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Bei uns verrohen die Sitten
ОглавлениеIn Kattenbach verrohen die Sitten.
So stand es jedenfalls im Stadtanzeiger. Und das alles nur, weil ein Amerikaner in der Öffentlichkeit sein Auto gewaschen hat.
Es war einer von den Amis, die in deutschen Häusern wohnen. Also mitten unter normalen Kattenbachern. Die Autos bei uns gehören ja auch fast alle den Amerikanern. Die Häuser gehören ihnen aber nicht. Sie dürfen nur drin wohnen, solange sie in Deutschland sind. Wenn die Heimat sie wieder hat, kommen neue Amerikaner da rein. Allerdings haben die Regierenden in Amerika versprochen, dass die Kattenbacher Hausbesitzer eines Tages wieder selbst in ihre Häuser einziehen dürfen. Das geht aber erst, wenn ausreichend Wohnungen für die Besatzungsmacht gebaut worden sind.
Wir waren gerade mit dem Rad unterwegs, Gisela Bollmann und ich. Es ist Gilas Fahrrad, aber ich sitze auf ihrem Rücksitz. Ich kann nämlich nur mit Mamas Schrottvehikel fahren, wenn sie es nicht selbst braucht. Sie benutzt es, um zur Arbeit zu fahren oder in die Stadt zum Einkaufen.
Wir haben vor dem Feuerwehrhaus eine riesige Menschenansammlung gesehen. Da mussten wir natürlich hin. Als wir ankamen und uns durch die Menschen durchgewurstelt hatten, sahen wir, dass die Leute gar nicht vor dem Spritzenhaus standen, sondern daneben. Gila hatte ihr Rad abgeschlossen und an einem Baum abgestellt. So hatten wir freie Hand.
Da stand ein riesiger Ami mit rotblonden Haaren. Nicht nur auf dem Kopf hatte er die, sondern auf dem ganzen Körper verteilt. Das konnte man deshalb so gut sehen, weil er nackt war.
Und er hat sein Auto gespritzt!
Aber nicht mit dem Wasserschlauch, der neben ihm lag. Nein, er benutzte das, was die Männer zwischen den Beinen haben, dazu.
Er kümmerte sich überhaupt nicht um die Zuschauer, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf sein Werk. Es war trotz der vielen Menschen unglaublich still. Man hörte nur das „pling pling“ des Pipistrahls auf das Auto klatschen. Wie lange der schon nicht mehr auf der Toilette gewesen sein musste!
Wir haben fasziniert hingeschaut, aber ich muss sagen, dass ich mich auch geschämt habe. Obwohl ich nicht genau weiß, warum. Leider wurde das Schauspiel durch zwei Polizisten in amerikanischer Uniform beendet. Kaum war der rötliche Ami weggeführt worden, war es aus mit der Stille. Die Leute redeten wild durcheinander. Alles war entrüstet.
Ein junger Mann, der mit einem Mikrofon rumfuchtelte, fragte gerade eine dünne Frau mit mausfarbenen Haaren, was sie von der Sache hielte.
„Ich bin entsetzt, die Sitten in Kattenbach verrohen immer mehr!“
„Oje, das ist ja Frau Mühlbauer aus unserem Haus, die verpetzt mich bestimmt wieder bei meinen Eltern, weil ich mir so was angeschaut habe.“
Da stößt mich Gila an:
„Die hat es gerade nötig, sich aufzuregen. Ich habe vorhin fast neben ihr gestanden. Was glaubst Du, wie gierig die geguckt hat?“
So ist es gekommen, dass die Zeitung schreibt, bei uns würden die Sitten verrohen.