Читать книгу Alt, aber herrlich mutig - Ursula Mahr - Страница 11
Inges Krankheit
ОглавлениеAls Inge in Berlin im Krankenhaus war, setzten sich die übrigen fünf zusammen, um über dieses Problem zu sprechen, welches sie alle zusammen ziemlich hilflos machte. Anne knetete ihre Hände und murmelte: "Was hat Inge bloß. Nichtsdestotrotz müssen wir uns etwas überlegen, denn sie kann immer weniger allein machen, geschweige denn bei irgendetwas helfen. Und wir selbst sind auch nicht mehr die Jüngsten. Wir brauchen einfach Hilfe. Jemand, der täglich kommt und ihr beim Waschen, Anziehen und so weiter hilft."
"Und sie auf die Toilette bringt", brachte es Ursa auf den Punkt und ihr Gesicht verzog sich vor Ekel. "Ich meine, sie ist zwar unsere Freundin, aber ich bin keine Krankenschwester. Und mit ihren Toilettengängen will ich nichts zu tun haben", fügte sie rüde hinzu. "Was ist?" rief sie ungehalten, als sie die entgeisterten Gesichter der anderen sah.
"Wie kannst du nur so reden", empörte sich Amelie aufgebracht. "Sie ist unsere Freundin, und nicht nur in guten Zeiten."
Sofort meldete sich Ursas schlechtes Gewissen. Das erste richtige Problem tauchte auf, und schon versagte sie. Wütend über diese ganze unerfreuliche Situation, aber hauptsächlich auf sich selbst, sprang sie auf, rief "Trigger, komm!" und stürmte aus dem Haus. Mit weit ausholenden Schritten eilte sie zum Strand hinunter. Trigger lief ihr voraus. Erst als sie direkt am Wasser stand, beruhigte sie sich. Tief atmete sie ein und genoss die frische, salzige Luft. Die war anders als der Geruch von Inge in letzter Zeit. Sie roch. Sie roch nach Krankheit. Nach schlimmer Krankheit und das machte ihr verteufelte Angst. Trigger kam zu ihr und rieb seine Schnauze an ihrer Hand, so dass sie sich niederkniete, ihren Hund umarmte und sich Trost bei ihm holte.
Inzwischen redeten die anderen weiter über Inge und ihre mysteriöse Krankheit.
"Im Grunde hat Ursa doch recht. Ich habe auch keine Lust und auch nicht unbedingt die Kraft, Inge in die Badewanne zu hieven und sie auf die Toilette zu begleiten", sagte Lisa leise.
"Ich würde das machen", rief Amelie aufgebracht, doch Lisa lachte kurz auf. "Du?" schnaubte sie erbarmungslos. "Du gehst am Stock und brauchst bald selbst Hilfe. Woher willst du denn die Kraft dafür nehmen?"
"Du brauchst mich jetzt nicht zu beleidigen", setzte sich Amelie empört zur Wehr.
"Entschuldigung, war nicht so gemeint", sagte Lisa zerknirscht. "Aber dieses Problem ist doch um einiges größer, als wir es uns haben vorstellen können."
Anne meldete sich zu Wort: "Fakt ist doch, dass wir, dass Inge Hilfe braucht. Und das so schnell wie möglich. Wenn Inge aus Berlin zurück ist, werden wir das in Angriff nehmen." Mit diesem Zwischenresultat waren erst einmal alle einverstanden.
Der Hühnerstall war fertig, aber noch keine Hühner eingezogen, da las Ursa in der regionalen Zeitung, dass südlich von Hamburg ein Geflügelmarkt stattfinden sollte. "Das ist doch genau das Richtige für uns", rief sie begeistert. Doch Amelie war mit ihren Gedanken bei Inge, die immer noch im Krankenhaus war, aber heute oder morgen wieder nach Hause kommen sollte. Sie hatten es sich so schön vorgestellt, ihren Lebensabend. Aber eigentlich hätten sie damit rechnen müssen, dass die eine oder andere krank werden würde. Doch eine so schlimme Krankheit ohne offensichtliche Diagnose? Ursa hatte eine Krebserkrankung überwunden. Amelie selbst hatte COPD, eine Lungenerkrankung, bei der sich die Bronchien verengen, ja sogar verkrampfen und dadurch manchmal schwere Atemnot auftrat. Außerdem benutzte sie nach einer missglückten Bandscheiben-OP eine Gehhilfe. Die übrigen Frauen litten unter den fast normalen Zipperlein, die man eben im Alter aushalten musste. Alle kamen mehr oder weniger gut damit zurecht. Selbst Inge klagte kaum. Das Schlimme war nur, dass ihre Krankheit noch keinen Namen hatte und somit nicht richtig behandelbar war.
Ursa war fertig mit dem Durchblättern der Zeitung. Schwungvoll erhob sie sich, ließ die Zeitung auf den Tisch fallen und meinte: "Ich frag mal Markus, ob wir zu dieser Geflügelschau fahren und uns mal umschauen wollen. Willst du mit?"
Amelie schüttelte den Kopf. Sie war immer noch in Gedanken bei Inge. "Nein, ich bleibe hier und warte auf Inge. Vielleicht kommt sie ja heute Nachmittag zurück."
Ursa wollte diese schrecklichen Dinge nicht so sehr an sich heranlassen. Sie wollte sich lieber um das kümmern, was für sie alle wichtig war, wozu sie überhaupt hier waren: den Aufbau des Hofes. Sie schlenderte hinüber zum Weidezaun, an dem Markus werkelte. "Wäre es schlimm, wenn Sie Ihre Arbeit unterbrechen würden?" fragte sie, legte ihre Unterarme auf den Zaun und schaute blinzelnd in die Ferne.
"Nein", antwortete Markus, unterbrach seine Arbeit und schaute sie fragend an.
"Südlich von Hamburg in einem kleinen Dorf findet eine Geflügelschau und ein kleiner Viehmarkt statt. Ich wollte mich mal dort ein bisschen umsehen."
"Und ich soll mitkommen?"
"Genau", strahlte sie ihn an. "Vielleicht können wir zuerst zum Hof Ihres Bruders fahren und ein größeres Auto ausleihen, damit wir eventuell gekaufte Tiere sofort transportieren können." Sie grinste ihn an. "Der Hühnerstall wirkt so verwaist."
Markus schien unmerklich zu zögern, doch dann war er einverstanden. Er mochte Ursas etwas burschikose Art und ging gern darauf ein: "Na, dann mal los." Ohne den anderen Bescheid zu geben, fuhren sie in Lisas altem Auto zunächst zum Kröger-Hof, wo sie den fahrbaren Untersatz wechseln wollten.
Der Viehmarkt war recht klein. Großvieh wie Pferde und Kühe gab es kaum, dafür unzählige Schafe und einige Ziegen. Das kam Ursas Wünschen entgegen, denn vor zu großen Tieren hatten die Frauen ein bisschen Angst, Großstadtkinder eben, und die wollten sie eher nicht auf dem Hof haben. Und Kühe schon gar nicht, denn keine von ihnen konnte mAnitan, schon gar nicht wollten sie zweimal am Tag diese Arbeit erledigen müssen. Das erwähnte sie auch Markus gegenüber, als sie an den wenigen Kühen vorbeischlenderten, aber der schüttelte lachend den Kopf. "Ihr habt aber auch wirklich keine Ahnung. Eine Kuh gibt nur Milch, wenn sie ein Kalb geboren hat."
"Wirklich? Das würde ja bedeuten, dass eine Milchkuh ihr Leben lang jedes Jahr ein Kalb zur Welt bringen muss, damit wir Menschen Milch, Käse und Joghurt zur Verfügung haben!" staunte Ursa.
"Richtig", meinte Markus ernst. "Und das Kalb wird ihr sofort weggenommen und in einen kleinen Verschlag gesperrt. Es kann nicht hüpfen und springen und dadurch seine Muskeln stärken. Warum, meinst du, können Kühe oftmals so schlecht laufen? Und wenn die Mutterkuh zu alt für ein neues Kalb wird, aber eigentlich sonst noch völlig gesund ist, wird sie geschlachtet. Dann hat sie ausgedient. Für Kühe gibt es keinen Gnadenhof."
Ursa schluckte. Das hatte sie nicht gewusst. Auch wenn die Kuh noch gesund war, aber keine oder nur noch wenig Milch gab, wurde sie einfach getötet. Sofort beschloss sie, auch Kühe zu retten. Weideland hatten sie schließlich genug.
Doch zunächst fiel ihr eine Ziege auf, weiß mit großen kaffeebraunen Flecken, die gerade an einen Zaun herangeführt und dort mit sehr kurzem Strick angebunden wurde, so dass sie sich kaum bewegen konnte. Sie humpelte. Ursa ging zu dem Bauern, der neben dem Tier stand. "Wie heißt sie?" fragte sie ihn.
Der Mann schaute sie verständnislos an. "Wie bitte?" Er schaute sie von oben bis unten an, und amüsiert fügte er hinzu: "Bist wohl aus der Stadt, min Deern, und nur zu Besuch hier."
Das ärgerte Ursa. Sah man ihr wirklich sofort an, dass sie Städterin war und keine Ahnung hatte? "Okay, keinen Namen" sagte sie unwirsch. "Wie viel kostet sie?" Der Bauer nannte seinen Preis, schien sich aber immer noch zu amüsieren.
"Das ist zuviel", murmelte Markus, der plötzlich hinter ihr stand. Lauter sagte er: "Na, Hannes, du willst meine Chefin doch nicht übervorteilen." Er kannte den Bauern. Mit seinen Kleintieren stand er öfter auf kleinen Viehmärkten.
"Ach, das ist deine Chefin?" prustete der hinter vorgehaltener Hand.
"Eine meiner Chefinnen."
"Sind die alle so? Ich meine, soo städterisch?" Er schien sich köstlich zu amüsieren.
Ursa fand das gar nicht lustig. "Und, Meister, wollen Sie Ihre Ziege nun verkaufen oder nicht?" fragte sie verärgert.
"Sie sollten vielleicht die andere nehmen, die ist kräftiger." Er konnte das Lachen kaum unterdrücken.
Ursa beugte sich zur zweiten Ziege hinunter, die der Bauer anzubieten hatte, strich ihr leicht über den Rücken und schien zu überlegen. "Hm, im Grunde ist dieses Tiere doch ebenso wenig wert. Die taugt doch nur noch für den Schlachter. Wie ist der Schlachtpreis?" Sie drehte sich zu Markus um und zwinkerte ihm zu.
"Nicht halb so viel wie er verlangt", ging Markus auf das Spiel ein und nickte in Richtung des Bauern.
"Okay", sagte Ursa forsch und richtete sich wieder auf, "ich lege noch einen Zehner drauf und sie geben mir die zweite Ziege dazu, denn die sieht doch ziemlich mickrig aus." Sie war jetzt nicht mehr zu bremsen.
Das Lachen verging dem Bauern und er schaute Markus beinahe Hilfe suchend mit großen Augen an. Doch der grinste jetzt und zog stumm in gespieltem Unverständnis die Schultern hoch. "Ja, also", stammelte der Bauer völlig überrumpelt, doch Ursa unterbrach ihn rüde: "Entweder jetzt sofort die Hand drauf", sie blickte dem Bauern direkt in die Augen, "oder ich kaufe keine und das Geschäft kommt nicht zustande. Also?" drängte sie und hielt ihm die Hand hin.
Verdattert schlug der Bauer ein. Er wusste, diese beiden Ziegen hätte er nur mit Glück an jemand anderen verkaufen können oder wieder mit nach Hause nehmen müssen. Sofort band Ursa beide Ziegen los und machte beim Weggehen Markus ein Zeichen, dass er bezahlen sollte. Er holte das Geld aus seiner Hosentasche, reichte es dem Bauern und meinte grinsend: "Städterin halt, Hannes."
Nachdem sie beide Ziegen auf dem Stroh der Ladefläche des Trucks verstaut und angebunden hatten, meinte Ursa lachend: "Eigentlich wollten wir ja Hühner kaufen."
"Können wir doch", meinte Markus munter. Ihm gefiel ihre Art.
An Hühnern gab es einige Rassen zur Auswahl. Ursa ging davon aus, dass alle Rassen mehr oder weniger legefreudig sein würden - viele Eier brauchten sie ja eh nicht -, deshalb achtete sie mehr auf das Aussehen. Markus mischte sich nicht weiter ein, denn schließlich sollte mit den Hühnern kein Geld verdient werden.
"Die sehen doch niedlich aus", sagte Ursa und zeigte auf einen Käfig, in dem schwarz-weiß gesprenkelte Hühner hockten, dicht an dicht.
"Das sind Wyandotten", erklärte Markus.
"Was für ein komischer Name", lachte Ursa, "dann können wir ja gleich eines Dotty nennen."
"Sie wollen den Hühnern auch Namen geben?"
"Natürlich", antwortete sie aufgeräumt. "Es sind ja nur sieben." Sie schlenderten von Anbieter zu Anbieter und Ursa staunte, wie viele Rassen es gab mit so unterschiedlichen Namen wie Deutsches Lachshuhn, Brügger Kämpfer, Ostfriesische Möwen, aber auch einfach Hamburger oder Italiener. Ursa konnte nicht verhehlen, dass sie nur wegen des Rassenamens einen schneeweißen Italiener als Hahn haben wollte. Die weiblichen Hühner suchte sie nach Farbschlägen aus: es gab welche in goldlack, silbersprenkel, blau-gebändert, gelb-sperber, weiß-schwarz gescheckt und rost-rebhuhnfarbig. Nur bei einer Rasse riet Markus ab, da dieses Huhn zu einer Kampfhuhnrasse gehörte und sich mit den anderen schlecht vertragen würde. Natürlich ließ sich Ursa durch seine Sachkenntnis überzeugen und ließ von diesem Kauf ab. Ein großer Transportkäfig wurde gleich dazu gekauft.
"Jetzt müssen wir uns aber beeilen um nach Hause zu kommen, damit die Tiere nicht so beengt sein müssen", sagte Ursa besorgt.
Sie fuhren gerade in den Hof ein, da sahen sie das Auto von Maja stehen, die gerade ihrer Mutter beim Aussteigen half. Ursa ging hinüber und überließ es Markus, die Tiere abzuladen. "Inge, wie geht es dir?" fragte sie und führte sie Richtung Haus. Maja folgte stumm mit der Tasche. Die Tür öffnete sich und Anne und Amelie standen dort mit fragenden Gesichtern. Lisa wartete in der Küche und setzte sofort Kaffeewasser auf.
"Wo ist Anita?" fragte Inge sogleich. "Ich muss euch nämlich etwas mitteilen."
"Anita ist noch in Hamburg. Du weißt doch, ihr Freund....."
Inge nickte, seufzte und ließ sich auf einen Sessel nieder. "Also, um es kurz zu machen - ich habe ALS."
"ALS? Was ist das?" fragte Lisa, die gerade mit einem Tablett, auf dem Kaffeebecher und eine Kanne standen, an den Couchtisch kam und sich ebenfalls setzte.
"Also, die Ärzte wollten zunächst nicht so richtig mit der Sprache herausrücken, aber ich habe keine Ruhe gegeben, bis sie es doch getan haben. Ich habe nur soviel verstanden, dass diese Krankheit das Nervensystem zerstört und nach und nach die Muskulatur des gesamten Körpers ausfällt, weil die Verbindung zwischen Nervenzellen und Muskulatur nicht mehr funktioniert."
"Das ist ja furchtbar", murmelte Anne. Sie mochte sich das Ausmaß dieser Krankheit gar nicht ausmalen.
"Die gesamte Muskulatur? Bedeutet das, dass du irgendwann im Rollstuhl landest?" fragte Amelie ängstlich.
"Auszuschließen ist das nicht", antwortete Inge mit schleppender Stimme, ein Symptom dieser Krankheit.
"Und warum haben die das nicht schon eher in den unzähligen Kliniken, in denen du bereits warst, festgestellt und haben etwas dagegen unternommen?" fragte Lisa erschüttert über diese Hiobsbotschaft.
"Weil meist Männer diese Krankheit bekommen und sie in der Regel in den Beinen beginnt. Deshalb sind die Ärzte überhaupt nicht auf die Idee gekommen, diese Krankheit in Erwägung zu ziehen."
"Deshalb konntest du auch in letzter Zeit deine Arme so schlecht heben und nichts richtig festhalten", murmelte Ursa nachdenklich.
"Ach Inge!" Anne beugte sich über den Tisch und griff mit Tränen in den Augen mit beiden Händen nach deren Hand und drückte sie. Amelie, die direkt neben Inge saß, legte ihr den Kopf auf die Schulter. Sie war total erschüttert und konnte nichts sagen.
"Was machen wir denn nun?" fragte Lisa. "Was können wir für dich tun?"
Inge zuckte traurig lächelnd die Schultern. "Gar nichts. Man kann diese Krankheit nicht aufhalten. Ich muss einfach damit zurecht kommen. Wenn ihr nur dafür Verständnis habt, dass ich bei einigen Dingen nicht mehr so helfen kann."
Im Nu wirbelten alle Stimmen durcheinander und überschlugen sich beinahe. "Natürlich helfen wir dir, wo wir nur können." Anne drückte noch einmal Inges Hand, die sie bisher noch nicht losgelassen hatte. "Ja natürlich". "Na klar". Zustimmung von allen, und Inge lächelte dankbar. "Jetzt würde ich mich gern ein bisschen hinlegen. Ich bin müde."
"Dann fahr ich mal wieder", meldete sich Maja leise. Sie hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt und stand jetzt auf. Amelie begleitete Inge in ihr Zimmer, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Anne, Lisa und Ursa saßen noch wie betäubt am Tisch.
"Wie wird das bloß werden, wenn die Muskulatur noch weiter nachlässt und sie nicht mehr richtig schlucken kann. Kann sie dann überhaupt noch normale Nahrung zu sich nehmen?" fragte Anne, ohne eine von ihnen direkt anzusprechen.
"Wir werden das Essen für sie pürieren müssen", überlegte Ursa nachdenklich.
"Jetzt lassen wir uns erst einmal nicht unterkriegen", unterbrach Lisa die nachdenkliche Traurigkeit, "und stehen Inge zur Seite, soweit wir es können." Die anderen nickten still.
Ursa stand auf und ging zu Markus in den Stall. Er war gerade dabei, eine der Boxen dick mit Stroh auszustreuen, in der die beiden Ziegen bereits herumliefen. Er unterbrach seine Arbeit und schaute sie fragend an. Sie kam zum Boxengatter, lehnte sich dagegen und schaute auf die beiden Ziegen. "Unsere ersten Bewohnerinnen", meinte sie lächelnd. Markus schaute sie weiter stumm an, und sie bemerkte es. "Sie hat ALS", seufzte sie, "eine Krankheit, die tödlich verläuft."
"Ich weiß", antwortete er ruhig.
Erstaunt schaute Ursa ihn an. Sie räusperte sich. "Kann ich helfen? Ich muss was zu tun haben."
Markus löste sich aus seiner Erstarrung. Er hatte die Frauen lieb gewonnen, jede einzelne auf ihre Art, und diese Nachricht tat ihm wahnsinnig leid. Er zeigte auf den Wassereimer und sagte rau: "Die Ziegen brauchen noch Wasser und Futter."
Ursa war froh, dass sie sich ablenken konnte. Mit dem bis zum Rand gefüllten Eimer kam sie zur Box zurück. Markus war inzwischen dabei, frisches Heu in die Krippe zu füllen, das die Ziegen auch gleich anknabberten. Schweigsam verließ er danach den Stall um zum neuen Hühnerhaus hinüber zu gehen. Trigger kam leise in den Stall, stellte sich winselnd neben Ursa und stubste sie an. Als sie nicht reagierte, sondern weiter am Gatter lehnte und in Richtung Ziegen starrte, völlig in Gedanken versunken, ohne wirklich etwas zu sehen, stellte er sich auf die Hinterbeine, stützte sich mit den Vorderpfoten am Gatter ab und schaute wedelnd auf die beiden Ziegen, die sich dadurch gar nicht stören ließen, sondern weiter an den frischen Halmen naschten. Ursa musste wider Willen lachen. "Du bist ja fast größer als ich", staunte sie. Und als wäre das noch nicht genug, schleckte er ihr einfach kurz über die Wange. Lachend wehrte sie ihn ab und ihr wurde klar, dass es nichts brachte, für sie alle nichts brachte, in Trübsal zu versinken. Sie mussten mit dieser schrecklichen Nachricht klar kommen. Und am besten halfen sie Inge, wenn alles ganz normal weiterlief. Was sollten sie auch sonst tun? Gemeinsam mit Trigger ging sie zum Hühnerhaus hinüber. Markus wartete bereits auf sie. Er hatte die Hühner gefüttert, doch viel hatten die bisher nicht gefressen. Wahrscheinlich mussten sie sich erst aneinander und an ihr neues Zuhause gewöhnen. Markus zeigte Ursa noch, wo er das Futter untergebracht hatte, dann fuhr er nach Hause zum Kröger-Hof.
Lisa hatte einen Hack-Wirsing-Auflauf zubereitet und brachte ihn gerade auf den Tisch, da kam Anita nach Hause. "Hallo Mädels", rief sie gut gelaunt, als sie ins Wohnzimmer trat. Sie war immer recht aufgekratzt, wenn sie aus Hamburg zurück kam. Die anderen kannten das schon. "Was ist, ihr trüben Tassen. Hängt hier etwa der Haussegen schief?" Sie lachte und kam mit wiegenden Hüften zum Sofa gestöckelt. Mit Schwung warf sie sich in einen freien Sessel, schlug graziös die Beine übereinander, breitete die Arme aus und seufzte mit geschlossenen Augen: "Ah, ist das schön wieder Zuhause zu sein." Als keine Reaktion kam, öffnete sie die Augen und schaute irritiert in die Runde. "Was ist?" fragte sie etwas beunruhigt.
"Wir haben ein Problem", sagte Lisa leise.
Neugierig beugte sich Anita vor. "Ein Problem?" Sie lachte unsicher. "Ist etwa die Heizung ausgefallen, oder was?" Sie war einfach noch nicht bereit für Probleme, sondern stand immer noch unter dem Einfluss ihres Hamburg-Ausflugs. Deshalb stand sie auch auf, ging an den Schrank und schenkte sich einen großen Whiskey ein. Mit zwei Schlucken leerte sie das Glas und schaute unwillig auf ihre Freundinnen herab, die dort saßen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Inge fehlte. "Wo ist Inge?" fragte sie und wusste insgeheim, dass sie gleich eine wirklich schlechte Nachricht hören würde.
"Inge hat endlich eine Diagnose bekommen."
"Ja", ergänzte Anne, "aber behandeln können sie sie trotzdem nicht. Sie hat ALS."
"ALS, was ist das denn?" fragte Anita genau wie vorher Ursa. Sie erklärten es ihr. "Oh Gott, das ist wirklich schlimm", flüsterte Anita erschrocken. "Und wie nimmt es Inge selbst auf?"
"Sie ist sehr gefasst, aber auch sehr müde. Ich vermute, dass sie einen Schock erlitten hat und noch gar nicht realisiert hat, dass sie todkrank ist."
Doch dem war nicht so. Inge war sich voll bewusst, wie es um sie stand. Sie war nicht in ihr Zimmer gegangen um zu schlafen, wie sie den anderen weisgemacht hatte, sondern versuchte im Internet alle Informationen über diese Krankheit finden. Sie wollte gewappnet sein, weil sie wusste, sie würde besser damit zurecht kommen, wenn sie ganz genau Bescheid wusste. Die Ärzte hatten ihr erzählt, dass sie am Ende friedlich einschlafen würde. Hier im Internet stand etwas ganz anderes, nämlich, dass man mehr oder weniger qualvoll erstickte, da das Zwerchfell nicht mehr in der Lage war, die Lunge zum Ein- und Ausatmen zu aktivieren. Inge beschloss, noch heute ein Testament aufzusetzen und weitere Vorkehrungen zu treffen. Maja war versorgt, wie sie fand. Schließlich war sie verheiratet. Inge machte sich um ihre älteste Tochter keine Sorgen. Doch wie sollte sie es mit ihrem Anteil am Hof regeln? Würde sie alles Karina vererben, dann würde es Probleme für ihre Freundinnen geben. Denn der Resthof wäre dann eventuell in finanzieller Gefahr, weil die Freundinnen vielleicht nicht in der Lage wären, ihre Tochter auszuzahlen. Inge seufzte. Sie hatte plötzlich keine Lust mehr, sich damit zu befassen. Lustlos warf sie den Füller hin, stand mühsam auf, verließ ihr Zimmer und schlich leise die Diele entlang aus dem Haus. Langsam ging sie an der Weide entlang Richtung Waldstück. Nach einer Weile sah sie in der Ferne zwei Rehe, die am Waldrand ästen. Sie wollte näher heran. Der schmale Sandweg wurde uneben. Baumwurzeln ragten aus der Erde hervor, und es fiel ihr schwer darüber hinweg zu steigen. Aber sie schaffte es. Einen Schritt nach dem anderen. Sie war schon recht nah, da hörte sie in unmittelbarer Nähe einen Raben im Geäst krächzen. Aufmerksam hoben beide Rehe den Kopf und lauschten. Wieder krächzte der Rabe und Inge schaute zu ihm hoch. Der schwarze Vogel hatte den Kopf schief gelegt und betrachtete sie neugierig mit einem Auge. Als sie wieder zu den Rehen schaute, waren sie nicht mehr da. Der Rabe hatte sie gewarnt. Wieder schaute sie zu ihm hinauf. Er saß immer noch da, beugte den Kopf zu ihr hinunter, sperrte seinen Schnabel auf und krächzte, als wolle er sie verhöhnen. Dann flog auch er fort. Inge schaute sich um. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie weit sie gegangen war. Der Hof lag weit weg, war nur noch als Spielzeughaus zu erkennen. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war. Sie ging zu der weit ausladenden Buche, auf der der Rabe gesessen hatte, stützte sich am Stamm ab und ließ sich auf den kühlen Waldboden nieder. Jetzt konnte sie das Haus gar nicht mehr sehen. Es war verschwunden hinter den hohen Grashalmen der verlassen daliegenden Weide. Es wurde wirklich Zeit, dass hier Tiere einzogen. Über diesen Gedanken schlief sie ein.
"Inge schläft aber lange. Sollten wir sie nicht mal wecken? Sonst kann sie heute Nacht nicht schlafen", meinte Anne und räumte weiter den Geschirrspüler aus. Ursa wollte gerade nach draußen zu den Ziegen gehen. Die anderen hatten immer noch nicht mitgekriegt, dass sie neue Mitbewohner hatten.
"Ich guck mal nach ihr", rief sie und verschwand in der Diele. Augenblicke später war sie wieder da. "Sie ist nicht in ihrem Zimmer, und bei Amelie ist sie auch nicht."
Amelie tauchte hinter ihr auf und sagte besorgt: "Im Bad ist sie auch nicht. Vielleicht im Stall?"
"Was soll sie denn dort? Da ist doch noch alles leer", meinte Lisa kopfschüttelnd.
"Nun, ganz so leer ist er nicht mehr", meldete sich Ursas schlechtes Gewissen. Und als die anderen sie verdutzt und mit großen Augen anstarrten, rückte sie mit der Sprache heraus. "Na ja", sie wand sich, wusste nicht, wie sie es formulieren sollte, "ihr wisst ja, dass ich mit Markus auf diesem Geflügelmarkt war."
"Nein, das wussten wir nicht", unterbrach Lisa sie schroff.
Ursa schaute verunsichert zu Amelie hinüber. "Aber du wusstest es doch. Du warst doch dabei, als ich sagte, dass wir dorthin wollten."
Amelie schüttelte den Kopf, war aber mit ihren Gedanken bei Inge: wo mochte sie wohl sein? Bei dieser Diagnose konnte doch alles passieren. Sie machte sich große Sorgen. Inge sollte jetzt auf keinen Fall allein sein.
Als Ursa bemerkte, dass sie von Amelie keine Schützenhilfe bekommen würde, streckte sie sich und fing noch mal von vorn an. "Ich habe auf dem Geflügelmarkt sieben Hühner gekauft."
Stille. Doch dann sagte Anita, die am Esstisch saß und ihre Knöchel stöhnend massierte, lapidar: "Das ist doch gut. Jetzt bekommen wir wenigstens unsere Frühstückseier."
Ursa atmete erleichtert auf. Von den Ziegen wollte sie jetzt erst einmal nichts erzählen, denn eigentlich hatte sie ja versprechen müssen, in punkto Tierkauf keine Alleingänge mehr durchzuführen. Doch sie hatte kein Glück, denn jetzt sagte Lisa: "Auch wenn der Stall leer ist, können wir trotzdem mal gucken, ob Inge dort ist. Irgendwo muss sie ja sein."
Anita schlüpfte schnell in ihre unbequem hohen Schuhe und folgte den anderen. Nur Ursa ging noch hinter ihr. Die Stalltür war offen, doch es wurde allmählich kühl, denn die Sonne ging langsam unter. Gleich aus der vorderen Box schauten ihnen neugierig zwei Ziegen entgegen, eine weiße mit großen kaffeebraunen Flecken. Die andere, schwarz mit kleinen weißen Abzeichen, war wesentlich kleiner.
"Was ist das denn?" Verblüfft schaute Anne von den Ziegen zu Ursa, die verschämt zu Boden schaute.
"Hast du es also wieder gemacht!" rief Lisa verärgert. "Wir haben doch besprochen......"
Ursa unterbrach sie: "Ja, ich weiß. Aber die beiden brauchten dringend ein neues Zuhause. Und außerdem wollten wir doch sowieso Ziegen." Hilfe suchend schaute sie in die Runde.
"Ist ja auch egal im Moment." Anne schaute sich um. "Wir wollten doch Inge suchen, oder?"
Ursa war erleichtert. "Ich schau mal kurz oben über dem Stall nach", rief sie eifrig.
"Was soll sie denn da oben? Die steile Stiege würde sie doch eh nicht schaffen", meinte Lisa, doch Ursa war bereits nach oben verschwunden. "Hier ist sie nicht", rief sie nach unten und polterte die Treppe wieder herunter. "Und nun?"
"Wir teilen uns auf", sagte Anne stirnrunzelnd. "Weit kann sie ja nicht sein."
"Ich gehe zum Strand runter", sagte Ursa. "Lisa, kommst du mit?" Lisa nickte und die beiden machten sich, gemeinsam mit Trigger, auf den Weg. Schnell waren sie hinter den ersten Büschen verschwunden.
"Wollen wir in Richtung Dorf laufen?" fragte sie Anita. Die nickte.
"Ich gehe mit Micki den Weg dort an den Koppeln entlang", sagte Amelie aufgeregt. Sie war blass geworden vor lauter Sorge. Sogleich machte sie sich auf den Weg, doch durch ihre Gehbehinderung kam sie nur langsam voran. Micki, dieses Mal ohne Leine, lief vor ihr her und schnüffelte aufgeregt mal links, mal rechts. Amelie hatte Mühe voranzukommen, denn Baumwurzeln, die aus dem Boden ragten, versperrten ihr immer wieder den Weg. Und jetzt lief Micki auch noch weit voraus. "Micki!" rief sie, doch er gehorchte nicht. Im Gegenteil, laut bellend rannte er immer weiter. "Micki! Verdammt, hierher!" Amelie konnte nicht erkennen, wohin der Hund lief, denn sie musste auf den Weg achten, der sehr uneben war. Sie versuchte zu beschleunigen, gab es aber gleich wieder auf, denn sofort fing sie an unsicher zu stolpern. Sie blieb stehen und schaute angestrengt nach vorne. Da ihr Hund schneeweiß war, konnte sie ihn in der beginnenden Dunkelheit weit vorne erkennen. Er lief jetzt nicht mehr, sondern stand als weißer Fleck unter einem Baum. Er bellte wie verrückt. Amelie setzte sich wieder in Bewegung und holte beim Gehen ihr Handy heraus. Sie brauchte nur auf die "drei" zu drücken, um Ursa zu erreichen, die sich auch sogleich meldete.
"Hast du sie gefunden?"
"Ich weiß nicht", antwortete Amelie völlig außer Atem. "Micki hat etwas entdeckt, aber ich kann noch nicht erkennen, was es ist. Kommst du bitte?" Sie erklärte rasch, wo sie war. Dann kämpfte sie sich weiter über den unebenen Weg und stand nach einiger Zeit vor der ausladenden Buche. Inge saß davor, weit nach vorne gebeugt. Ihr Kopf lag auf ihrer Brust und die Arme hingen schlaff an den Seiten. Sie war völlig bewegungslos. Micki hatte aufgehört zu bellen, aber umrundete sie aufgeregt und schnüffelte dann an ihrem tief herunter gebeugtem Gesicht. "Inge?" Vor lauter Angst war Amelies Stimme kaum zu hören. Inge reagierte nicht. Weiter vorn hinter der Wegbiegung hörte Amelie jetzt Geräusche und Trigger löste sich aus der Dämmerung. Amelie hob ihren Gehstock, um ihn fernzuhalten, doch er wusste offenbar, dass er bei Inge vorsichtiger sein musste. Nie machte er Anstalten sie anzuspringen. Immer war er ihr gegenüber besonders vorsichtig. So legte er sich nun sofort hin, dicht an den leicht angewinkelten Beinen, als wolle er sie wärmen, schaute ihr von unten ins Gesicht und winselte. Und Inge reagierte, denn sie gab einen unartikulierten Laut von sich.
"Inge?" versuchte es Amelie noch einmal. Sie konnte wegen der Schmerzen im Rücken nicht in die Knie gehen, aber sie beugte sich über sie und berührte sie an der Schulter. Dann sah sie Ursa und Lisa um die Biegung kommen, das Handy an Lisas Ohr. Schwer atmend kamen sie näher. Sofort beugte sich Ursa über Inge und versuchte sie in eine normale Sitzposition zu bringen. Dann hob sie ihren Kopf an, den Inge, nachdem er wieder oben war, auch halten konnte. Mit angstvollen Augen schaute sie Ursa an.
"Gleich kommt Hilfe, Inge", murmelte sie nervös. "Die anderen sind auch gleich hier." Dann hockte sie sich neben ihre Freundin und nahm sie in den Arm um sie zu wärmen. Trigger lag nach wie vor auf der anderen Seite und schmiegte sich an ihre Beine, so als wüsste er, dass Inge jetzt vor allem viel Wärme benötigte. Micki kletterte auf ihren Schoß und rollte sich ruhig auf ihren Oberschenkeln zusammen. Lisa ging den Sandweg ein paar Schritte zurück um zu sehen, wann die anderen kamen. Und lange musste sie nicht warten, denn Anne und Anita kamen mit eiligen Schritten auf sie zu. Da sie auf dem Weg hierher am Hof vorbei kamen, war Anne schnell hineingelaufen und hatte nun eine Wolldecke dabei. Die breitete sie sogleich um Inges Schultern und Rücken. Keine der Frauen sprach. Sie warteten auf den Notarztwagen, den Lisa per Handy angefordert hatte. Es dauerte lange, dann endlich hörten sie in der Ferne das Martinshorn. Lisa, die den Weg ein Stück zurückgegangen war, sah, dass der Notarztwagen auf ihrem Hof zum Halten kam und jemand ausstieg. Lisa, die von den Frauen noch am sportlichsten war, setzte sich in Bewegung. Sie lief den holprigen Weg zurück zum Haus und schwenkte dabei wild die Arme. Als sie in Hörweite kam, fing sie an zu rufen: "Hierher! Hallo, hierher!" Der Sanitäter, der den Wagen verlassen hatte, entdeckte Lisa, die immer noch rufend und wild gestikulierend näher kam. Jetzt machte sie Zeichen den Weg zurück, den sie gekommen war, und der Mann verstand. Geschwind rannte er zum Wagen, setzte sich hinter das Steuer und Augenblicke später rumpelte der Notarztwagen den Weg auf sie zu. Er kam nur langsam voran, denn der unebene, mit Baumwurzeln überwucherte Weg ließ ihn unsanft hin und her schaukeln. Als er endlich bei ihnen war, standen die Frauen auf, nur Inge lehnte noch an dem Stamm. Die Wolldecke verhüllte sie fast völlig, so dass sie beinahe wie ein großer, grauer Stein aussah. Amelie hatte den nervösen Micki auf den Arm genommen und Ursa, die etwas abseits stand, hielt Trigger am Halsband fest.
Wie lange sitzt sie schon hier?" fragte der Arzt und schob ihren Ärmel hoch, um das Blutdruckgerät anzulegen. Wie fast immer übernahm Anne das Reden. "Wir wissen es nicht, aber es könnten ungefähr zwei Stunden sein."
Ernst schaute sie der Arzt von unten her an. "Sie ist völlig unterkühlt. Wir nehmen sie mit."
"Sie sollten wissen, dass sie gerade heute morgen die Diagnose ALS bekommen hat", meldete sich Ursa zu Wort.
"ALS?" murmelte der Arzt nachdenklich, während er weiter hantierte, einen Zugang legte und eine Spritze vom Assistenten entgegennahm.
"Glauben Sie, dass sie sich das Leben nehmen wollte?" fragte Amelie mit unsicherer Stimme. Lisa stieß ihr den Ellbogen in die Seite und nickte mit dem Kopf in Inges Richtung. Inge konnte sich im Augenblick zwar kaum bewegen, doch hören konnte sie immer noch gut.
"Nein, dass glaube ich nicht", murmelte er und trat zur Seite, damit die beiden Rettungsassistenten sie auf die Trage heben konnten.
Undeutlich kam es plötzlich von Inge: "Keine Gefahr. Ich will leben. Konnte nicht aufstehen." Dabei verzog sie das Gesicht und ihre Mimik glich einem Lächeln. Ein dünner Speichelfaden rann ihr aus dem Mundwinkel das Kinn herunter.
"Na sehen Sie", sagte der Arzt aufgeräumt und blickte lächelnd in die Runde. Dann verfrachteten sie Inge im Wagen. Anne stieg mit ein. Die anderen würden nachkommen.
Inzwischen war es fast vollkommen dunkel geworden, und der Notarztwagen blendete seine Scheinwerfer auf, als er anfuhr. Um die Patientin nicht völlig durchzuschütteln, fuhr er sehr langsam, so dass die nachfolgenden Frauen fast ebenso schnell waren. Amelie hatte sich bei Lisa untergehakt. Micki versuchte, selbst nach mehrmaligem Zurückrufen, bellend das Auto zu verfolgen. Wie fast immer gehorchte er nicht. Ursa, Anita und Trigger bildeten die Nachhut.
Inge hatte Glück im Unglück gehabt. Sie hatte keine Lungenentzündung bekommen, was bei ihrer Vorgeschichte tödlich hätte ausgehen können. Nach ein paar Tagen war sie wieder Zuhause. Ihre Freundinnen verwöhnten sie, und Markus brachte ihr das erste Ei, das eines der neuen Hühner gelegt hatte.
Maren hatte sich angekündigt. Sie wollte, nachdem sie ihr Abitur in der Tasche hatte, Ferien auf dem Bauernhof machen. Lisa freute sich, ihre Enkelin wieder zu sehen. Eines Vormittags fuhr sie mit ihrem kleinen Auto in den Hof. Lisa lief sogleich hinaus und nahm Maren in die Arme.
"Wie schön, dass du da bist! Wie lange kannst du bleiben?" fragte sie aufgeregt und strahlte ihre Enkelin an. Maren lächelte zurück. Sie freute sich, dass sie so willkommen war. Hier herrschte eine angenehme Atmosphäre im Gegensatz zu Zuhause, wo ihre Eltern sich nicht gerade selten stritten. Zumindest spürte sie oft, wenn sie nach Hause kam, die geladene Spannung in der Luft. Ihr Vater wirkte oft sehr unglücklich. Und häufig musste er in letzter Zeit auch abends immer noch bis spät arbeiten. Ihre Mutter lachte nur noch selten. Oft hatte sie schlechte Laune, war gereizt und wurde manchmal sogar laut. Es gefiel Maren nicht mehr Zuhause. Deshalb wollte sie hier auf dem Hof ihre Zeit verbringen, bevor sie sich für ein Studium entschied. Wenn sie überhaupt studieren würde, denn sie hatte sich noch nicht entschieden. Das war auch ein Grund, weshalb sie von Zuhause fort wollte: ihre Mutter versuchte sie zu einem Jurastudium zu drängen, doch dazu hatte Maren überhaupt keine Lust. Irgendwie hatte sie sich überhaupt noch nicht mit der Zukunft beschäftigt. Alles war noch sehr vage. Sie mochte Tiere, wollte aber auch Menschen helfen. Aber auch reisen würde sie gern. Ihre Großmutter hatte ihr vorgeschlagen auf den Hof zu kommen und erst einmal zur Ruhe zu kommen und sich klar zu machen, wofür ihr Herz wirklich brennt. Und nun war sie hier, wusste aber noch nicht, wie lange sie bleiben würde. Als Lisa sie danach fragte, sagte sie nur, dass es wohl mindestens ein paar Wochen, wenn nicht länger sein würde. Lisa strahlte und auch die anderen Frauen waren damit einverstanden, denn jede von ihnen kannte Maren als ausgeglichenes, ruhiges und freundliches Mädchen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die immer nervös und nie wirklich zufrieden wirkte. Alle freuten sich über Marens Besuch, und nachdem ihr Gepäck erst einmal in der Diele abgestellt worden war, saßen sie alle zusammen am großen Esstisch und tranken Tee.
Maren fügte sich wirklich gut in die Gemeinschaft ein. Auf ihre ruhige, freundliche Art packte sie überall mit an. Sie hatte das letzte Zimmer oben im Haus bezogen, direkt neben ihrer Großmutter. Morgens hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, Inge den ersten Tee ans Bett zu bringen und ihr beim Trinken zu helfen. Inge hatte nach dem Vorfall am Waldrand einen Rollstuhl, einen elektrischen, denn einen normalen konnte sie ja nicht fortbewegen. Bei diesem musste sie nur mit einem Finger einen Joystick bewegen. Aber mit Marens Hilfe ging sie auch gern ein paar Schritte hin und her. Oft spazierten sie langsam zum Hühnerhaus hinüber und schauten dem bunten Federvieh zu. Lisa beobachtete das Ganze und fand das Verhalten ihrer Enkelin vorbildlich. Sie war stolz auf sie, über die Empathie, die sie in der Lage war zu empfinden. Und das bereits in ihren jungen Jahren.
Amelie sah das ganz anders. Bisher hatte sie sich hauptsächlich um Inge gekümmert. Sie war diejenige, die Morgens an ihr Bett ging, ihr beim Aufstehen und Anziehen half, obwohl es ihr selbst schwer fiel. Sie saß am Esstisch neben ihr und half, wenn Inge nicht mehr mit Messer und Gabel zurecht kam. Und jetzt kam Maren, dieses junge Ding, und machte ihr diesen Platz streitig. Sie hatte sich bisher erfolgreich dagegen gewehrt, dass eine Krankenschwester eingestellt wurde. Und nun das. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie so heftig darauf reagierte. Eines Tages, Amelie kam gerade in die Küche, stand Lisa am Schrank und räumte Geschirr ein.
"Kannst du deine Enkeltochter nicht mal fragen, wann sie endlich wieder fährt?" Sie versuchte sich zurückzuhalten, doch es gelang nicht so recht. Ihr Ton war ungehalten und nicht sehr freundlich. Verblüfft drehte sich Lisa um, noch einen Stapel Teller in den Händen. "Warum sollte sie das tun? Es ist doch schön, dass sie hier ist und hilft." Fragend schaute sie Amelie an und wartete auf deren Bestätigung. Doch die blieb stumm, drehte sich abrupt um und verließ den Raum. In der Diele begegnete sie Anne, an der sie, ohne sie auch nur anzusehen, mit finsterem Gesicht vorbeilief.
"Was ist denn mit Amelie los? Habt ihr euch gestritten?" fragte sie Lisa, als sie die Küche betrat.
"Nein", zuckte Lisa die Schultern, "kann man so nicht sagen. Aber sie scheint etwas dagegen zu haben, dass Maren hier ist."
"Warum das denn? Sie ist doch so ein nettes umgängliches Ding."
Für Amelie wurde es noch schlimmer, als sie bemerkte, dass Micki sich häufiger bei Maren aufhielt. Wenn sie zum Strand hinunter joggte, nahm sie ihn mit und er tobte dann neben ihr her. Er freute sich, dass er endlich mal ordentlich rennen konnte. Da Amelie es versäumt hatte, den kleinen Hund zu erziehen und er daher nur selten gehorchte und kam, wenn er gerufen wurde, war er fast ohne Ausnahme angeleint, wenn es nach draußen ging. Und da Amelie gehbehindert war, waren die kurzen Spaziergänge nur im langsamen Tempo möglich. Mit Maren hingegen konnte er toben. Zwar war er auch hier meist an der Leine, Amelie hatte darauf bestanden, aber Maren rannte mit ihm um die Wette. Und jetzt, entdeckte Amelie mit Unmut, brachte sie dem Hund auch noch Kunststücke bei. Und Micki schien es zu gefallen, denn er war mit Eifer dabei. Bereits wenn Maren morgens die Küche betrat, rannte er schwanzwedelnd zu ihr und kam auch nicht unbedingt zu Amelie zurück, wenn sie ihn rief. Bei Maren schien es für ihn spannender zu sein. Dort passierte manchmal Aufregendes. Amelie war, sie musste es leider zugeben, eifersüchtig. Deshalb versuchte sie Maren loszuwerden, manchmal mit nicht ganz fairen Mitteln, denn sie nahm ihr die Aufmerksamkeit ihres Hundes und die Dankbarkeit ihrer Freundin, wenn sie sich, selbst krank und behindert, für sie aufopferte.
Amelie vermisste mal wieder ihren Hund, der früher eigentlich immer an ihrer Seite war. Sie ging zum Stall hinüber, denn im Haus war er nicht. Und tatsächlich: Ursa und Maren waren dabei, die beiden Ziegen zu füttern und die Streu auszuwechseln. Trigger lag ruhig in der Stallgasse. Micki saß vor der Box, wedelte aufgeregt, winselte und wollte offenbar hinein. Gerade als Amelie in die Stallgasse trat, sagte Maren mit energischer Stimme zu Micki: "Nein! Bleib!" Dabei machte sie eine entsprechende Handbewegung, und tatsächlich blieb der kleine Kerl artig sitzen, was vorher noch nie geklappt hatte. Ohne zu überlegen, fuhr Amelie dazwischen: "Was fällt dir ein, meinem Hund Befehle zu erteilen! Außerdem möchte ich nicht, dass du ihn einfach mitnimmst, ohne zu fragen!" Ihr Ton war unangemessen laut und ungehalten. Ursa schaute nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Sie hatte schon bemerkt, dass Amelie mit der neuen Situation nicht gut zurecht kam.
Maren lenkte sofort ein. "Entschuldigung, natürlich hätte ich dich fragen müssen."
Verdutzt schaute Amelie sie an. Ihr war der Wind aus den Segeln genommen worden. Sie hatte mit Widerstand gerechnet. Sie wusste ja, dass sie versäumt hatte, ihren Hund zu erziehen. Aber Maren entschuldigte sich und schien bedrückt zu sein, weil sie einen Fehler gemacht hatte. Wortlos wandte sich Amelie um und verließ den Stall. Über die Schulter rief sie noch zurück: "Und mit dir, Ursa, müssen wir auch noch reden." Sie nickte zu den Ziegen hinüber. Es war immer noch nicht darüber gesprochen worden, dass Ursa ein weiteres Mal gegen die Abmachung verstoßen und schon wieder Tiere ohne Rücksprache gekauft hatte.
Ursa richtete sich auf, stützte mit beiden Händen ihren Rücken ab und verdrehte die Augen. Aber bevor sie antworten konnte, war Amelie bereits nach draußen verschwunden. Dieses Mal folgte ihr Micki.
Markus kam gerade von der Scheune zurück und sagte aufgeregt: "Aber das müssen Sie doch nicht tun! Das ist doch meine Arbeit." Er eilte zu Ursa und nahm ihr die Schaufel, an der Mist und altes Stroh klebte, aus der Hand. Mit einem kleinen Lächeln überließ Ursa ihm gern die Arbeit. "Ja, es reicht mir auch. Ich wollte mich nur etwas betätigen, aber ich bin diese Arbeit noch nicht gewöhnt." Sie stöhnte leise. "Außerdem merke ich immer wieder, dass ich nicht mehr die Jüngste bin." Mit steifen Gliedern verließ sie den Stall zusammen mit Trigger und humpelte langsam hinüber zum Haus. Als sie es betrat, bemerkte sie sofort an dem plötzlichen Schweigen und den betretenen Gesichtern, dass offensichtlich über sie geredet worden war. Lisa war mit ihrem Fahrrad unterwegs, aber Anne stand an der Spüle und Anita und Amelie saßen am Tisch. Als Minka, die Katze, den großen schwarzen Hund sah, sprang sie auf eine Sessellehne, um ihn von dieser höheren Position beobachten zu können. Ihr Schwanz schlug hektisch hin und her. Sie traute ihm immer noch nicht über den Weg, und tatsächlich blieb er vor dem Sessel stehen und streckte seine Nase schnuppernd in die Höhe. Freundlich wedelte er mit dem Schwanz, aber dann ging er doch weiter zu seiner Decke und ließ sich seufzend nieder, denn ganz zu Anfang hatte er eine negative Erfahrung mit Minka gehabt, als sie ihm fauchend ihre Pfote ins Gesicht geschlagen hatte, als er ihr zu nahe gekommen war.
"Was ist?" fragte Ursa, "redet ihr etwa über mich?"
"Wir haben tatsächlich darüber gesprochen, dass du wieder mal Tiere gekauft hast, ohne uns vorher zu informieren", sagte Anne ruhig mit ernstem Gesicht.
"Ich weiß wirklich nicht, was ihr für ein Problem habt", erwiderte Ursa genervt, trat an den Kühlschrank und holte sich Selters und eine Saftflasche heraus und mischte beides in einem Glas. "Wir wollten Ziegen und nun haben wir Ziegen. Das mit dem Tierkauf schleppt sich doch sowieso viel zu lange hin", setzte sich hinzu, als sie bemerkte, dass Amelie sie unterbrechen wollte. "Der Stall ist bereit, selbst die Weide ist bezugsfähig. Was also gefällt euch nicht." Angriffslustig schaute sie in die Runde, und ihr Blick blieb auf Amelie haften. Die Frauen konnten nicht wirklich etwas darauf erwidern. Anita war es sowieso egal. Gelangweilt schaute sie auf ihre Fingernägel und überlegte, ob sie den Nagellack vielleicht mal weglassen sollte.
"Na ja", meinte Amelie etwas lahm, "es könnte ja sein, dass eine von uns auch gerade Ziegen gekauft hätte und dann hätten wir gleich vier."
"Das glaubst du doch selbst nicht." Ursa lachte genervt auf. "Selbst wenn. Was wäre daran so schlimm? Ich finde, wir sollten uns endlich um ein paar mehr Tiere bemühen. Wozu haben wir denn einen Bauernhof gekauft? Außerdem ist Markus mit zwei Ziegen und ein paar Hühnern überhaupt nicht ausgelastet. Zumal wenn wir uns selbst einbringen und uns mit den Tieren beschäftigen wollen." Als keine nennenswerte Reaktion erfolgte, setzte sie noch eines drauf: "Oder wollt ihr warten bis wir achtzig sind?"
"Nun übertreib mal nicht", antwortete Anne lahm. "Außerdem ist Markus nicht nur für die Tiere zuständig, denn er hilft mir einen Gemüsegarten anzulegen." Begeistert fügte sie hinzu: "Er hat ein riesiges Areal umgegraben und wir haben bereits Kartoffeln, Tomaten, Wurzeln, Salat und Rhabarber angepflanzt. Als nächstes bauen wir eine Kräuterspirale. Das wird Lisa freuen. Und uns natürlich auch, wenn wir immer frische Kräuter haben."
"Dann baut auch noch einen engen Maschendrahtzaun drum herum", lachte Anita, "damit die Ziegen nicht alles wieder auffressen."
Alle lachten mit und die Spannung löste sich. Auch Inge stimmte mit ein, die mitten im Gespräch mit ihrem Rollstuhl hereingekommen war und jetzt über einen Strohhalm ihren Saft trank.
"Was haltet ihr davon, wenn wir mal in ein Tierheim fahren und schauen, ob es dort außer Katzen und Hunden auch andere Tiere gibt."
Aber außer Katzen und Hunden, von denen viele gleich nach Weihnachten dort gelandet waren, gab es nur noch Kleintiere wie Meerschweinchen und Vögel. Allerdings auch ein Pärchen Laufenten und Ursa meinte begeistert: "Das sind genau die Richtigen, denn Laufenten fressen Schnecken für ihr Leben gern. Und wenn wir irgendwann auch unseren Salat selbst essen und nicht diesen schleimigen Tierchen überlassen wollen, sollten wir gleich die beiden mitnehmen."
Das taten die Frauen. Die beiden wurden in einem Transportkäfig verstaut und zum Hof mitgenommen. Dort staunten die Hunde nicht schlecht als sie sahen, dass hinter dem Zaun mit dem neuen Maschendraht zwei Neulinge herumwatschelten und sich langsam eingewöhnten.