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Eine kulturelle Bereicherung

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Wir haben ein richtiges Zirkuskind in unserer Klasse. Ethelka Ungeheuer heißt sie. Sie sieht aber trotzdem ganz normal aus mit ihren braunen Zöpfen und ihren grauen Flanellhosen. Ethelka ist bei uns, weil die Zirkussaison zu Ende ist. Sie bleibt den ganzen Winter über. Das Mädchen geht übrigens immer nur im Winter zur Schule. Die übrige Zeit arbeitet sie im Zirkus ihrer Eltern als Artistin. Der Zirkus hat acht Menschen und sieben Tiere. Also insgesamt fünfzehn Artisten, die täglich auftreten. Ethelka ist als Einzige davon noch schulpflichtig. Obwohl sie jetzt erst in der fünften Klasse ist, muss sie nur noch zwei Jahre die Schulbank drücken. Danach ist Ethelka frei, weil sie ihre acht Jahre Schulpflicht abgesessen hat. Jedenfalls im Winter.

Ich bin auch schon bei Ethelka zu Hause gewesen. Sie wohnt in einem großen Wohnwagen mit ihren zwei Brüdern und ihren Eltern. Daneben steht noch ein Wagen, da wohnt der Rest der Truppe drin. Dann haben sie noch so eine Art Stallwohnwagen, da leben die drei Affen und das Pferd. Die drei Hunde sind bei Ungeheuers im Wagen. Da können sie sich auch nützlich machen, wenn kein Zirkus ist. Zwei davon sind Pudel, wie mir Ethelka erklärte. Sie sind nicht nur als Tanzhunde abgerichtet, sondern wurden außerdem auch noch praktisch erzogen, denn sie bringen Herrn Ungeheuer immer die Hausschuhe. Mich haben sie furchtbar angebellt. Aus Sicherheitsgründen habe ich mich da hinter Ethelka gestellt. Auch der Spitz hat laut gebellt, als er mich sah. Aber das ist seine Pflicht, zumindest im Zirkusprogramm. Da unterstützt er nämlich, schick wie ein Musketier, durch sein zustimmendes Bellen die Ansagen des Zirkusdirektors.

Ich war enttäuscht. Zirkusleute habe ich mir nämlich ganz anders vorgestellt. Bunter!

Frau Ungeheuer hat blond gefärbte strähnige Haare und sieht aus wie eine schlampige Hausfrau. Ich kann sie mir gar nicht so recht als Kunstreiterin Diana vorstellen. Da trägt sie nämlich ein goldenes Kostüm mit einem ganz kurzen Röckchen und einen Federbusch im Haar. Jetzt hat sie eine geblümte Kittelschürze an. Eine von der Sorte, wie sie Frau Mühlbauer immer trägt.

Ich habe Malzkaffee in einem Pappbecher bekommen. Er wurde aber vorher ausgespült. Ethelka hat mir ihre Kostüme gezeigt. Das, was sie bei ihren Reitkunststücken anhat und das für die Affendressur. So was Schönes habe ich noch nie gesehen. Ich dürfte diese Kostüme aber bestimmt nicht anziehen, nicht etwa nur wegen ihrer Kürze. Kurze Kleider habe ich ja selbst, eigentlich sind das eher zu kurz gewordene, weil ich aus denen rausgewachsen bin. Ich ziehe immer an den Röcken, um sie etwas zu verlängern, aber das bringt meistens nichts. Das hat man nun von der guten Qualität, die lässt sich nicht ausdehnen, wächst aber auch nicht mit. Die Zirkuskostüme sind jedoch von einer Farbenpracht und glitzern so toll, dass meine Mutter sie nur als auffallend bezeichnen würde. Mütter haben halt keine Fantasie!

Die Zirkusfamilie ist froh, dass ihr von unserer Gemeinde erlaubt wurde, am Sportplatz zu überwintern. In vielen Orten hat man sie nämlich abgelehnt. Dabei sind sie eher eine kulturelle Bereicherung für das bürgerliche Leben. Das meint jedenfalls Ethelkas Vater. Dieser arbeitet als Zirkusdirektor und Akrobat. Aber als einer mit falschen Gewichten, das hat mir seine Tochter anvertraut. Er sieht auch eher wie ein wildgewordener Musiker aus mit seiner dunklen Löwenmähne und seiner dürren Gestalt.

Herr Ungeheuer war übrigens nicht immer beim Zirkus. Er hat da hineingeheiratet. Ursprünglich besserte er mal Zelte aus. Genau wie der Apostel Paulus, wenn der mal nicht gerade rumgezogen ist, um sein Evangelium unter die Leute zu bringen.

Eines Tages gab es einen Sturm, der so furchtbar war, dass das Zirkuszelt seiner späteren Schwiegereltern riss. Sie suchten jemand, der das riesige Loch fachgerecht und dauerhaft nähen konnte. Kleine Risse konnten sie natürlich selbst reparieren. Da fanden sie Herrn Ungeheuer. Naja, der blieb dann ganz beim Zirkus, weil er sich in das einzige Kind des Direktors verliebt hatte. Jetzt brauchen sie keinen Zeltmacher mehr zu holen, wenn es mal wieder stürmt. Sie haben ja immer einen griffbereit und dadurch diese Ausgabe gespart.

Aber der Zirkus heißt nicht Ungeheuer, sondern immer noch Zirkus Spärlich. Unser Lehrer lehnt Ethelka auch ab, nur nicht beim Turnen. Da muss sie uns jetzt die Übungen vormachen. Und das macht sie mühelos. Sogar Barbara, unsere Beste, staunt. Wenn sich Ethelka an den Ringen hochzieht, macht sie kerzengerade Kerzen und tolle Überschläge. Bei mir langt es noch nicht mal zum Hochziehen!

Beim Bockspringen gleitet sie elegant über den Bock und übersieht Herrn Lorbachs Hilfestellung. Sie ist die Einzige, bei der er nicht sein Sprüchlein aufsagt: „Kommt in meine Armee!“ Da meint er, er wäre witzig. Die Arme streckt er ja aus, aber heimlich denkt er doch an seine heiß geliebte Armee. Ich darf aber nicht ungerecht sein, eben dieser Armee verdanken wir nämlich viele nicht abgehaltene Unterrichtsstunden. Wir müssen ihn nur ins richtige Fahrwasser bringen, dann schwimmt und schwelgt er in seiner Hauptmannszeit.

Das tut er umso lieber, seit er ein größeres Publikum vor sich hat, das ihm zuhören muss. Kraft seines Amtes als Schulleiter hat er nämlich die Klassen umorganisiert. Die Kleinen, das heißt, die erste und die zweite Klasse hat Frau Kaiser. Herr Löwer unterrichtet die dritte und die vierte Klasse. In diesem Alter benötigen die Kinder besondere Aufmerksamkeit, sonst lernen sie nichts. Außerdem ist Herr Löwer noch jung genug, um die nervliche Belastung, die diese Altersstufe mit sich bringt, zu verkraften. Den Rest, die fünfte bis achte Klasse, unterrichtet Herr Lorbach persönlich. Rechts vom Mittelgang sitzen die Großen. Die arbeiten im Stillen, während die Unterstufe mündlichen Unterricht hat. Umgekehrt ist das genauso. Während wir das weiße Papier unserer Hefte anstarren, arbeitet unser Lehrer mit der Oberstufe. Damit er zwei Klassen gleichzeitig belehren kann, bringt er jeweils das eine Jahr der unteren Klasse den Stoff für die Nächste bei. Dann wird das Ganze wiederholt. So bleibt er im Lehrplan. Oh, unser Lehrer ist wirklich schlau, alles, was recht ist. Sonst wäre er ja auch nicht zum Chef der Schule aufgestiegen. Seit er Schulleiter ist, hat er auch nicht ein einziges Mal mehr auf die Regierungspartei von Kattenbach geschimpft.

Allerdings hat das auch seine Schattenseiten. So entstehen nämlich die Blasen und Nieten, wie Herr Lorbach sie nennt. Die sitzen offiziell wegen ihres Bildungsstandes oder besser gesagt, Bildungsnotstandes, ganz vorn. Gegen die hat er was, das spürt man. Sie reizen ihn irgendwie. Dabei trug er selbst zu ihrem Entstehen bei. Sie haben nämlich anfangs die Ansprüche an sie nicht kapiert, da sie vom Alter her ja noch nicht so weit waren. Und das Nichtverstehen begleitet sie dann so Jahr für Jahr, mit und ohne Sitzenbleiben.

Zu denen hat er Ethelka gesetzt. Eben, weil er auch gegen sie was hat. Neulich hat er sich auf dem Schulhof mit Herrn Löwer unterhalten. Es ging wohl nicht um seine üblichen wohlmeinenden Ermahnungen. Ich schnappte nämlich auf, als er sagte: „Ach wissen Sie, fahrendes Volk ist und bleibt fahrendes Volk!“

Herr Lorbach hat aus seiner glorreichen Vergangenheit noch ein Stück Silber im Kopf. Und das erhitzt sich manchmal. Und wir müssen das ausbaden. Heute ist wieder so ein Tag. Während wir unser Morgenlied schmettern, läuft er hin und her, her und hin. Dabei verschränkt er die Hände hinterm Rücken und starrt finster den Boden an. Wir haben gerade „... in die Hütten ist der Schein gedrungen ...“, gesungen, als er uns unwirsch und völlig grundlos unterbricht:

„Ich wollte, in den Hütten wäre der Schein gedrungen!“

Hartmut Hütten, der ganz vorn sitzt, kriegt einen roten Kopf. Er hat ja heute noch gar nichts gemacht.

„Die Silberplatte kocht wieder“, flüstert meine Freundin Rita hinter vorgehaltener Hand. „Das fängt ja gut an!“

Wir haben Geschichte. Gerade haben wir Napoleon fertiggemacht. Der sitzt jetzt auf Sankt Helena, und die Geschichte geht ohne ihn weiter. Ich habe dieses Fach jetzt gern und deshalb auch keine Fünf mehr. Das kommt daher, dass wir nicht mehr nur die Zahlen auswendig lernen müssen. Außerdem passiert in Geschichte immer was. Da habe ich zum Beispiel einen herrlichen Film gesehen. Er hieß „Die Ritter der Tafelrunde.“ Da hatten die Frauen so wunderbare Kleider an. Und sie waren alle schön, egal, ob sie gut oder böse waren. Die Ritter sind Helden gewesen und haben die sauberen Taschentücher ihrer Herzensdamen beim Turnier getragen. Der Film war zum Schluchzen schön, obwohl er traurig ausging. Jedenfalls hat mich der großartige Atem der Geschichte angeweht. Daher habe ich beschlossen, mich diesem auch in Zukunft nicht mehr zu entziehen.

Manchmal kann Herr Lorbach uns trotz allem auch in Geschichte Nerven kosten. Das kommt daher, weil er sich nicht auf das Wesentliche beschränken kann. Wie beispielsweise jetzt. Fragt er doch, wer Kotzebue ermordet hat. Gut, der ist ermordet worden. Das reicht doch. Warum will er denn noch wissen von wem? Dieser Dichter wäre doch heute so und so tot. Auch wenn er nicht, oder sogar wenn er erst hundert Jahre später ermordet worden wäre.

Wie nicht anders zu erwarten, ist die Klasse geschlossen ruhig. Kein Finger schnellt in die Höhe.

„Wer hat August von Kotzebue ermordet?“

Anhaltende Stille. Nur das Schwätzen der artigen Anita hinter ihrer hohlen Hand ist für Eingeweihte zu vernehmen. Für alle anderen, die glauben, dass Anita ihre Eins in Betragen wirklich verdient hat, ist es Fliegengesumm.

Plötzlich kommt von den vordersten Linien eine ganz klare Antwort:

„Sand!“

Alles schnellt herum, um auf einen zaghaften, halb hochgereckten Finger zu starren. Dieser Finger gehört Hugo Wagner. Natürlich erwarten wir in unserer Sprachlosigkeit, dass unser Lehrer sofort sagt, das sei falsch. Hugo sagt nämlich nie etwas, er ist überhaupt sehr zurückhaltend.

Herr Lorbach schluckt erst mal:

„Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder! Woher weißt Du das?“

„Sie haben es uns doch selbst erzählt“, sagt Hugo.

Unser Lehrer blickt streng auf die gesenkten Köpfe seiner Schüler. „Sehr gut, Hugo. Vielleicht kannst Du denen da noch erzählen, warum Kotzebue von dem Studenten Karl-Ludwig Sand getötet wurde?“

Aber Hugo hatte sich schon total verausgabt und sank wieder in sich zusammen und in seine normale Stellung zurück.

Rita schiebt mir einen Zettel zu. Auf diesem steht: „Kotzebue kotzt mich langsam an.“ Über dieses sinnvolle Wortspiel muss ich lachen. Ich mache es zwar unterdrückt, aber Herr Lorbach hat´s trotzdem gemerkt.

„Ah, unsere Ulrike ist so erheitert, sicher möchte sie uns etwas über den Mord an dem großen Dichter erzählen?“

Ach wie gut, dass ich über Kotzebue rein zufällig was wusste.

„Nun, er gab doch zwei Zeitschriften heraus, die Grille und die Wespe. Oder hieß die Hummel?“

„Die Biene, die Biene“, presst Herr Lorbach hinter seinen festgeschlossenen Kiefern hervor.

Da klopft es energisch.

Als die Tür aufgeht, sehen wir den eindrucksvollen Kopf von Ethelka´s Vater. Natürlich bleibt die Tür einen Spalt auf, damit im Klassenzimmer die Ordnung aufrechterhalten bleibt. Aber in solchen Fällen sind wir sowieso still, sonst würden wir ja nichts von dem mitbekommen, was da draußen vor sich geht.

Es kommen nur ein paar Wortfetzen durch. Die Männer reden wie Vater und Lehrer. Herr Lorbach hat Herrn Ungeheuer bestimmt in die Schule bestellt, um mit einem Elternteil über das Kind zu sprechen. Das kennt ja jeder von uns, oder sagen wir, fast jeder.

Jetzt kommt die Stelle, an welcher der Vater sich empört. Nicht über seine Tochter, sondern über den Lehrer. Er schimpft, so laut, dass wir alles mitkriegen:

„Warum haben Sie Ethelka das Lesebuch abgenommen, wer gibt Ihnen das Recht dazu?“

„Herr Ungeheuer, dieses Buch stammt aus dem letzten Schuljahr, und in dem wurde Ethelka ja versetzt. Also braucht sie es nicht mehr!“ Das hat er irgendwie so hämisch gesagt, das mit dem “versetzt“.

„Aber es gehört ihr, und ich dulde nicht, dass Sie meinem Kind etwas abnehmen!“

„Es kann ihr überhaupt nicht gehören!“

Es wird immer lauter und spannender da draußen.

„Aber sicher!“

Die Mähne des Zirkusdirektors flattert, obwohl es hier überhaupt nicht windig ist. Das kommt bestimmt durch seinen Beruf. Bei den Vorstellungen muss er ja auch immer wirkungsvoll auftreten.

„Ihre letzte Lehrerin hat es ihr zum Abschied geschenkt!“

Herr Lorbach macht eine katzenhafte Kehrtwendung, stürmt in das Klassenzimmer, kramt in seinem Pult und ist im Nu wieder bei seinem Gesprächspartner. Oder besser gesagt, bei seinem Gebrüllpartner.

Er schwenkt das bewusste Lesebuch und schreit: „Diese Lehrerin durfte Ihrer Tochter das Buch überhaupt nicht schenken, weil es ihr nämlich gar nicht gehört!“ Er reißt die Seiten rum und deutet auf einen Stempel.

„Da sehen Sie, hier steht, dass das Lesebuch dem Land gehört. Sie vergreifen sich an Staatseigentum!“

„Sie vergreifen sich am Eigentum meiner Tochter“, schreit jetzt auch Herr Ungeheuer und grapscht nach den aufgeschlagenen Seiten. Da hat er auf einmal den ziemlich morschen Rückendeckel in der Hand. Naja, er ist ja auch Akrobat. Herr Lorbach, nun sprachlos geworden, umklammert den Rest.

Der Zirkusdirektor tritt wutschnaubend ab, nicht ohne ein: „Das werden Sie noch bereuen“, in Richtung Lehrer zu schleudern.

Dieser kommt wieder rein, wirft das geteilte Buch auf sein Pult und starrt finster brütend vor sich hin.

Dann kommt´s:

„Fünfte und sechste Klasse Hefte raus! Ihr habt eineinhalb Stunden Zeit für einen Aufsatz. Hmmm ..., schreibt in Euren eigenen Worten nieder, was wir in der letzten Zeit durchgenommen haben. Ihr wisst schon, die Freiheitskriege gegen Napoleon und die gesamtdeutsche Bewegung nach der nationalen Einheit. Also über Arndt, Schenckendorff, Kotzebue und so weiter. Titel:

„Die deutsche Einheit - ein Traum?“

Warum muss er sich ausgerechnet an uns unschuldigen Kindern rächen?


Lockenkopf 2

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