Auch Rita ist ganz große Dame mit überlanger Zigarettenspitze und rotem Kussmund. Sie trägt ein kleines Schwarzes. Das passt ihr sogar fast, weil es von ihrer älteren Schwester stammt. Nur ein bisschen zu lang ist es. Deshalb nennt es Magda auch „Abendkleid mit Schleppe“. Für Ritas Schwester ist es nur ein Kleid bis zu den Füßen. Bei Rita hingegen schleift es so richtig durch den Dreck. Das Kleid muss man nämlich beim Gehen vorne raffen, damit man nicht über die eigenen Füße fällt. Hinten fällt es dafür über die Planke und die ist über eine Pfütze gelegt, die überschwappt. So saugt sich die Schleppe mit Schmutzwasser voll und wird daher sehr schwer für die Trägerin. Magda in ihrer Eigenschaft als Ansagerin macht das Publikum extra noch auf diesen Umstand aufmerksam. Durch die Reihe der Zuschauer geht daraufhin eine Welle reinster Schadenfreude.
Auch Harald Grunz, der die Jagdjoppe von seinem Vater anhat und dessen Schlapphut, wird sehr beklatscht. Im Jackeninneren hat er mehrere Bierflaschen fest gemacht. Darüber hat er Zettel geklebt auf denen „Jägertee“ steht. Er findet sich originell, alle anderen finden ihn bemitleidenswert. Da das ganze Zeug nur so an ihm runterhängt, wirkt er eher wie ein Wilderer, der nie was trifft und deswegen halb verhungert ist.
Ansonsten werden meistens die Kittelschürzen der Mütter vorgeführt. Aber Magda preist sie mit weitausholenden Gesten und immer lauteren Misstönen an. So macht sie aus den Schürzen die Modellkleider der kommenden Saison.
Zuletzt, wie es sich gehört, kommt die Braut, das ist die super dünne Elli. Der spitzenbesetzte Unterrock macht aber wirklich etwas her. Darüber trägt sie ein weißes Hemd von ihrem Vater. Das soll die passende Jacke zum Hochzeitskleid darstellen. Die weißen Pumps von ihrer Mutter gestatten Elli selbst nur eine vorsichtige Trippelei. Aber das kommt gut an. Geht man denn nicht auch vorsichtig in die Ehe?
Ich habe eigentlich nur zugesehen. Denn, wenn ich mir Mamas Sachen ausgeborgt hätte, hätte es nur Ärger gegeben. Ich hatte auch keine Lust, mich in die Klamotten rein zu zwängen. Schließlich habe ich andere Talente. Das hatte ich noch nicht einmal fertig gedacht, das mit den „anderen Talenten“, als Magda die Modenschau beendete und den neuesten Programmpunkt ankündigte.
Das war ich!
„Meine Damen und Herren“, jammerte Magda, „jetzt kommen wir zum Höhepunkt unseres Programmes. Es ist uns gelungen, Madame Ulrike, die weltberühmte Wahrsagerin, zu engagieren. Applaudieren Sie Madame Ulrike, meine Herrschaften, applaudieren Sie!“ Statt des erwarteten dröhnenden Applauses erfolgte ein Abklatsch davon. Magda sah mich schelmisch von der Seite an und rückte mich zurecht. So stand ich jetzt mit knallrotem Kopf und zitterndem Herzen auf einer kleinen Erderhebung, die man vor über dreihundert Jahren gebaut hatte. Rundherum, eine Etage tiefer, saß das Volk im Gras und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Hätte ich nur nicht mit meiner Stiefgroßmutter so angegeben, die wirklich die Zukunft aus den Karten lesen kann. Dabei wusste ich nicht einmal, wie sie das machte. Denn ich wurde immer in den Garten geschickt, wenn Tante Lotte anfing, die Zukunft zu ergründen. Da fiel mein Blick auf Gisi, die sich schon heimlich die Hände rieb. Na, warte!
Eigentlich war das „in die Zukunft sehen“ gar nicht so schwierig. Man musste sich nur die betreffenden Leute genau ansehen und ein bisschen Fantasie entwickeln. Ich straffte mich und wuchs gleich um ein paar Zentimeter. Schließlich hatte ich in der Vergangenheit erfolgreich Hühner hypnotisiert. Warum sollte ich den Kindern, die mich jetzt genau wie diese einst fixierten, nicht auch das sagen können, was sie hören wollten?
„Treten Sie vor, meine Herrschaften, lassen Sie sich die Zukunft vorhersagen, nutzen Sie diese einmalige Gelegenheit!“ Magda bohrte ihren brillenbewehrten Blick in den meinen und quäkte: „Brauchst Du irgendwas?“
Ich überlegte. Eine große Kristallkugel könnte ich gebrauchen, aber woher soll man die nehmen? Die dicken Glasmurmeln sind dafür viel zu klein. Aber ein Eimer mit Wasser ginge ja wohl auch. Allerdings wusste ich ganz genau, dass ich das Wasser durch die Kraft meines Geistes auch nicht bewegen konnte. Daher schüttelte ich den Kopf:
„Nein, nein“ erwiderte ich und versuchte, meiner Stimme einen hohlen Klang zu geben. „Ich versetze mich jetzt in Trance. Dann verströme ich meine seelischen Kräfte für Euch, die ihr wissen wollt, wer Ihr seid und was Euch in diesem Leben noch erwartet!“
Ich versuchte, mir einen völlig leeren Gesichtsausdruck zu geben und das ist sehr schwer. Denn wenn man das will, dann kommen die Gedanken erst recht. Also rollte ich mit den Augen und ließ sie über mein erstes Opfer schweifen. Siehe da, ich erwischte die mustergültige Edeltraut. Die hatte schon so etwas leicht Verkniffenes in ihrem jungen Gesicht. Auch ihre kalkweiße Haut hatte einen leicht grauen Schimmer. Das zeugte davon, dass sie nicht viel an die frische Luft kam. Also eine Stubenhockerin und Bücherfreundin. Ich ließ meinen Zeigefinger gekonnt auf sie zuschnellen.
„Du“, ertönte es aus den Tiefen meines Brustkorbes, „Du liebst nichts so sehr wie das Wissen, das Du aus den Büchern heraus saugst. Aber die Menschen um Dich herum, die sind Dir egal!“ Das klang schon einmal gut. Jetzt fiel mir auch noch ein, das gerade Edeltraut bei jeder Unterhaltung, aber auch, wenn man nur mal so daher redete, das letzte Wort hatte. Sie setzte immer noch eines drauf, denn sie wusste tatsächlich alles besser.
„Du wirst einmal Lehrerin!“
Irgendwie fand ich, dass ein anderer Beruf für Edeltraut undenkbar wäre. Die Versammlung zu meinen Füssen war merklich stiller geworden. Hier und da hörte ich ein Schlucken. Edeltraut selbst schlug die Augen nieder und verkrümelte sich in die Zuschauerreihe.
Na, das ging doch. Wahrsagen ist doch ganz einfach.
Magda brachte die nächste Kandidatin. Das war meine Freundin Rita.
„Was für ein ausgeglichener ruhiger Mensch Du bist“, säuselte ich mit geisterhafter Stimme. Meine Hand beschattete mit einer ausholenden Geste meine Augen. „Deine Zukunft ist die Nähmaschine, Du wirst Schneiderin. Ja, Du wirst dermaleinst für die Großen dieser Welt Kleider nähen“, fügte ich großzügigerweise hinzu. Rita hatte ich gern, der wollte ich was Gutes tun. Außerdem wusste ich, dass sie Schneiderin werden sollte. In Handarbeit hatte sie nämlich eine Eins und ihre Mutter war immer für etwas „Nützliches“.
Aber jetzt kam Gisi Simoneit. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah mich herausfordernd an. Sie wirkte unwahrscheinlich überzeugt von sich. Ich hätte ihr so gerne gesagt, dass sie bis zum Ende ihrer Tage zum Flaschensammeln verdammt wäre. Aber das ging nicht. Irgendetwas stoppte mich. Hatte ich vielleicht doch gewisse geistige Kräfte?* Tief tauchte ich in ihren unverschämten Blick ein. Aber das Biest ließ sich überhaupt nicht verunsichern. „Ich sehe einen Mann in Deinem Schatten“, begann ich. Dieser Mann ist groß und schwer und eine wichtige Persönlichkeit!“
„Hat er Geld?“ Gisi grinste abfällig.
„Du heiratest ihn und wirst dadurch eine Dame!“ Ich sah den zukünftigen Ehemann von Gisi förmlich vor mir. In einem grauen Einreiher, der über dem gewaltigen Bauch spannte. Dazu passend ein Dreifachkinn und eine Halbglatze. Ich wusste, das würde Gisi alles nicht interessieren. Hauptsache, sie wurde eine große Dame. Aber diese Wünsche sollten nicht so ganz glatt in Erfüllung gehen. Deshalb fügte Madame Ulrike noch schnell was Schlimmes hinzu:
„Doch bevor Du heiratest, schlägt das Schicksal auch bei Dir zu. Eine Strecke des Leides musst Du gehen!“
Doch sie ging erst mal nach Hause. Es hatte zu regnen angefangen. Die Runde zerstreute sich langsam. Da kam Paul auf mich zugeschlendert. Lässig, zum Verreisen bereit. Denn die Hände hatte er schon eingepackt.
„Kannst Du mir nicht auch mal was über meine Zukunft sagen?“
„Was?“
„Naja, ob vielleicht doch noch was aus mir wird?“
„Aber das ist doch alles nur Spielerei, willst Du mich verhöhnen?“
„Ich dachte…“, druckste er herum, „naja, Du machst das so echt, also wirklich gut!“
Er bekam seine Wahrsagerei. Ich stellte mich in Positur und verinnerlichte meinen Blick ganz tief. Trotzdem konnte ich keinen Förster oder so was Ähnliches in ihm erkennen. Aber vor meinen geistigen Augen erschien er mir plötzlich erwachsen geworden, ohne Rotznase und im Anzug. Aus ihm wurde etwas. Er gab anderen Leuten in Arbeitsuniformen Befehle.
„Du wirst mal Ingenieur“, sagte ich fassungslos. Nun hatte ich aber auch genug, denn der ganze Auftritt wurde mir selbst langsam unheimlich.
Paul brachte mich nach Hause, in der vergeblichen Hoffnung, noch mehr über sich zu hören.
*Hatte Ulrike diese geistigen Kräfte wirklich? Vielleicht in einem gewissen Masse! Viele Jahre zogen ins Land und aus den Kindern wurden Leute. Aus den Spielen wurde Ernst.
Edeltraut ging in den Schuldienst. Als Grundschullehrerin durfte sie nicht nur, nein, sie musste sogar alles besser wissen. Rita wurde ganz selbstverständlich Schneiderin. Gisi erlebte viel Kummer. Doch sie fasste recht bald Fuß in der städtischen Gesellschaft und wurde wirklich eine Dame.
Die größte Überraschung bot jedoch Pauls Schicksal. Bei ihm fiel der Groschen noch rechtzeitig und er setzte sich auf den Hosenboden. So machte er eine erstaunliche Karriere als gefragter Ingenieur.
(Anmerkung der Autorin)