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Schreckliche Weihnachten

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Die Weihnachtszeit nahte, und die Frauen waren am rotieren. Es brachte fast allen großen Spaß gemeinsam in der geräumigen Küche zu backen und zu kochen. Amelie und Inge hatten tolle Rezepte für leckere Kekse aus ihrem Fundus gezaubert. Und Lisa wollte sogar nach altem Rezept einen Stollen backen. Ursa, die nicht sehr am Kochen und Backen interessiert schien, war mit Anitas Wagen unterwegs ins nächste Dorf, um zwei Puter für Weihnachten zu bestellen.

Lisa war noch hektischer als sonst, da ihre Tochter Marie und ihr Sohn Stephan mit Familie über Weihnachten kommen würden. Endlich würde sie ihre Enkelin Maren wiedersehen.

Auch Annes Sohn Jonas hatte sich angekündigt. Etwas ängstlich schaute sie diesem Wiedersehen entgegen, denn Jonas, der schon lange keinen Job mehr hatte, sich auch um keinen bemühte, setzte seine Mutter, nachdem er von dem Lottogewinn erfahren hatte, unter Druck mit seinen ausgefallenen Wünschen.

Ursas Sohn Max würde wohl nicht kommen. Er trug es seiner Mutter immer noch nach, dass sie sich von seinem Vater schon vor vielen Jahren getrennt hatte, obwohl der, nicht zum ersten Mal, fremd gegangen war.

Eigentlich war es von allen Kindern sehr unterschiedlich aufgenommen worden, dass der Großteil des im Lotto gewonnenen Geldes in den Resthof geflossen und nicht zwischen den einzelnen Familienmitgliedern aufgeteilt worden war. Die Wünsche, die bereits kurz nach dem Gewinn, ziemlich nachdrücklich und beinahe unverschämt angemeldet wurden, sprengten zum Teil allerdings jegliche Vorstellungen. Jonas, Annes Sohn, wünschte sich einen Camaro Cabriolet 6,2 l. Sein jetziges Auto, welches Anne seit seiner Arbeitslosigkeit finanzierte, war zwar alt, doch noch völlig in Ordnung. Aber nun, da er wusste, dass seine Mutter offensichtlich nicht nur ihre Rente, sondern sehr viel mehr Geld besaß, wurde er ausverschämt, was Anne jedoch nicht zur Kenntnis nahm.

Stephan, Lisas Sohn, und seine Frau Cosima wollten ihre Tochter plötzlich in einem Elite-Internat in England ausbilden lassen und Cosima hätte es gern gesehen, wenn sich Lisa großzügig an den Kosten beteiligt hätte. Doch Maren wollte gar nicht nach England, das hatte Lisa in einem vertraulichen Gespräch mit ihrer Enkelin herausgefunden. Außerdem fand sie dieses Vorhaben auch reichlich dekadent. Aber was sollte man von einer, die Cosima hieß, anderes erwarten, dachte Lisa mit einem verächtlichen Lächeln auf den Lippen. Niemand hatte je davon gesprochen, als es noch keinen Lottogewinn gab. Lisa seufzte beim Gedanken an diese ausgefallenen, ja beinahe unverschämten Wünsche.

Die Freundinnen hofften, dass das Fest trotzdem ohne Probleme ablaufen würde, doch das schien Wunschdenken, da die erwachsenen Kinder fast ausnahmslos nicht zu realisierende Wünsche angemeldet hatten und immer wieder darauf hinwiesen. Schwierigkeiten schienen vorprogrammiert, vermutete Anita, die in diesem Moment froh war, keine Kinder zu haben.

Bisher gab es kaum Möglichkeiten, dass alle Frauen gemeinsam über ihr Land spazierten oder zum Strand hinunter wanderten. Lieber wollten sie ihr Haus und die jeweiligen Zimmer gemütlich ge­stalten. Nur Ursa hatte bisher ausgedehnte Wanderungen mit Trigger unternommen. Außerdem hatten sie weitere Gästezimmer über den Stallungen von Handwerkern ausbauen lassen und gemütlich hergerichtet, einfach zwar, aber zweckmäßig. Das alles war nun zum großen Teil abgeschlossen. Und heute nun auch die Weihnachtsbäckerei. Der Duft nach Zimt, Kardamon, Vanille und Orangen waberte immer noch lecker durch das Untergeschoss. Und selbst in der breiten Diele hing dieser köstliche Duft in der Luft und verstärkte beim Betreten des Hauses das weihnachtliche Gefühl.

Ursa, die mindestens zweimal täglich mit Trigger zum Strand hinunterlief und meist mehr als eine Stunde wegblieb, schlug heute einen gemeinsamen Spaziergang vor.

"Warum eigentlich nicht?" meinte Anne gut gelaunt und nahm Amelie in den Arm. "Was ist mit dir und Micki? Ihr kommt doch auch mit, oder?"

"Ich weiß nicht", meinte Amelie zögerlich mit einem undefinierbaren Blick auf Trigger.

"Ach komm", sagte Ursa, "die beiden müssen sich doch irgendwann sowieso aneinander gewöhnen."

"Kommt ihr?" rief Lisa durch die offene Stubentür und verdrehte die Augen, als sie hörte, dass es wieder um die Hunde ging. "Wir warten draußen!" rief sie und verließ mit Anita und Inge im Schlepptau das Haus.

Als die anderen endlich auch nach draußen kamen, mit beiden Hunden, wie Lisa erstaunt feststellte, traten Inge und Anita vor Kälte bereits von einem Fuß auf den anderen. Anita schlug ihre Arme rhythmisch gegen den Körper, um sich zu wärmen. Inge hingegen ließ ihre Arme hängen. Sie hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten sie zu heben. Aber sie maß diesem Umstand keine größere Bedeutung bei.

"Huch, ist das kalt", fröstelte Anne und zupfte sogleich ihren Schal höher. Tatsächlich hatte der Wind zugenommen, hatte sich fast zu einem Sturm ausgewachsen. In den Kronen der wenigen Bäume im Hof und der dahinter liegenden Koppel raschelte es heftig, und die kleineren Äste bogen sich im Wind. Die Luft war frisch und feucht, denn noch nicht mal vor einer Stunde war der erste Schneeregen gefallen. Unschlüssig und fröstelnd standen die Frauen herum.

"Was ist, Mädels?" grinste Ursa. "Seid ihr etwa aus Zucker?"

Anita boxte ihr leicht gegen den Arm und marschierte gemeinsam mit ihr los. Die anderen folgten. Trigger, der interessiert an der Hauswand schnüffelnd gewartet hatte, sprang vergnügt hinter den Frauen her. Er hatte sich wirklich gut integriert und ignorierte Micki fast völlig. Damit schien der kleine Weiße leben zu können, denn er knurrte nicht mehr, sobald er seiner ansichtig wurde. Nur Amelie traute dem Frieden noch nicht und hielt Micki lieber an der Leine. Auch war sie bisher noch nicht bereit gewesen, gemeinsam mit Ursa und ihrem Hund unterwegs zu sein. Heute war das erste Mal.

Der Weg zur Nordsee bestand nur aus einem schmalen, sanft abfallenden Sandweg, beidseitig begrenzt durch Wiesen und einige Büsche mit Hagebutten.

Endlich waren sie unten am Strand. Feine Gischt, die leicht salzig schmeckte, sprühte ihnen ins Gesicht. Kein Mensch war zu sehen, lediglich in der Ferne sahen sie Lichter in anderen Höfen. Auch am Horizont über dem Meer sahen sie Lichter. Das könnte vielleicht Nordstrand oder eine der Halligen sein, vermuteten die Frauen. Und sie mussten lachen, als sie sich an einen Ausflugstag vor zwei Jahren erinnerten. Sie waren auf die Insel Föhr gefahren, saßen auf der Terrasse der Milchbar und schauten über das Meer. Plötzlich fragte Amelie alarmiert: "Was sind das dort draußen für Schiffe? Sind das etwa Kriegsschiffe?" Was sie sah, waren die Häuser auf den Warften der Hallig Langeneß, die am Horizont zu sehen waren. Noch heute wurde Amelie von ihren Freundinnen damit aufgezogen, aber sie nahm es gutmütig hin.

Amelie leinte Micki ab, der sofort in weitem Bogen, aber nicht aggressiv um Trigger herumsauste. Und der tat dem kleinen Wirbelwind den Gefallen und beugte spielerisch seine Vorderpfoten und sprang dann mit wedelnder Rute ein Stück auf den Kleinen zu, der dadurch noch schneller wurde. Die beiden schienen sich freundlich anzunähern, und Amelie entspannte sich endlich.

Die Wellen schlugen heftig schäumend an den Strand, und die schon tief stehende Sonne zeigte sich kurz hinter den dahinstürmenden Wolken. Dann war sie wieder verschwunden und das Licht veränderte sich. Der Himmel wurde dunkler, doch am Horizont zauberten einzelne Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke brachen, silberne Lichteffekte auf das Wasser. Es war wunderschön. Die Luft war klar und erfrischend.

Nach einer guten halben Stunde wollte Amelie zurück. Es wurde ihr zu anstrengend. Auch Inge, Anne und Anita wollten wieder heim. Nur Lisa hatte Lust, mit Ursa noch ein Stück weiterzulaufen. Aber bevor sich die vier auf den Rückweg machten, ging Amelie noch zu Ursa, nahm sie in den Arm und drückte sie. "Danke", murmelte sie lächelnd und schaute auf die beiden Hunde. Als sie sich mit Micki und den anderen entfernte, blieb Trigger verdutzt stehen und schaute ihnen mit gespitzten Ohren und hoch erhobener Rute hinterher. Doch dann drehte er sich plötzlich um und lief in großen Sprüngen hinter Ursa und Lisa her.

Der Weihnachtsmorgen war da. Bereits gegen zehn Uhr kam das erste Auto mit Stephan, Cosima und Maren. Stephan hatte auch seine Schwester Marie mitgebracht, die selbst kein Auto hatte. Sie alle waren das erste Mal hier, und die drei Besucherinnen blieben staunend stehen und schauten sich um. Stephan hantierte derweil am Kofferraum und belud sich mit Taschen und in buntes Papier gewickelte Geschenke. Lisa, die mit Anne am Küchenfenster stand und hinausblickte, seufzte: "Keine Geschenke waren abgemacht. Doch was sehe ich: lauter Geschenke. Wahrscheinlich erwarten sie dafür eine finanzielle Gegenleistung", vermutete sie bitter. Anne zuckte lächelnd die Schultern, und Lisa entfernte sich in Richtung Tür, um ihre Familie in Empfang zu nehmen.

"Meine Güte, das ist kein Resthof, sondern ein Gutshof", staunte Stephan beeindruckt und drehte sich, immer noch mit dem Gepäck schwer beladen, um die eigene Achse.

"Das hat ja auch genug gekostet", zischte Cosima ihm zu. "Für uns ist ja nichts mehr übrig geblieben."

Anita, die wie alle anderen, diese Äußerung gehört hatte, drängte sich nach vorn. "Leider ist unser Gutshof, so wie du ihn nennst, nicht halb so groß wie du annimmst. Wir haben nämlich nur ein Gästezimmer. Und das wirst du dir mit deiner Tochter und Marie teilen müssen. Dein Mann", sie lächelte Stephan an und berührte ihn leicht am Arm, "wird mit Annes Sohn Jonas über dem Stall schlafen. Dort gibt es vier kleine Räume, die auch beheizbar sind." Anita entfernte sich von Stephan, warf aber einen vielsagenden Blick zurück über die Schulter.

"Darf ich auch im Stall schlafen?" fragte Maren aufgeregt. Sie hatte keine Lust, eine oder gar zwei Nächte mit ihrer Mutter in einem Zimmer zu verbringen.

"Ja, natürlich", antwortete Lisa. "Wenn du willst. aber komfortabel ist es nicht."

"Das macht nichts, Oma", antwortete Maren begeistert und Lisa zuckte zusammen. Sie mochte es nicht Oma genannt zu werden. Sie fühlte sich dann älter, als sie ohnehin schon war.

"Ja, dann. Bringen wir das Gepäck doch gleich hinüber", meinte sie und ging voraus. Anne begleitete inzwischen Cosima und Marie nach oben ins Gästezimmer.

Unmittelbar nach Stephan und seiner Familie kamen Inges Töchter auf dem Hof an. In Majas Wagen, denn Karina besaß keines. Als sie noch ihre Mutter in Hamburg besuchte, lieh sie sich immer deren Auto aus, um Freunde zu besuchen. Inge blieb dann allein zurück mit ihrer Sehnsucht nach dieser Tochter. Und natürlich eilte sie auch jetzt aus dem Haus, nahm ihre Lieblingstochter lachend in den Arm, drückte und herzte sie und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Maja stand daneben und schaute zu. Als die Begrüßung so gar kein Ende nehmen wollte, holte Maja das Gepäck aus dem Kofferraum und ging mit einem traurigen Lächeln an Ursa, Amelie und Anita vorbei, die in der Haustür standen. Inge bemerkte es nicht einmal. Sie hatte nur Augen für Karina. Amelie griff unbeholfen nach einer der Taschen, die Maja trug, doch die schüttelte nur den Kopf.

"Kommt doch erst mal rein und wärmt euch auf", sagte Amelie statt dessen freundlich.

Ursa meinte an Maja gewandt: "Stell die Taschen erst mal hier im Flur ab. Ihr müsst nachher sowieso rüber in den Stall."

Als Maja daraufhin neugierig die Augenbrauen hob, lachte Ursa: "Nein, ihr müsst nicht bei den Tieren schlafen. Wir haben noch keine. Aber gemütliche kleine Übernachtungsmöglichkeiten über den Ställen. Aber jetzt komm erst mal in die Küche. Dort gibt es heißen Tee. Den magst du doch, oder?" Es war offensichtlich, dass sie und auch Amelie versuchten, Maja abzulenken und ihr ein Gefühl von Willkommen geben wollten.

Kurze Zeit später kamen auch Inge und Karina, eng umschlungen und fröhlich lachend, in die Küche. Inge schaute ihre älteste Tochter an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Das Lächeln verschwand von ihren Zügen. "Hallo Maja. Schön, dass du auch da bist." Das, was sie sagte, klang nicht echt. Aber sie ging zu ihrer Tochter hinüber, nahm sie kurz in den Arm und klopfte ihr begütigend mehrmals auf den Rücken. Dabei wandte sie sich bereits wieder ab. Als sie sah, dass sie schweigend von ihren Freundinnen beobachtet wurde, fragte sie mit spröder Stimme: "Was ist? Bekommen wir auch einen Tee?"

Jonas traf gegen Mittag ein, und diese Begrüßung verlief sehr viel herzlicher. Allerdings nur von Annes Seite. Sie liebte ihren einzigen Sohn abgöttisch und versuchte, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.

"Hallo Mama", sagte Jonas, rang sich mühselig ein kleines Lächeln ab und löste sich sogleich aus der stürmischen Umarmung seiner Mutter. Aber Anne ließ sich nicht so leicht abschütteln, denn dafür sah sie ihren Sohn viel zu selten. Das war auch schon in Hamburg so.

"Mein Junge", strahlte sie ihn an und hielt ihn an den Armen fest. "Wie schön, dass du endlich mal kommst und mich besuchst." Ihr Sohn antwortete nicht, schaute sich nur um und stieß einen leisen Pfiff aus. "Komm, ich zeige dir, wo du übernachten kannst." Damit zog Anne ihn mit sich fort.

Anita, Ursa und Inge hatten die Szene beobachtet. Alle drei kannten Jonas schon aus Kindertagen. Und zwei von ihnen hielten nicht sehr viel von ihm. Sie lehnten am Tresen der offen gestalteten Küche und Ursa meinte ironisch: "Na, das wird ganz bestimmt ein schönes Weihnachtsfest."

"Wieso", antwortete Inge, "wenn sie ihren Sohn doch liebt."

Ursa schaute Anita an, sagte aber nichts. Beide wussten sie, dass Inge eine ihrer Töchter auch sehr liebte, ohne Kompromisse. Für diese Tochter tat sie alles. Karina brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, sofort stand Inge parat. An der anderen Tochter, an Maja, ließ sie oft kein gutes Haar, obwohl die immer wieder verzweifelt um die Liebe ihrer Mutter buhlte, jedoch ohne Erfolg. Aber Inge erkannte das überhaupt nicht. Letzte Weihnachten, so hatte Inge mal erzählt, habe sie ihren Töchtern dasselbe Geschenk gekauft. Doch Abends dann heimlich unter Karinas Kopfkissen zusätzlich einen Kaschmirpullover gelegt. Immer wurde diese Tochter bevorzugt. Bei vielen ihrer Reisen in aller Herren Länder war Karina stets dabei. Und natürlich bezahlte Inge alles. Mit Maja verreiste sie nie.

Der Weihnachtsabend verlief so wie befürchtet: Jonas schmiss sich in einen Sessel und ließ sich von seiner Mutter bedienen. Cosima zickte herum, weil ihre Schwiegermutter kein Geld zur Verfügung stellen konnte oder wollte für das Elite-Internat ihrer Tochter. Ursa wirkte depressiv und nahm kaum an einer Unterhaltung teil, weil sich ihr Sohn nicht mal per Telefon gemeldet hatte. Und Marie, Lisas Tochter, wirkte unendlich nervös, sprach kaum, schien nicht gern hier zu sein und stand ständig am Fenster, als würde sie auf etwas warten. Selbst die Hunde spürten die angespannte Stimmung und verkrochen sich auf ihre Decken. Minka, Annes Katze, hatte sich bereits, als der Besuch eintraf, ins obere Stockwerk zurückgezogen. Ursa war froh, als sie sich irgendwann entschuldigen konnte, weil die Hunde raus mussten. Trigger und Micki verstanden sich mittlerweile soweit, dass sie zusammen ausgeführt werden konnten.

Am nächsten Morgen beim Frühstück fehlte Jonas zunächst. Ihm war es am Abend zuvor zu langweilig geworden, und er war deshalb mit seinem alten Wagen noch weggefahren und erst spät in der Nacht zurückgekommen. Jetzt schlief er aus und seine Mutter lief unglücklich und wie in Trance zwischen Herd und Esstisch hin und her.

"Nun setz dich endlich mal hin", schimpfte Lisa. "Du bist ja völlig von der Rolle." Und zu Inge gewandt: "Kannst du mir mal die Schüssel oben aus dem Schrank reichen, damit ich die Rühreier rein tun kann?"

Inge reckte sich, konnte aber ihren Arm nicht heben, nur ein bisschen. Verblüfft meinte sie: "Ich schaffe das nicht."

Lisa schüttelte den Kopf und ging selbst zum Schrank. "Du solltest mal einen Arzt aufsuchen. Das ist doch nicht das erste Mal. Vielleicht hast du ja Rheuma."

Aber Inge glaubte das nicht so recht.

Cosima, aber auch ihr Mann Stephan, konnten es gar nicht abwarten, endlich wieder nach Hause zu fahren. Sie hatten nichts erreicht, kein Geld bekommen, keine Zusagen. Als sie sich am ersten Weihnachtstag am frühen Nachmittag fast eilig verabschiedeten, kam Maren noch einmal zu ihrer Großmutter zurück. "Entschuldige das Verhalten von Mom und Dad. Eigentlich wollten wir ja noch bis morgen bleiben. Aber sie sind sauer, weil sie von dem Lottogeld nichts abbekommen haben."

"Ich weiß", erwiderte Lisa traurig. "Aber soviel Geld war es nicht, und du weißt, dass wir es durch sechs teilen mussten."

"Ja, aber Mom meinte, dass sie wenigstens vom Wohnungsverkauf etwas hätten bekommen müssen."

"Warum das?" meinte Lisa erstaunt. "Diese Wohnung haben dein Großvater und ich uns erarbeitet. Dein Vater hat eine exzellente Ausbildung von uns finanziert bekommen und verdient genug, auch deine Mutter. Sie müssen wahrlich nicht hungern. Brauchst du Geld?" Sie hielt ihre Enkelin eine Armlänge von sich fort und schaute ihr besorgt in die Augen.

"Nein Oma, aber ich habe Angst, dass du uns jetzt böse bist."

"Ach was", meinte Lisa nicht ganz ehrlich, "aber du bist uns hier jederzeit willkommen. Das weißt du hoffentlich."

Maren strahlte. "Das ist gut", antwortete sie erleichtert. "Ich komme bestimmt öfter mal hierher. Ist ja nicht weit."

"Jederzeit!" sagte Lisa und meinte es dieses Mal wirklich ehrlich.

Jonas machte keine Anstalten, den Hof und die Frauen zu verlassen. Anne freute sich zwar, aber sie spürte, dass ihre Freundinnen ihn als Fremdkörper empfanden. Er schlief meist bis Mittag in dem kleinen Raum über dem Stall, kam dann ungewaschen und mit meist schlechter Laune zum Essen, aber beteiligte sich an keiner Hausarbeit. Abends fuhr er meist weg und keine wusste, wohin. Allerdings waren die Frauen erleichtert, dass sie nicht die Abende mit ihm verbringen mussten.

"Willst du deinen Sohn nicht mal fragen, wann er wieder fährt?" fragte Lisa ihre Freundin denn auch. Die anderen waren dabei und warteten ebenfalls auf eine Antwort. Anne schaute unglücklich drein. Sie war hin- und hergerissen. Sie spürte ja auch, dass sich keiner mehr so recht wohl fühlte, solange ihr Sohn noch hier war. Selbst Trigger, der gutmütige Trigger, fing an zu knurren und ließ es sich nicht gefallen, wenn Jonas ihn am Halsband nehmen und irgendwohin dirigieren wollte.

"Das solltest du lieber bleiben lassen", meinte Ursa ruhig, als sie es sah. "Er mag keine Männer." Sie lehnte lässig im Türrahmen und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt.

"Scheißköter", zischte Jonas nur, drängelte sich ruppig an ihr vorbei und verließ das Haus. Trigger kam schwanzwedelnd zu ihr, und sie strich ihm gedankenverloren über den Kopf.

Silvester kam, und Jonas war immer noch auf dem Hof.

"Warum fährt dein Sohn nicht endlich", fragte dieses Mal Ursa. "Meinst du, es hebt die Stimmung, wenn er heute Abend mit am Tisch sitzt und Fondue isst?"

"Ich habe ja schon mit ihm gesprochen", murmelte Anne, die sonst so resolute Anne. "Er hat mir versprochen nach Silvester wieder nach Hamburg zu fahren."

Ursa nickte und verließ das Zimmer, gefolgt von Trigger, ihrem tierischen Schatten.

Abends fuhr Jonas wieder fort, und die Frauen waren erleichtert.

Später, bevor sie alle gemeinsam gemütlich am großen Tisch Fondue essen wollten, gingen Ursa und Amelie noch mal mit den Hunden zum Strand. Schon auf dem Rückweg zog Micki wie verrückt an der Leine. Trigger, der sonst kaum einen Laut von sich gab, wuffte mehrmals und verschwand in der Dunkelheit. Jonas war inzwischen zurückgekehrt, aber er war nicht allein. Zwei Männer, ungefähr in Jonas´ Alter, waren bei ihm.

"Was ist hier los?" fragte Ursa beim Betreten des Hauses und versuchte, Festigkeit in ihre Stimme zu legen. Sie hielt Trigger am Halsband, dessen Nackenhaare sich steil aufgerichtet hatten.

"Was hier los ist? amüsierte sich Jonas, "ich bin zu Besuch bei meiner Mutter!"

An seiner Aussprache bemerkte Ursa, dass er betrunken war und sie sah auch, dass ihre Freundinnen wie gelähmt wirkten. Wie lange mochten diese Kerle wohl schon hier sein?

"Setz dich", zischte einer der fremden Männer.

Amelie schlüpfte ängstlich an Ursa vorbei und setzte sich zu den Freundinnen. Doch Ursa reagierte nicht darauf, sondern wandte sich an Jonas. "Ich glaube, du und deine Freunde verschwindet jetzt." Innerlich zitterte sie vor Angst und hielt sich deshalb mit einer Hand am Türrahmen fest, die andere klammerte sich nach wie vor an Triggers Halsband, der gar nicht mehr aufhörte zu knurren. Plötzlich stürmte Micki mit gekrümmten Rücken und eingezogener Rute zu Amelie. Als er an einem der Männer vorbeikam, trat der nach ihm. Micki heulte auf, doch richtig getroffen schien er nicht, denn er lief weiter und verschwand unter dem Stubentisch. Ursa sah die Angst in den Augen ihrer Freundinnen. Was sollten sie bloß machen? Fieberhaft überlegte sie, doch im Moment fiel ihr nichts ein.

"Setz dich", wiederholte der eine Mann drohend. "Und halte diesen Köter fest", fügte er nuschelnd hinzu. Als sie langsam ins Zimmer trat und sich auf die Sessellehne zu Inge setzte, Trigger dicht an ihrer Seite, sah sie, dass der zweite Mann ein Messer in der Hand hatte, sie diabolisch angrinste und sich damit die Nägel reinigte.

"So, Oma", wandte sich der erste Mann an Lisa, "du holst uns jetzt was Schönes zu trinken. Alkohol, verstehst du?"

"Nennen Sie mich nicht Oma!" erboste sich Lisa trotz ihrer Angst.

"Ich nenne dich so, wie ich will - Oma." Dabei dehnte er das Wort Oma höhnisch.

Lisa stand auf, ging in die Küche und holte die zwei Flaschen Sekt aus dem Kühlschrank, den sich die Frauen extra für Silvester besorgt hatten.

"Ist das alles? Du willst uns wohl verarschen!"

Anne zeigte daraufhin zum Stubenschrank. Sie schien wie paralysiert, weil ihr Sohn sie alle in diese Situation gebracht hatte.

"Los Oma", der Mann schien sich auf Lisa einzuschießen. Mit unbewegtem Gesicht holte Lisa alles an alkoholischen Getränken, die die Frauen vor vielen Wochen aus ihren einzelnen Wohnungen mitgebracht hatten und stellte alles auf den Tisch: ein Rest Whiskey, eine halbe Flasche Rum, eine fast volle Flasche Gin und eine noch nicht angebrochene Flasche Sherry. Ohne die Männer anzuschauen, setzte sie sich wieder und die Männer begannen zu trinken.

"Hey, du da!" brüllte einer. "Mach die Musik lauter!"

Amelie versuchte vom Sessel aufzustehen. Als das nicht schnell genug gelang, trat er heftig dagegen, so dass Amelie wieder zurückfiel. Die beiden fremden Männer gröhlten vor Begeisterung, und Jonas grinste zufrieden. Anne stand auf und machte die Musik lauter.

"Noch lauter!" schrie der Mann, legte das Messer auf den Tisch und schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. Völlig verstört schaute Anne ihren Sohn an. Doch der grinste nur und meinte: "Du hörst, was mein Freund gesagt hat." Dann tranken die bereits stark alkoholisierten Männer fast alle Flaschen leer, natürlich ohne Gläser zu benutzen. Nach einer Weile stand einer auf, versuchte zu tanzen und fiel dabei gegen den Schrank. Die Gläser darin klirrten, und irgendetwas schien auch entzwei zu gehen. Der Mann schüttete sich aus vor Lachen, doch es war kein freundliches Lachen. Als er zu seinem Platz zurücktorkelte, kam er dicht an Ursa vorbei und Trigger versuchte zuzuschnappen. Ursa zog ihn erschrocken zurück. Auch der Mann hatte sich wohl erschrocken, doch er drehte sich unbeholfen um und zischte an Ursa gewandt: "Noch einmal und ich stech ihn ab." Seine Worte wurden übertönt von dem gefährlichen Knurren des großen Hundes, der nun auch die Lefzen hochgezogen hatte und sein Gebiss zeigte. Fixieren konnte er den Mann nicht richtig, denn Ursa hielt seinen Kopf ängstlich an sich gedrückt. Wankend blieb der Mann stehen und lallte, an seine Kumpane gewandt: "Ich hab keine Lust mehr. Kommt, wir gehen." Ohne zu zögern, erhoben sich die beiden und gingen langsam in Richtung Tür. Die Frauen schauten sich aufatmend an. Doch dann kehrte Jonas zurück, und Triggers Knurren wurde wieder lauter und bedrohlicher. Dazwischen machte er wütende Schnappbewegungen in die Luft. Hätte Ursa ihn losgelassen, wäre er Jonas wohl an die Kehle gesprungen. Doch der kümmerte sich nicht darum, sondern torkelte zu seiner Mutter, beugte sich tief über sie und blies ihr seinen Alkoholatem ins Gesicht.

"Gib mir deinen Autoschlüssel", forderte er leise. "Du hast doch getankt, oder?"

Anne nickte erschüttert. So hatte sie ihren Sohn noch nie erlebt. Stumm zeigte sie auf die Anrichte, wo der Schlüssel lag. Jonas nahm ihn, doch kam er noch mal zurück, beugte sich wieder über seine Mutter, die vor Angst und Enttäuschung den Atem anhielt.

"Danke Mama", flüsterte er scheinheilig und grinste. "Du wirst doch nicht die Polizei verständigen, oder?"

Vehement schüttelte sie den Kopf. Er richtete sich auf, schaute in die Runde und meinte laut: "Das gilt auch für euch, ihr geizigen alten Weiber"!"

Die beiden anderen Männer waren zurückgekommen und standen in der Wohnzimmertür. Sie schienen es jetzt eilig zu haben, denn einer sagte: "Kommst du jetzt endlich?" Jonas ging zu ihnen, drehte sich jedoch noch einmal halb um und zeigte stumm mit dem Finger auf jede einzelne Frau. Dann waren die drei verschwunden. Wenige Augenblicke später hörte man den Automotor aufheulen, und die Frauen entspannten sich ein wenig. Trigger, der nun wieder frei war, stürzte zur geschlossenen Haustür, bellte und jaulte und kratzte frustriert daran. Als er merkte, dass er keinen Erfolg hatte, kam er stark hechelnd und leicht wedelnd zurück. Ursa knuddelte ihn heftig, und das Wedeln wurde stärker. Micki kam unter dem Tisch hervor und bat Amelie mit eingeklemmter Rute, auf den Schoß genommen zu werden, was diese auch sofort tat.

"Mein Gott, was war das denn?" murmelte Anita und Anne schüttelte fassungslos den Kopf. Dann fing sie an zu weinen. Sofort setzten sich Ursa und Anita neben sie und nahmen sie in den Arm. Anita griff dabei nach hinten und umklammerte Amelies Hand. Inge und Lisa beugten sich von oben über die Sofalehne und umarmten die anderen. Nach einer Weile beruhigten sich die Frauen langsam. Doch keine dachte mehr ans Essen. Ihnen allen war der Appetit vergangen. Doch ins Bett wollte auch keine. Sie wollten einfach nur beisammen bleiben und sich gegenseitig trösten und Kraft geben.

Alt, aber herrlich mutig

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