Читать книгу Lockenkopf 2 - Ursula Essling - Страница 12
Dreizehn Flaschen Coca Cola
ОглавлениеDie Mohr-Buben von über uns kriegen vielleicht einen Stiefvater. Er heißt Rudolf Radke und ist ein Deutscher. Er ist sehr groß und sehr freundlich. Besonders zu Frau Mohr. Die möchte er nämlich heiraten, weil er einsam ist.
Frau Mohr ist aber gar nicht einsam. Sie hat ja ihre drei Söhne. Und die hört man immer. Also kann es ihr nie zu langweilig werden.
„Naja“, hat Frau Mühlbauer gemeint: „Es ist ihre Sache, wenn sie sich mit noch einem Mann belasten will. Schließlich ist sie auch nicht mehr die Jüngste. Da muss sie aufpassen, dass sie den Anschluss nicht verliert!“
Frau Uhlig zuckt die Achseln: „Was soll das? Frau Mohr ist doch noch eine junge Frau, gerade mal sechsunddreißig!“
Ich sitze auf der untersten Treppenstufe auf meinem Ball und tue so, als wäre ich in tiefes Nachdenken versunken. In Wirklichkeit warte ich nur darauf, dass Frau Mühlbauer endlich in ihrer Wohnung verschwindet. Dann kann ich nämlich weiter „Probe“ spielen. Es ist nur gut, dass ich einen Rock anhabe, den kann ich schön über den Ball breiten. Im Hausflur ist nämlich das Ballspielen verboten, besonders für mich. Wenn sie nur ginge! Aber wenn die mal ein Opfer am Schlafittchen hat, lässt sie es freiwillig nicht mehr los. Ich glaube, sie ist neidisch auf Frau Mohr. Frau Mühlbauer ist ja selbst schon über fünfzig und klebt zäh an ihrem kleinen drahtigen Mann. Ich glaube, der hat nur dank seines Humors dreißig Jahre mit dieser Frau überlebt.
„Also dann“, Frau Uhlig macht sich daran, ihre Wohnungstür aufzuschließen. Sie hatte den Schlüssel schon die ganze Zeit in der Hand, wurde aber noch rechtzeitig von der Nachbarin erwischt und festgenagelt.
Da ging die Haustür auf und Herr Radke kam herein. Er ist genauso höflich wie unser Untermieter. Das heißt, er zieht seinen Hut vor den Damen. Zu diesen werde ich aber nicht gezählt. Herr Radke wohnt noch nicht in diesem Haus. Da kann ihn Frau Mühlbauer mit ihrem Geschwätz noch nichts anhaben. Also geht er unbeschadet weiter.
Während Frau Mühlbauer Herrn Radke sinnend nachblickt, nutzt Frau Uhlig die Situation, um still und heimlich in ihrer Wohnung zu verschwinden.
Herr Radke trägt immer einen Sonntagsanzug mit Hemd und Krawatte. Er ist groß, hager und bebrillt. Seine Haare liegen in grauer Ordnung um seinen schmalen Kopf mit der imposanten Nase. Das Tollste an ihm ist jedoch sein Beruf. Er ist nämlich Abteilungsleiter für Sport- und Spielsachen beim Kaufhof. Die Mohr-Buben hatten da auch schon was davon. Edgar, der mittlere Sohn, hat doch zu Weihnachten tatsächlich ein Filmvorführgerät bekommen. Das hat er sich schon ewig gewünscht. Aber diesen Wunsch konnte ihm seine verwitwete Mutter nie erfüllen, weil so ein Gerät einfach zu teuer ist. Von den Amerikanern, von denen er als Halbwaise auch immer was zu Weihnachten bekommt, gibt’s außer dem süßen Strumpf sowieso immer nur was Nützliches.
„He, sag mal, was lungerst Du da rum und horchst?“
Frau Mühlbauer ist ja immer noch da.
„Ich lungere nicht rum und ich horche nicht“, antworte ich ihr trotzig.
„Sag mal“ ..., nun müht sie sich doch tatsächlich ein Lächeln ab, jedenfalls für ihre Verhältnisse eins. „Was sagen denn die Jungs?“ Dabei reckt sie ihr leicht bärtiges Kinn zur Treppe. „Du steckst doch dauernd mit denen zusammen. Freuen die sich denn, dass Sie einen Stiefvater bekommen?“
Was soll ich da antworten? Ich möchte keine Klatschbase sein und später auch keine werden. Ich weiß, dass es weder Edgar noch seinem kleinen Bruder gefällt, dass sie Herrn Radke ihre Aufgaben zeigen müssen. Aber das werde ich gerade dieser wandelnden Bildzeitung auf die Nase binden. Überhaupt habe ich schon öfters mal mitgekriegt, dass Herr Radke ganz andere Erziehungsvorstellungen hat wie seine eventuellen Stiefsöhne. Meine Mutter hat mir das zu erklären versucht, aber ich bin da leider nicht ganz schlau daraus geworden.
„Ach weißt Du, Ulli, wenn jemand noch keine Kinder hat, möchte aber welche, legt er sich einen Erziehungsplan zurecht. Das nennt man Theorie. Er will nämlich unbedingt alles richtig machen. Zum Beispiel nicht nachgeben, wenn die Kinder rumquengeln, sie aber auch mal loben, wenn es gerechtfertigt ist. Also sie immer im richtigen Moment richtig erziehen. Solche Kinder haben es als Erwachsene viel leichter. Sie wissen nämlich von vornherein, auf was sie im Leben alles verzichten müssen. Aber die Praxis, die sieht dann ganz anders aus. Da bist Du selbst das beste Beispiel, Ulrike. Was machen wir alles falsch! Wenn Du uns die Nerven tötest, lassen wir Dir halt mal Deinen Willen. Das ist nicht gut für Dich, aber für unsere Nerven, jedenfalls im Moment. Denn ob Du es glaubst oder nicht, Eltern sind auch nur Menschen. Warten wir also mal ab, wie Herr Radke erzieht, wenn er Vater ist. Drei Jungen auf einmal zu bekommen, ist auch alles andere als einfach. Schließlich hatte er vorher nicht mal eine Frau, mit der er streiten konnte! “
Frau Mühlbauer schaut immer noch lächelnd auf mich herab „Nun, was denken die Mohrbuben?“
„Weiß ich nicht!“
Damit habe ich zwar Frau Mühlbauers Frage beantwortet, aber nicht zu ihrer Zufriedenheit. Langsam klebt der Ball an meiner Haut, da, wo die Strümpfe zu Ende gehen. Ich lockere mich ein bisschen auf.
„Also komm“, jetzt wird sie ganz süß. „Mir kannst Du es doch erzählen!“
Wie heißt das tolle Wort noch, das Inge neulich nach Hause brachte? Ach ja, Intimsphäre, jetzt fällt´s mir wieder ein.
„Tut mir leid, Frau Mühlbauer, aber über unsere Intimsphäre sprechen Edgar und ich nicht!“
„Habe ich Dich erwischt! Du hast Ball im Hausgang gespielt!“
Jetzt ist sie gar nicht mehr süßlich, jetzt ist sie sauer. Sie hat den Ball eben gesehen und zwar ganz deutlich. Er hüpfte Stufe für Stufe die Treppe hinab, bis in den Keller. Ich habe mich eben zu sehr gelockert, da war er auf einmal frei.
„Ich wollte ja in den Hof zum Spielen gehen und habe mich nur einen Moment mal hingesetzt zum Ausruhen!“
„Wem willst Du denn den Bären aufbinden? Wenn ich morgen früh Deine Mutter sehe ...“
„Ach bitte, Frau Mühlbauer, sagen Sie ihr nichts. Bitte, ich verrate Ihnen auch was!“
„Beantworte mir meine Frage von vorhin, dann vergesse ich vielleicht, dass Du gegen das ausdrückliche Verbot der Hausbewohner Ball gespielt hast!“
„Also wissen Sie, im Vertrauen gesagt, dem Edgar und seinen Brüdern scheint es überhaupt nicht zu gefallen, dass sie einen Stiefvater bekommen.“
Oje, jetzt bin ich doch schon eine Klatschbase und bin noch nicht mal erwachsen. Was tut man nicht alles, um seiner Mutter Kummer zu ersparen. Aber, was ist eigentlich schlimmer, über jemanden zu reden, oder im Hausgang Ball zu spielen?
Zurzeit scheint so etwas wie ein Heiratsfieber zu grassieren. Ich kenne nämlich noch jemanden, der heiraten will.
Eigentlich werde ich sie erst kennenlernen, aber das ist doch schon fast so, als wäre es eine alte Bekannte. Außerdem ist es die Tante von Beate König. Sie und ich sollen bei deren Hochzeit den Schleier tragen. Das ist natürlich sehr aufregend. Hoffentlich wird es auch was. Ich sollte nämlich schon einmal einen Brautschleier tragen, und es wurde nichts daraus. Die Hochzeit kam zwar zustande, aber der Schleier wurde von einem seriösen Mädchen getragen. Ich blieb übrig, um Blumen zu streuen. Man hat mir damals gesagt, ich sei noch zu jung für eine so verantwortungsvolle Aufgabe. Die Braut war immerhin meine Cousine und der Bräutigam ein Amerikaner, und was für ein langer. Ich musste mir fast den Hals ausrenken, um erkennen zu können, wie der oben aussah!
Das Brautbett war deshalb auch eine Attraktion und wurde allen Gästen gezeigt. Auf der Männerseite hatten sie die Begrenzung für die Füße ausgesägt und einen Hocker drangestellt. Auf diese Weise hat der Bräutigam wenigstens ins Bett rein gepasst.
In der Kirche hatte ich vor dem Brautpaar herzustapfen und Blumen auf ihrem Weg in die Ehe zu werfen. Aber die Blumen taten mir leid, sie wären ja doch nur zertrampelt worden. Also habe ich sie nicht ausgestreut. Das half ihnen aber nichts. Meine Tante Ria, die Brautmutter, dachte in erster Linie an das Glück ihrer Tochter. Deshalb half sie mir, indem sie großzügig mit den Blumen um sich warf.
Es wurde doch noch eine lustige Hochzeit, sogar mit einem richtigen Bauchredner. Der hatte zwei große Puppen, die seine Söhne hätten sein können. Diese Puppensöhne sahen mit ihren abstehenden Ohren und ihren knallroten, aufgestülpten Nasen recht lebensecht aus. Wenn man nicht so ganz genau hinschaute, konnte man auch fast glauben, sie würden richtig reden und nicht der Bauch ihres Puppenvaters.
Nach der Hochzeit zog Edith mit ihrem Mann nach Amerika. Sie scheint sich dort gut eingelebt zu haben, denn sie bekommt jedes Jahr ein Kind. Bis jetzt allerdings nur Buben.
Beates Mutter ist auch mit einem Amerikaner verheiratet und hat ihrer Schwester ebenfalls einen besorgt.
Mein Kleid ist ein Traum! Es ist himmelblau mit einer großen Schleife in der Taille und einem weißen Organdykragen, der fast meinen ganzen Oberkörper bedeckt. Beate hat das Gleiche in Rosa, was auch besser zu ihr passt, da sie selbst sehr blond, sehr rund und sehr rosig ist. Die „Träume“ stammen aus der PX. Meine Mutter durfte das Kleid aber trotzdem mit deutschem Geld bezahlen. Zweiunddreißig Mark und fünfzig Pfennige hat es gekostet. In Anbetracht meiner großen Verpflichtung als Schleppenträgerin tat sie es aber. Dabei verdrehte sie die Augen zum Himmel und faltete die Hände überm Magen. Aber sie ließ keinen einzigen, noch so kleinen Seufzer hören.
Beate wohnt in einem amerikanischen Wohnblock, geht aber bei uns in die Schule. Sie soll ihr Deutsch nicht verlernen. Bei ihr zu Hause ist es immer kuschelig und warm. Und sie hat Coca Cola! Das ist ein Getränk! Davon kann ich einfach nicht genug bekommen!
Neulich hat Beate mich eingeladen, bei ihr das Weekend zu verbringen. Bei uns sagt man dazu „von Samstagnachmittag bis Sonntagabend“, aber Weekend ist feiner. Ihre Eltern waren nicht da, weil sie selbst zum Weekend eingeladen waren. Da beruhigte es sie natürlich sehr, dass ich Beate Gesellschaft leistete. So befand sich ihre Tochter nicht nur in guter Hut, es konnte auch nichts passieren. Schließlich bin ich ganze drei Wochen älter als meine Gastgeberin!
Wir schwelgten nur so im Luxus!
Im Wohnzimmer stand sogar ein Fernseher. Das ist ein Radio mit einem Bildschirm. Das ist fast so schön wie im Kino, nur dass die Leinwand kleiner ist. Dafür kann man aber auch im Schlafanzug fernsehen. Leider gibt’s das nur bei den Amis, für die Deutschen ist das zu teuer. Trotzdem habe ich alles verstanden. Alle vier Filme, die wir uns angeschaut haben, wurden nämlich auf Deutsch gebracht.
Es war einfach himmlisch! Niemand hat uns ins Bett geschickt und keiner hat rumgemeckert, weil überall Popcorn klebte. Noch nie in meinem Leben bin ich so spät schlafen gegangen oder so früh, wie man´s nimmt. Aber wir konnten auch um vier Uhr morgens noch nicht einschlafen.
Mein Herz hämmerte nämlich so gewaltig, dass ich richtig Angst bekam. So was ist mir noch nie passiert, obwohl ich schon zwölf Jahre alt bin. Beate und ich forschten gemeinsam nach der Ursache. Als wir die leeren Colaflaschen gezählt hatten, fanden wir sie. Ich hatte einen absoluten Rekord im Cola trinken aufgestellt. Dreizehn Flaschen hatte ich im Laufe des Tages getrunken. Nun ja, ich nutzte halt die Gelegenheit!
Zuhause bekomme ich ja kein Cola, weil es ungesund ist. Außerdem kostet es Geld. Da mische ich mir immer ein Spezialgetränk aus Essig, Wasser und Zucker. Das Rezept habe ich von Edgar. Man muss nur darauf achten, dass die flüssigen Zutaten auch schön kalt sind, sonst schmeckt es auch so, wie es heißt, nämlich Pisswasser. Das letzte Mal, als ich Cola trinken durfte, liegt schon eine Weile zurück. Es war auf Frau Uhligs Geburtstagsfeier. Damals bekam ich zwar kein Herzklopfen, dafür ekelte ich mich aber gewaltig. Es gab so viele Ameisen. Und die interessierten sich auch für den Rest in der Colaflasche, den ich austrinken durfte. Deshalb wurden sie von mir verschluckt. Der größte Teil der Tierchen ertrank jedoch, ohne in meinem Magen zu landen. Ich habe die Ameisen samt dem Cola einfach ausgeleert, trotz des Verlusts.
Jedenfalls hoffe ich, meinen Traum in Himmelblau bald vorführen zu können. Ich habe das Kleid immer noch nicht angehabt, sodass es bis zur Hochzeit neu bleibt. Auf diese Weise kann sich nämlich auch kein Fleck einschleichen.