Читать книгу Wasserschloss zu vererben - Usch Hollmann - Страница 10
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Оглавление„Dahlmann, du hast das Päckchen für Esther doch früh genug zur Post gebracht, nicht wahr?“ Fürstin Henriette geht unruhig in der Eingangshalle von Schloss Wallburg auf und ab. „Esther müsste es heute, pünktlich zu ihrem Geburtstag, bekommen haben. Wie spät ist es? Schon vierzehn Uhr? Die Post streikt doch wohl nicht schon wieder?“
Agnes Dahlmann tritt mit einem Glas Wasser und der für die Mittagszeit vorgesehenen Tabletten an die Seite ihrer Chefin.
„Seien Sie beruhigt, Fürstin, die Post ist rechtzeitig abgegangen und Esther hat ihr Geschenk ganz sicher bekommen, aber Graf Michael hat den Flieger für dreizehn Uhr bestellt und sie sind vermutlich gerade auf dem Flug nach Juist. Und da weder er noch Claudia zur Feier des Tages das Handy oder Smartphone in Betrieb nehmen wollten, hat sicher auch das Geburtstagskind keines dabei und kann Sie deshalb gar nicht anrufen. Nehmen Sie also ruhig ihre Medikamente und dann legen Sie sich ein Weilchen hin. Ich mache Ihnen später wie gewohnt einen Tee. Und falls das Telefon klingelt … ich bin ja im Hause.“
Gehorsam nimmt die Fürstin die Tabletten und das angebotene Glas Wasser an.
„Ich habe vorhin den Wetterbericht gehört – es bleibt sonnig, wenn auch etwas windig. Sie werden einen schönen Tag zusammen erleben, ich gönne es ihnen.“
Dahlmann nicht zustimmend.
„Ja, die Nordsee soll um diese Jahreszeit besonders reizvoll sein. Nicht umsonst ist Juist Esthers Lieblingsinsel, weshalb sie schon einige Male dort waren. Und dass der Pilot ein Freund der Familie ist und nach mehr als fünfhundert Flügen genug Erfahrung gesammelt haben dürfte, ist ebenfalls gut zu wissen. Esther wird morgen eine Menge zu erzählen haben.“
Sie schiebt die Fürstin mit sanftem Druck in Richtung Treppe. Auf der dritten Treppenstufe bleibt sie kurz stehen.
„Ich habe es Claudia nie wissen lassen, dass ich seit Fürst Raimunds Tod meine Tablettendosis fast verdoppeln musste … du weißt, dass ich immer öfter am Rande einer neuen Psychose herumkrauche – ich fühle mich manchmal so alleingelassen und nutzlos – das ist keine simple Altersdepression, was mich oft fast lebensmüde macht.“
Sie sieht sich in der Halle um, nimmt die Ahnenporträts derer von Wallburg in den Blick, die ihrerseits mit ernstem Gesichtsausdruck aus den kostbaren Goldrahmen schauen, und streicht mit müder Handbewegung eine ergrauende Haarsträhne aus der Stirn.
„Mit knapp sechzig Jahren ist man doch eigentlich noch zu jung für Altersdepressionen. Die Leute denken immer, wenn man in einem so schönen Schloss lebt und keine Existenzangst haben muss, dann hätte man für immer und ewig das Glück an seiner Seite. Sie lesen in den bunten Blättern von unseren schönen Kleidern, von unentwegten prunkvollen gesellschaftlichen Ereignissen, von Glanz und Gloria, sie beneiden uns womöglich, dabei …“
Dahlmann unterbricht energisch.
„Schluss jetzt, Fürstin, darüber reden wir notfalls nach Ihrem Schönheitsschläfchen – jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus.“
„Jaja, Dahlmann, ich gehorche!“
Die Fürstin greift nach dem Geländer und geht mit müden, kurzen Schritten endgültig nach oben.
Agnes Dahlmann bleibt in der Halle stehen, lauscht und wartet. Erst als sie hört, dass die Tür des Schlafzimmers geschlossen, noch ein Stuhl gerückt wird und dann Ruhe einkehrt, setzt sie sich in einen der Sessel vor dem Kamin und gibt sich ihren Gedanken hin:
Die Fürstin ist trotz ihres Standes nicht zu beneiden, auch wenn Außenstehende das vielleicht anders sehen, geht es ihr durch den Kopf. Wenn Weggi und ich nicht täglich um sie herum wären, liefe sie die meiste Zeit alleine durch dieses altehrwürdige Gemäuer. Die Verwaltung des Schlosses liegt bei Bovermann in guten Händen – sie ist die Fürstin und ich bin ihre Dahlmann, die Haushälterin – wir sind fast gleich alt, aber ich glaube, dass ich im Vergleich zu ihr den besseren Teil erwählt habe. Ich habe keine Depressionen und für mich gibt es handfeste Aufgaben. Ich bin manchmal sogar unentbehrlich, besonders, wenn es der Fürstin so schlecht geht wie jetzt. Claudia und Esther hängen an mir, als gehörte ich zur Familie – ich werde gebraucht und geliebt – Ob ich mit meinem Traumprinzen Richard glücklicher geworden wäre? Ist Claudia mit ihrem Michael eigentlich glücklich? Oder hat sie sich mit ihm nur arrangiert? Wer mag das gewesen sein, dem sie das erste Mal „Schmetterlinge im Bauch“ zu verdanken hatte?
Motorengeräusch reißt sie aus ihren Gedanken. Durch ein schmales Fenster neben der breiten Eingangstür sieht sie, wie ein unauffälliger Wagen vor der Gräfte anhält. Wagentüren öffnen und schließen sich mit dumpfem Geräusch, zwei Männer steigen aus. Mit eiligen Schritten überqueren sie die Brücke, laufen über den Kiesweg und steigen die alte Steintreppe empor.
Dahlmann stutzt. Sie kennt die Männer nicht. Ein Gefühl von Unbehagen steigt in ihr auf, dann hört sie, wie der Klingelzug betätigt wird. Widerwillig öffnet sie die Haustür einen Spalt weit. Einer der Männer trägt eine dunkle Sportjacke, bei dem anderen, einem sehr jungen Mann, fällt ihr der weiße steife Kragen eines Geistlichen auf.
Dahlmann hat plötzlich ein Gefühl, als presse ihr jemand mit harten Händen die Kehle zu. Mit rauer Stimme zwingt sie sich zu sprechen.
„Ja bitte?“
Der ältere der beiden hält ihr in Augenhöhe einen Dienstausweis hin, Dahlmann kommen Schriftzeichen und Stempel irgendwie bekannt vor, kann sie aber nicht einordnen.
„Verkehrspolizei“, hört sie eine unaufgeregte Stimme sagen. „Wir müssen die Fürstin von Wallburg sprechen.“ Eine zweite, sehr sanfte Männerstimme räuspert sich. „Mein Name ist Hilgert, ich bin Pastor – und wir kommen leider mit traurigen Nachrichten. Ist die Fürstin zu Hause?“
Dahlmann fühlt den Boden unter sich schwanken, als zöge jemand im Zeitlupentempo an der dicken Kokosmatte unter ihren Füßen. Mechanisch ziehen ihre Hände einen eisernen Schieber zur Seite – die Männer betreten die Halle.
„Die Fürstin hat sich gerade erst hingelegt, ich wecke sie ungern, es geht ihr momentan nicht gut“ flüstert sie halblaut.
Die beiden Männer sehen sich an, scheinen ratlos.
„Es ist leider unumgänglich, dass …“ Der mit dem weißen Stehkragen zieht seine Schultern hoch und wirft seinem Begleiter einen fragenden Blick zu.
Auch dessen Stimme scheint belegt, er räuspert sich.
„Wir müssen sogar um äußerste Eile bitten, es geht möglicherweise um Leben und Tod.“
„Ist etwas mit … Claudia?“ Dahlmann tastet nach einer Stuhllehne.
Die Männer nicken mit besorgtem Gesichtsausdruck.
„Aber die Fürstin …“
„Es ist in Ordnung, Dahlmann, ich möchte hören, was die Herren mir sagen müssen.“
Die Fürstin steht auf der untersten Treppenstufe, ihre rechte Hand umklammert den kunstvoll gedrechselten obersten Knauf des Geländers. Ihre Stimme klingt beherrscht und fordernd.
Die Männer treten näher.
„Fürstin, es fällt uns unendlich schwer, aber wir haben eine schmerzliche Nachricht zu überbringen. Offenbar waren Ihre Tochter Prinzessin Claudia, ihr Schwiegersohn Graf zu Lauenstein und deren beider Tochter Esther auf dem Flug nach Juist. Aus noch ungeklärten Gründen konnte das Flugzeug sein Ziel nicht erreichen – die Kriminalpolizei ermittelt momentan die Ursache des Absturzes, aber …“
Der mit der dunklen Sportjacke räuspert sich in äußerster Verlegenheit.
„Sind sie – tot?“
Die Frage der Fürstin kommt zögernd und beinahe tonlos.
„Nein, Ihre Tochter lebt, aber sie ist schwer verletzt – wir haben den Auftrag, Sie so schnell wie möglich zu ihr ins Krankenhaus zu bringen. Die Ärzte kümmern sich um sie, sie liegt auf der Intensivstation. Wir können nachempfinden, wie Ihnen zumute ist, aber es ist wohl Eile geboten … Fühlen Sie sich imstande, uns zu begleiten?“
Die Fürstin ist blass geworden, sie schwankt kaum sichtbar. Dennoch wendet sie sich mit fester Stimme an ihre Haushälterin.
„Dahlmann, bring mir eine Jacke oder …“
Sie steht noch immer auf der untersten Treppenstufe, die Knöchel ihrer rechten Hand, mit der sie sich am Geländer festhält, treten weiß hervor.
„Schnell, mein Kind, meine Claudia …“
Dahlmann fasst sich, sie atmet tief durch. „Ich komme mit.“
Ohne eine weitere Frage an die abwartenden Männer geht die Fürstin durch die Halle und schließt die noch immer geöffnete Terrassentür, durch die die schräg stehende Frühlingssonne die alten Steinfliesen zum Leuchten bringt. Dann lässt sie sich von der herbeieilenden Dahlmann in eine Jacke helfen, nimmt einen Schlüsselbund von einem dafür vorgesehenen Schlüsselbrett und geht zur Eingangstür.
„Gehen wir.“
Während der knapp halbstündigen Fahrt sitzen die beiden Frauen mit versteinertem Gesicht im Fond des Wagens. Die Fürstin sieht aus dem Fenster, ohne die Frühlingslandschaft wahrzunehmen. Unaufhaltsam und ohne hörbares Schluchzen rinnen Tränen über ihre Wangen und versickern im Jackenkragen. Agnes Dahlmann greift zuerst zögernd, dann beherzt zupackend die zitternden Hände der Fürstin und hält sie mit warmem Druck sanft fest, ihre eigenen Tränen zurückdrängend.
Auch die zwei Männer sprechen kaum. Der Fahrer mit der Sportjacke sieht nur ab und an besorgt in den Rückspiegel, die Fürstin beobachtend. Schließlich hantiert er an der Freisprechanlage seines Autotelefons und kündigt mit halblauter, sachlich klingender Stimme die Ankunft des Wagens in etwa drei Minuten an.
Am Krankenhauseingang werden sie von zwei Pflegerinnen erwartet. Die eine bietet der Fürstin ein rollstuhlähnliches Gefährt an, wird von dieser aber zur Seite gedrängt.
„Wo liegt meine Tochter?“
„Bitte folgen Sie uns auf die Intensivstation.“
Minuten später beugt die Fürstin sich über einen mit Bandagen und Tüchern verhüllten Körper. Claudia ist nur an der Flut blonder, zum Teil blutverklebter Locken zu erkennen. Ihr Gesicht ist durch Schwellungen und kleine Wunden entstellt. Als sie die Stimme ihrer Mutter hört, bemüht sie sich, die Augen zu öffnen.
Sie sucht den Blick der Mutter und will sprechen.
Die Fürstin tastet nach der Hand der Tochter, die schmal und mit seltsam verrenkten Fingern auf der silberfarbigen Folie liegt, mit der der Körper zugedeckt ist.
„Claudia, Schätzchen …“
„Mutter, du musst …“ Mühsam formuliert kommen einige Worte aus Claudias verzerrtem Mund. Die Fürstin wirft einen hilflosen Blick auf den betreuenden Arzt.
„Ihre Tochter scheint Ihnen etwas Wichtiges sagen zu wollen, sie ist aber kaum bei Bewusstsein – versuchen Sie, sie zu verstehen, der Puls ist sehr schwach.“
„Frag Harald – Mutter – Harald – der Brief – Christopher und Alessandro – mein Brief – Amerika …“ Sie versucht den Kopf zu heben, lässt ihn kraftlos wieder sinken. „Meine Söhne – meine Söhne – frag Harald – mein Brief – Chris … und Alessandro …“
Die Stimme bricht ab, der suchende Blick, eben noch auf die Mutter gerichtet, gleitet zur Seite, ins Leere. Das leise Geräusch eines tickenden Monitors verstummt. Der Arzt tastet an der Halsschlagader nach dem Puls, beugt sich über Claudias Körper und horcht, richtet sich wieder auf und schließt ihr mit sanft über das Gesicht gleitender Hand die Augen. Eine der anwesenden Pflegerinnen bekreuzigt sich. Es ist sehr still im Raum.
Mit ernstem Gesichtsausdruck greift der Arzt nach der Hand der Fürstin und versucht, deren Finger aus der krampfhaften Verflechtung mit der Hand der Tochter zu lösen.
Dahlmann kann den zur Seite schwankenden Körper ihrer Herrin gerade noch auffangen und halten.
„Was ist mit den anderen? Mit Esther und ihrem Vater?“ Die Frage der Fürstin ist kaum vernehmbar.
Dem Arzt fällt die Antwort sichtlich schwer.
„Die Verletzungen waren irreparabel … unsere ärztlichen Bemühungen waren vergeblich. Aber sie haben nicht gelitten, es ging alles zu schnell.“
Die Fürstin befreit sich mit sanftem Ruck aus Dahlmanns Armen und beugt sich über Claudias leblosen Körper. Mit behutsamer Geste versucht sie, ihr das verklebte Haar aus der Stirn zu streichen, berührt mit zitternden Fingern den Mund, die Wangen und die geschlossenen Augenlider und legt schließlich ihren Kopf an Claudias Gesicht. Für die Umstehenden unverständlich flüstert sie ihr zärtliche Worte zu. Dann fasst sie den Rand des locker über dem Körper liegenden weißen Tuches und zieht es sanft über das blasse Gesicht der Toten. Sie wendet sich an den Arzt.
„Ich möchte nach Hause … ich muss nachdenken … kann uns jemand fahren? Herr Doktor, ich bitte Sie, sich vorläufig um alles Nötige zu kümmern.“
Sie greift nach dem Arm ihrer Haushälterin und lässt sich aus dem Raum führen. Ehe die sich automatisch öffnende weiße Tür wieder schließt, wendet Dahlmann sich noch einmal um.
„Leb wohl, meine Laudi, wo immer du jetzt bist“, flüstert sie schluchzend.
Der junge Geistliche, der sich bislang respektvoll im Hintergrund gehalten hatte, stellt sich den beiden Frauen schüchtern in den Weg.
„Frau von Wallburg, darf ich Sie begleiten? Es ist bestimmt in Gottes Rat, dass man vom Liebsten was man hat, muss scheiden. In schweren Stunden kann das Wort Gottes …“
Die Fürstin unterbricht ihn.
„Vielleicht später einmal, wenn ich in der Lage sein werde, mich mit Gott und seinem Rat auseinanderzusetzen. Ein Gespräch über ihn und seine nicht nachvollziehbaren Entscheidungen überfordert mich jetzt.“
„Ich werde für Sie beten.“ Der junge Pastor, bemüht, Zuversicht zu verbreiten, tritt verlegen zur Seite.
„Ja, tun Sie, was Ihr Beruf Ihnen vorschreibt.“
Sie gehen, von einer der Pflegerinnen geführt, schweigend durch ein Labyrinth von langen weißen Fluren bis zum Hauptportal und treten ins Freie. Die strahlende Frühlingssonne blendet fast. Zwei Gärtner tragen eine Schale mit bunten Primeln in den Eingangsbereich.
Die Fürstin zieht fröstelnd ihre Jacke enger um die Schultern und schlägt den Kragen hoch. Tränen laufen ihr übers Gesicht.
„Dahlmann, heute Morgen schien die Welt noch so hoffnungsvoll – wir waren eine Familie – und jetzt sind wir beide plötzlich allein.“