Читать книгу Alt, aber herrlich mutig - Ursula Mahr - Страница 8
Der Unfall
ОглавлениеMehr als eine Woche hörten sie nichts von Jonas. Er kam gar nicht auf die Idee, seiner Mutter ihr Auto zurückzubringen. Gott sei Dank hatten sie noch Anitas Auto, um Lebensmittel einzukaufen.
Doch dann stand eines Tages die Polizei vor der Tür. Amelie und Inge hatten sich hingelegt, doch Lisa arbeitete in der Küche und sah sie durchs Küchenfenster auf den Hof fahren. Aufgeregt rief sie nach hinten: "Die Polizei kommt!" Dann wischte sie sich die Hände ab und folgte den Freundinnen, die im Wohnzimmer beschäftigt gewesen waren, neugierig nach draußen. Die Hunde folgten. Langsam stiegen zwei Polizisten aus und setzten ihre Mützen auf. Dann kamen sie näher. Lisa hatte immer noch ihr Geschirrtuch in der Hand und wischte hektisch immer wieder ihre Finger ab.
"Frau Heide?" fragte einer der Polizisten und schaute fragend von einer zu anderen.
"Ja, ich", kam es leise von Anne.
"Können wir reingehen, Frau Heide?"
Sie nickte, ging voran und wies wortlos in Richtung Essstühle. Als alle saßen, holte er umständlich einen Notizblock hervor, als würde er das, was er zu sagen hatte, gern hinauszögern.
"Gehört Ihnen der Wagen mit folgendem Kennzeichen?" Er las von seinem Block ab. Anne nickte, und ihre Finger verkrampften sich ineinander. Der Polizist blickte hoch und schaute Anne mitleidig an.
"Es tut mir leid, aber es hat einen Unfall gegeben."
"Mein Sohn?" flüsterte Anne entsetzt und Anita griff nach ihrer Hand und drückte sie.
"Ja", antwortete der Polizist gedehnt und blickte wieder auf seine Notizen. "Es tut mir leid", wiederholte er. "Es hat Tote gegeben bei dem Unfall."
Anne schlug ihre Hand vor den Mund und stieß ein unartikuliertes Schluchzen aus. Der Polizist fasste sich und fuhr mit fester Stimme fort: "Es waren drei in Ihrem Wagen. Und alle drei waren stark alkoholisiert. Der Fahrer und der Beifahrer sind tödlich verunglückt, der dritte, der hinten saß, wurde schwer verletzt."
Anne hatte nun beide Hände im Gesicht und die Tränen liefen ungehindert ihre Wangen hinab.
"Herrje", flüsterte Lisa, "wann ist denn das passiert?"
"Gestern Nacht. Die drei waren wohl auf dem Weg zu ihnen, denn der Unfall ist nicht weit von hier geschehen."
"Auf dem Weg zu uns?" fragte Ursa entsetzt und schaute die anderen an. Ihr ging durch den Kopf, dass sie alle in dem ganzen Unglück Glück gehabt hatten, denn wenn die drei Männer auf dem Weg zu ihnen waren, wollten sie bestimmt nicht kommen, um den Wagen wieder abzuliefern. Sie sah, dass die anderen genau das Gleiche dachten. Nur Anne war zu keinem Gedanken fähig. Sie weinte jetzt ganz offen.
Nach einer Weile, die sich unangenehm dehnte, meinte der Polizist: "Sie müssen bitte mitkommen und ihren Sohn identifizieren."
Schlagartig hörte Anne auf zu weinen und schaute den Polizisten mit großen, verweinten Augen an. Nervös wischte sie sich über das nasse Gesicht.
"Glauben Sie denn, dass mein Jonas vielleicht der Verletzte ist?" Hoffnung keimte in ihr auf.
Doch der Polizist schüttelte den Kopf. "Leider nein. Anhand seines Ausweis, den er bei sich trug, können wir das ausschließen."
Anne sackte wieder in sich zusammen, doch es kamen keine Tränen mehr.
Nur Anita begleitete Anne zur Beerdigung. Die anderen Frauen waren der Meinung, dass Jonas und die fremden Männer ihnen genug angetan und offensichtlich das Gleiche oder Schlimmeres noch einmal geplant hatten. Anne nahm es hin. Sie konnte ihre Freundinnen sogar verstehen.
Nach der Beerdigung kehrten die beiden ziemlich schnell zurück auf den Hof. Doch Anne wollte noch nicht im Haus sein. Sie hatte das Bedürfnis einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Allein. Ihr ging so viel durch den Kopf. Sie schlug den Sandweg zum Meer ein. Immer wehte hier oben im Norden an der Küste eine Brise, nie war es wirklich windstill. Ständig musste Anne ihre Haare aus der Stirn streichen. Heute kam der Wind von Osten und brachte gutes, aber auch kaltes Wetter mit sich. Schnee lag in der Luft. Doch wenn der Wind sich drehte und plötzlich von Westen kam, was nicht selten der Fall war, dann würde es nur Regen geben, keinen Schnee.
Anne stand am Strand, schaute aufs Meer, wo die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden und der Himmel nicht mehr vom Meer zu unterscheiden war. Wie hatte es soweit kommen können, dass ihr Sohn Jonas sich so verhalten hatte. Sie konnte es nicht verstehen. Hatte sie denn alles falsch gemacht in der Erziehung? Aber es war müßig darüber nachzudenken. Jonas war tot. Ihr einziges Kind.
Sie begann zu frieren, wollte gerade zurück zum Haus gehen, da schoss etwas Schwarzes aus der Dunkelheit auf sie zu. Anne erschrak fürchterlich, doch dann erkannte sie Trigger. Freundlich wedelnd schnüffelte er an ihrer Hand. Dann verschwand er wieder in der Dunkelheit und kam Augenblicke später mit Ursa zurück.
"Was machst du hier im Dunkeln?" fragte diese.
"Ach, ich wollte einfach nur mal allein sein", erwiderte Anne traurig.
Nachdenklich schaute Ursa sie an. Dann sagte sie leise: "Du bist nicht Schuld an seinem Tod."
"Nein, aber an dem, was aus ihm geworden ist", rief Anne heftig und schluchzte auf.
Ursa schaute sie still an. Sie würde sich immer die Schuld geben, dachte sie voller Mitleid. Deshalb war es müßig, etwas dazu zu sagen. "Komm", sagte sie stattdessen, "es wird kalt." Arm in Arm gingen sie zurück zum Haus.
Der Frühling nahte. Schnee hatte es in diesem Winter kaum gegeben. Wenn ab und an welcher fiel, war er meist mittags wieder weggetaut. Jetzt zeigten sich bereits die ersten Frühlingsblumen. Anne hatte viel im Garten gearbeitet und sich damit von ihrer Trauer abzulenken versucht. Im Gartencenter hatte sie einen kleinen Rotahorn gekauft im Gedenken an ihren Sohn. Sie konnte das Bäumchen von ihrem Zimmer aus sehen, wenn sie am Fenster stand. Direkt am Haus hatte sie eine Clematis gepflanzt, die allerdings noch nicht blühte. Aber die gelben Narzissen leuchteten schon von weitem. Dazu sah der Kontrast der neuen, himmelblauen Sitzbank direkt neben der Eingangstür sehr hübsch aus.