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Ich bin ein Ärgernis

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Hinter Flörsbach gibt es zwei richtige Seen, einer ist links von der Straße, der andere rechts. Wenn wir im Sommer Zeit haben, gehen wir da gerne baden. Der linke See hat mehr Sand, der rechte ist dafür romantischer. Er liegt mitten im Wald und hat auch bewaldete Inselchen. Logischerweise ist es da schöner, wenn es richtig heiß ist. Wenn es aber wolkig ist und die Sonne nicht so richtig raus kann, ist es am Sandstrand besser. Jedenfalls sind diese Seen tief, aber nicht so wie unser Exer, der ja nur Panzertiefe hat, da die Amis ihn so hergestellt haben. Mit Panzern, meine ich.

Aber auch die Flörsbacher Seen sind nicht durch die Natur entstanden, obwohl sie so aussehen. Beide waren mal Bergwerke, die regelrecht ertrunken sind. Die Bergleute konnten sich damals alle retten, die Loren aber nicht. Sie liegen auf dem Grund und rosten.

Zuerst waren die Leute nicht so froh, als das Wasser ihre Arbeitsplätze verschlang. Jetzt sehen sie das aber bestimmt anders, weil die Arbeiter von damals entweder tot sind oder in Rente. Schließlich sind die Seen schon über vierzig Jahre alt.

Sonntags geht mein Vater oft mit uns zum Schwimmen. Die struwwelige Angelika Wolf und Inge gehen aber noch öfter allein. Manchmal müssen die beiden mich mitnehmen. Das machen sie aber nicht gern, weil sie dann auch auf mich aufpassen müssen. Sie schwimmen lieber über den See und zurück, als mich zu beaufsichtigen. Der Gerechtigkeit halber muss ich allerdings sagen, dass ich mich ungefähr so wie ein nasser Sack im Wasser bewege. Dabei gebe ich mir so viel Mühe!

Papa hat mir schon tausendmal gezeigt, wie man Arme und Beine bewegt. Ich übe auch sehr oft im Flachen. Entweder machen die Beine Froschbewegungen oder die Arme. Beides gleichzeitig klappt einfach nicht. Mein Vater hält mich in dem tieferen Wasser immer unterm Bauch fest, bis er die Geduld verliert. Er meint nämlich, dass man einem Hund am besten das Schwimmen beibringt, wenn man ihn ins Wasser wirft. Er könnte es ja mit mir auch eines Tages so machen, ich traue ihm da nicht so recht.

Meistens fahren wir mit den Rädern zum Baden. Ich sitze auf dem Gepäckträger und halte mich und unsere Sachen am Sattel fest. Da gibt es überhaupt keine Probleme. Die gab es neulich nur mal mit der Polizei. Da hielt uns doch tatsächlich ein Polizist an, weil er wissen wollte, wie alt ich bin. Ich habe die Wahrheit gesagt. Da bekam Inge einen Strafzettel und wir mussten den Rest des Weges auch noch laufen. Und der Rest war das größere Stück. Schade, dass der Polizist ein Fremder war. Wenn es unser Herr Malek gewesen wäre, hätte man ihm einfach sagen können: „Ihre Kinder fahren immer so Rad!“ Sie besitzen nämlich nur ein Fahrrad zusammen. Der Polizist hat uns die ganze Zeit nachgeguckt, dass wir auch ja laufen. Angelika, die natürlich dabei war, ist aus Freundschaft sogar abgestiegen und seufzend mitgetrottet.

„Warum hast Du gesagt, dass Du schon neun bist?“ zeterte meine Schwester. „Kein Mensch glaubt doch, dass Du auch nur einen Tag älter als sieben bist. Drei Mark hat mich das gekostet. Und jetzt dürfen wir Deinetwegen das Rad auch noch schieben. Bei der Hitze!“

Ich war tief in meiner Würde gekränkt. Mich für eine Siebenjährige zu halten!

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Man soll doch nicht lügen!“

Sie raunzte noch eine ganze Weile vor sich hin. Schließlich erreichten wir doch noch den See im Wald. Die Abkühlung nach der unfreiwilligen Wanderung tat uns allen gut.

Das Eklige nach so einem Tag ist das Umziehen. Wir hüllen uns dann immer in die Decke, auf der wir zuvor gelegen haben, und ziehen da drunter den nassen Badeanzug aus. Das ist gar nicht so einfach. Man muss nämlich dabei immer darauf achten, dass man die Decke gut festhält. Die ist auch noch voll Sand und der kratzt. Aber gleichzeitig festhalten, jucken und umziehen geht nicht. Sonst steht man im Freien. Wenn man den Badeanzug dann endlich runtergezogen hat, ist man aber immer noch nass. Dann will sich die Unterhose nicht richtig anziehen lassen. Ich bin immer schon froh, wenn ich mir mein Kleid über den Kopf gezerrt habe.

Als ich zum Strand gelaufen bin, um die Füße und den Badeanzug zu waschen, bin ich fast mit Annette Römer zusammengestoßen. Die ist ungefähr so alt wie Inge, aber trotzdem sehr nett. Sie hat einen großen Busen und ganz rote, herzförmige Lippen, die immer irgendwie feucht sind. Ihre schwarzen Haare sind schulterlang und so lockig wie meine, aber unecht, da der Friseur sie gemacht hat. Dafür sind die Locken aber auch so ordentlich wie bei Rita Hayworth und nicht so kreuz und quer wie bei Ulrike Scholl. Außerdem hat Annette einen Bruder, der ganz alleine nach Australien ausgewandert ist. Von dem, beziehungsweise von seinen Briefen gibt sie meinem Freund Paul immer die Briefmarken. Der sammelt nämlich welche. Das ist nett von Annette, besonders weil die Briefmarken von so weit herkommen.

„Hallo Ulli, bist Du aber braun!“ Sie lächelt mich wie immer freundlich an. Dabei sitzt sie halb im Wasser und dreht das Gesicht zur Sonne. „Sag mal, ich habe vorhin Angelika und Deine Schwester gesehen. Ich finde, Inges Badeanzug ist ihr eine Nummer zu groß. Jedenfalls oben rum. Mir würde er genau passen.“

„Ja, das finde ich auch. Sie hat ihn aber unbedingt haben wollen, weil er aus diesem tollen neuen Stoff ist. Da steht der Busen von selbst. Sie meint natürlich, dass das keiner sieht!“

Annette rekelt sich so, dass ihr ganzer Körper in Bewegung gerät. „Meinst Du nicht, Du könntest Inge dazu überreden, ihn mir zu verkaufen? Ich würde ihr fünfzehn Mark dafür geben, obwohl er ja nicht mehr neu ist.“

Ich blicke ein bisschen sinnend auf Annette herunter. Schließlich sitzt sie ja im Wasser und ich stehe und habe sogar schon meine Füße in die Sandalen gezwängt. Ich finde, der knallrote Badeanzug würde ihr viel besser stehen und er wäre auch besser ausgefüllt als bei meiner Schwester. Und das sage ich Annette auch.

„Ich frage sie mal, ob sie ihn Dir verkauft!“

„Ulrike! Wo steckst Du so lange? Wir müssen heim!“

Nervenaufreibend, diese durchdringende Stimme meiner Schwester.

Schnell sage ich Annette noch Auf Wiedersehen und dass ich ihr auf jeden Fall Bescheid gebe.

Auf dem Rückweg sind wir doch wieder gefahren. Ich musste nur dauernd angestrengt hinter mich gucken, ob irgendwo ein Polizist rumstand. In diesem Fall sollte ich sofort vom Gepäckträger springen. Wir hatten aber Glück, diesmal kreuzte keiner auf.

Meine Schwester vermisst ihren neuen Badeanzug. Sie hat überall danach gesucht. Mama meinte nur, sie solle ihre Sachen besser beisammenhalten.

„Wenn jemand so schlampig ist, muss er eben suchen. Auf diese Weise hast Du letzten Endes mehr Arbeit wie ein ordentlicher Mensch!“

Inge ballt die Hände und heult fast, halb vor Wut und halb vor Kummer.

„Verdammt noch mal, er lag ganz ordentlich in meinem Wäschefach. Hast Du ihn vielleicht rausgenommen, um ihn zu waschen?“

Mama schüttelt stumm den Kopf.

Da fährt Inge jäh herum und schnellt auf mich zu, genauso wie damals die Schlange. „Ulrike ...“ presst sie gefährlich leise zwischen den Zähnen hervor. Sie klingt wie eine Bühnenschurkin. Ich erinnere mich, neulich eine ähnliche Szene in einem Film gesehen zu haben. Nur ging´s da nicht um Schwestern, sondern um einen Mann und seine Frau. Es handelte sich auch nicht um einen Badeanzug, sondern um eine Scheidung. Die Frau wollte nicht geschieden werden, aber der Mann. Da hat sie ihm Gift ins Essen gestreut. Das fand ich aber doch ziemlich komisch. Auf diese Art hat sie ihren Mann doch auch verloren und obendrein noch viel mehr Scherereien als bei einer Scheidung gehabt. Jedenfalls hat die spätere Mörderin genauso gezischt wie meine Schwester jetzt. Dabei sitze ich brav am Tisch und male unschuldige Blumen.

„Gib es zu“, geifert sie. „Du hast ihn versteckt, um mich zu ärgern. Du tust ja immer alles, um mich zu ärgern, Du ... Du ... Ärgernis Du!“

Hatte ich bis dahin noch Herzklopfen, so wurde ich jetzt ganz kühl. Ich habe sie ganz offen angeschaut und ihr ehrenwörtlich versichert, dass ich ihren Badeanzug nicht versteckt hätte. Und das stimmt.

Ich habe ihn nämlich verkauft!

An Annette. Sie hat mir die versprochenen fünfzehn Mark dafür gegeben. Soviel Geld hatte ich noch nie zum Ausgeben. Ich habe es mir aber eingeteilt, damit ich lange was davon hätte. Jeden Tag bin ich zum Bäcker gegangen. Ich habe mir überlegt, ob ich fünf Päckchen Brause zu zwei Pfennig oder zwei Päckchen zu fünf Pfennig kaufe. Lakritze, Negerküsse und Salzstangen gönnte ich uns, das heißt Rita und mir, aber auch. Herrlich!

Meiner Schwester blieb schließlich nichts anderes übrig, als ihren alten Badeanzug anzuziehen. Den hat meine Mutter selbst gestrickt. Er passt ihr viel besser „oben rum“ und wartet nicht auf Zuwachs wie der moderne Badeanzug. Ich finde, dass Inge mir eigentlich dankbar sein müsste. Schließlich habe ich ihr doch einen Gefallen getan.

Am Flörsbacher See, dem mit dem Sand, ist es dann passiert, Papa war dabei.

Meine Mutter geht nie zum Schwimmen, sie kann es nämlich nicht und mag kein Wasser in Mengen. Höchstens zum Ansehen. Außerdem ist sie froh, wenn wir am Sonntagmorgen weg sind. Dann kann sie in Ruhe kochen.

Wir gehen aber nur dann baden, wenn Papas Fußballverein kein Spiel hat. Zu diesen Spielen muss er mich auch mitnehmen, obwohl ich die furchtbar langweilig finde. Wir laufen dann nach Hanau zum Fußballplatz. Wir könnten auch mit dem Bus fahren, aber die Ausgabe lohnt sich nicht. Denn es sind nur wenige Haltestellen. Normale Leute müssen allerdings auch Eintritt bezahlen, wenn sie ein Fußballspiel anschauen möchten. Deshalb bleiben wir außerhalb des Lattenzauns und suchen uns dort einen Platz. Der muss natürlich etwas höher gelegen sein, damit man auch sieht, was auf dem Spielfeld vor sich geht. Also kriechen wir so einen ekligen Abfallhügel hinauf.

Da hocken schon viele andere Leute. Außerdem sitzen sie massenweise in den Bäumen. Die meisten sind Männer. Und sie schreien, besonders wenn ein Tor fällt, das ihr Verein geschossen hat. Dabei haben sie doch gar nicht das Recht dazu (zum Schreien, meine ich), weil sie ja keinen Eintritt bezahlt haben. Wenn ein Polizist vorbeikommt, tut jeder so, als hätte er gar kein Interesse an Fußball. Dann machen die Leute ihren Sonntagspaziergang. Wir auch. Ausgerechnet in so einer verschlammten Abfallgegend.

Ich mag keinen Fußball. Ich kann auch nicht verstehen, warum da so viele Männer hinter einem Ball herrennen und ein regelrechter Kampf entbrennt. Würde jeder einen Ball bekommen, könnten alle Spieler in Ruhe kicken.

Letzten Sonntag spielte Papas Verein glücklicherweise mal wieder auswärts. Und zwar soweit auswärts, dass er nicht hinfahren konnte. Also musste er mit uns schwimmen gehen. Inge und Angelika breiteten ihre Decke ein ganzes Stück von uns entfernt aus, sie wollten nicht zu uns gehören. Auch im Wasser hielten sie Abstand. Schließlich war Papa jetzt für mich zuständig. An diesem harmonischen und schönen, sonnigen und lieben Sonntag habe ich es endlich begriffen.

Ich kann schwimmen!

Mein Vater machte mit mir ganze zwanzig Minuten Schwimmübungen. Deshalb hatte er es sich redlich verdient, selbst mal raus zu schwimmen. Nachdem mir befohlen worden war, am Ufer zu bleiben, übte ich weiter. Ich legte mich ins flache Wasser und probierte es, die Arm- und Beinbewegungen gleichzeitig zu machen. Dabei geriet ich unmerklich ins tiefere Wasser, das heißt, ich hatte mehr Tiefgang unterm Bauch.

Auf einmal schwamm ich!

Erst zwei Stöße, dann drei. Jetzt übte ich glücklich und brachte es an diesem wunderschönen Sonntagvormittag auf ganze sieben Schwimmstöße.

Endlich hatte ich schwimmen gelernt, obwohl mein Vater mich alleine ließ. Zuerst glaubte Papa mir das gar nicht. Aber ich führte ihm meine neuen Schwimmkünste vor. Sein Gesicht legte sich in kritische Falten. Sicher deshalb, weil seine eigenen Bemühungen zu nichts geführt hatten. Meiner Mutter erzählte er später, dank seiner Engelsgeduld könnte ich endlich schwimmen. Es wäre ja auch Zeit gewesen.


Lockenkopf 2

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