Читать книгу Wasserschloss zu vererben - Usch Hollmann - Страница 7
1.
Оглавление„Ach, ihr mit eurem überholten Standesdünkel.“ Claudia von Wallburg, zu aufgebracht, um still zu sitzen, stößt ihren Stuhl rückwärts von sich, geht zum großen Gartenfenster und zieht mit energischem Griff den schweren Damastvorhang zur Seite. Nur widerwillig setzt sie sich danach erneut an den Frühstückstisch. Ihre Eltern, Fürst Raimund und Fürstin Henriette, verfolgen den Wutausbruch der Tochter schweigend, aber mit missbilligenden Blicken.
„Das sollte sich eigentlich längst sogar bis in die Abgeschiedenheit dieses alten Gemäuers herumgesprochen haben: Man kann heute auch ohne Adelstitel ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft werden. Ein von oder zu vor dem Namen? Vergesst es, das macht längst nicht mehr den Eindruck, von dem ihr beide immer noch träumt. Von solchen Märchen lassen sich bestenfalls noch die Leserinnen von Frauenzeitschriften einlullen, um sich beim Friseur und in Zahnarztpraxen die Wartezeit zu verkürzen. Im modernen Big Business zählen Qualitäten, nicht Titel. Ein goldenes Krönchen auf der Visitenkarte? Dass ich nicht lache! Aber ihr denkt immer noch, damit würden sich automatisch Tür und Tor zu einer glanzvollen Karriere öffnen.“
Claudia köpft mit einem gezielten Hieb ihr Frühstücksei und streut mit mehrfachem Schwung viel zu viel Salz auf den flüssigen Dotter.
Fürstin Henriette ergreift in liebevoller Besorgnis die peinlich exakt gefaltete Serviette des Fürsten und hilft ihm, diese wieder in den silbernen, mit dem fürstlichen Monogramm derer von Wallburg verzierten Serviettenring zu schieben, worum er sich mit fahrigen Gesten vergeblich bemüht hatte. Mit offensichtlicher Anstrengung erhebt er seine altersrostige Stimme.
„Ich verbitte mir diesen Ton, besonders an einem so herrlich sonnigen Herbstmorgen. Du benimmst dich wieder einmal wie eine pubertäre Vorstadtgöre und keinesfalls so, wie es unserem Stande entspricht.“
„Wie es unserem Stande entspricht!“ Claudia äfft den Tonfall des Vaters nach, stößt das durch zu viel Salz ungenießbar gewordene Ei von ihrem Teller in die Mitte des Tisches und schüttelt verständnislos den Kopf.
„Unserem Stande! Lächerlich! Was ist denn noch so besonders an ‚unserem Stande‘? Die meisten Adeligen sind verarmt oder zumindest bis zum Hals verschuldet. Viele müssen ihre Wasserschlösser und alten Herrensitze zu Hotels oder Museen umbauen oder es zulassen, dass neugierige Touristen auf Filzlatschen für Eintrittsgeld bis in die privaten Schlafzimmer schlurfen, damit die Eigentümer ihre Schlossmauern nicht aus lauter Finanznot den Abrissbirnen ausliefern müssen, – das heißt, ohne die gnädige Zustimmung der strengen Scharfrichter des Denkmalamtes dürfen sie ja selbst das nicht einmal.“
Die Tochter hämmert, die Hände zu Fäusten geballt, auf den Tisch.
„Vater, ich kann es nicht glauben, dass du immer noch der Überzeugung bist, die ‚von altem Adel‘ seien etwas Besonderes. Wir, die Wallburger, sind nur insofern anders als der Rest derer, die im Gotha verzeichnet sind, weil wir noch nicht verarmt sind, da du unseren Besitz umsichtig verwaltet hast, wofür ich dir wirklich dankbar bin. Aber was das Thema ‚Adel kommt von edel‘ betrifft – die Zeiten haben sich gründlich geändert. Es gibt genügend Beispiele dafür, ich brauche keine Namen zu nennen. Ihr müsst allmählich lernen, das zu akzeptieren. Adel verpflichtet nicht mehr. Weshalb also muss ich unbedingt einen Adeligen heiraten?“
Ein heftiger Hustenanfall schüttelt den Körper des alten Herrn, sodass die Fürstin sich einschaltet, nachdem sie ihrem Mann ein Glas Wasser gereicht hat.
„Weil Vater es sich wünscht, das weißt du sehr wohl. Und weil Adel nach wie vor und immer noch verpflichtet, auch wenn du anderer Meinung bist. Adel verpflichtet auch zu einem gepflegten Umgangston, darum ersuche ich dich jetzt dringend, dich in deiner Wortwahl zu mäßigen, umso mehr, als es dir wieder einmal gelungen ist, Vater in einer Weise zu provozieren, dass er …“
Sie legt dem Fürsten in großer Besorgnis den Arm um die Schultern.
„Liebster, Claudia hat sich von ihrem gestrigen Fest noch nicht wieder erholt. Das Treffen mit ihren Freundinnen aus der Abiturklasse hatte sich sehr in die Länge gezogen. Sie ist etwas übermüdet und meint es nicht so, wie es jetzt klingt … sie ist unsere Tochter, von deinem und meinem Blut, sie wird Wort halten und Michael Graf Lauenstein heiraten. Eine von Wallburg hält, was sie einmal versprochen hat.“
Fürst Raimund greift nach der kostbaren, mit Rosen bemalten Meißner Pillendose und entnimmt ihr eine Anzahl von Tabletten, die er ebenso wie ein Glas Wasser mit zitternden Händen zum Munde führt. Er wirft seiner Frau unter schweren Lidern einen unsicheren Blick zu.
„Ich fühle mich heute nicht in der Verfassung, dieses immer wiederkehrende Thema ein weiteres Mal ergebnislos zu erörtern. Ich habe das Bedürfnis, mich noch einmal hinzulegen. Würdest du bitte Dr. Mittmann anrufen und fragen, ob er – hoffentlich noch heute Vormittag – hier vorbeikommen kann? Und er möge das neue Herzpräparat mitbringen, von dem er bei seinem letzten Besuch gesprochen hat.“
Mühsam, aber um Haltung bemüht, erhebt er sich vom Tisch und geht, den hilfreich angebotenen Arm seiner Frau dankbar ergreifend, durch die Halle zu der geschwungenen Holztreppe, die in die oberen Stockwerke von Schloss Wallburg führt.
Die Fürstin streift ihre Tochter noch einmal mit einem vorwurfsvollen Blick, ehe sie den Gatten nach oben begleitet.
Claudia bleibt allein am Tisch sitzen. Wütend zerbröselt sie ihren Toast und wirft das silberne Frühstücksmesser in den Brotkorb.
Agnes Dahlmann, die Haushälterin, steckt ihren Kopf durch die Türe des angrenzenden Wirtschaftsraumes.
„Kann ich schon abräumen?“
Claudia sieht sie hilfesuchend an. „Komm rein, Dahlmann, hast du das gehört? Ja, ja, ja, es stimmt, ich habe versprochen, Michael zu Lauenstein zu heiraten, aber eigentlich nur, weil Papa es sich sehnlichst wünscht – er hat sich ja immer einen Sohn gewünscht. Ich als das einzige Kind meiner Eltern bin leider nur eine Tochter geworden – so ein Pech aber auch! Aber weil es bei den beiden nicht zu einem Sohn aus eigenem Fleisch und blauem Blut gereicht hat, muss wenigstens ein Schwiegersohn her, und zwar ein standesgemäßer. Ja, ich habe versprochen, ihn zu heiraten, aber sie haben mir auch etwas versprochen. Als ich vor Wochen mit meinem durchaus akzeptablen Abiturzeugnis nach Hause kam, hatte ich mir gewünscht, dass ich zur Belohnung für ein Jahr in die USA darf, um mein Englisch zu verbessern. Und wenn ich mein Versprechen halte, kann ich erwarten, dass sie ihres auch halten. Sie müssen mich vor der Hochzeit noch für ein Jahr von der Leine lassen, aber nun kämpfe ich schon seit einer halben Ewigkeit darum, dass ich mich endlich um einen Flug kümmern darf, weil …“
Den Blick in den sonnigen Garten gerichtet, atmet sie tief durch.
„Dahlmann, du hast es eben sicher gehört, was Mama gesagt hat: ‚Eine von Wallburg hält, was sie verspricht‘. Aber bei ihnen ist seit Monaten von ihrem Versprechen überhaupt nicht mehr die Rede. Jetzt sind sie wieder beleidigt abgezogen und nach oben gegangen. Ja, ja, ja, ich weiß, dass Mama sei Jahren schwer depressiv ist, ich nehme so gut ich kann auch Rücksicht darauf, auch wenn ich manchmal Zweifel habe, ob sie sich nicht – aus mir natürlich unbekannten Gründen – in diese Krankheit flüchtet. Und auch daran habe ich mich gewöhnen müssen, dass Papa immer mal wieder kurz vor dem Herzstillstand steht und keine noch so geringe Belastung überleben würde.“
Agnes Dahlmann will etwas einwenden, aber Claudia ist nicht zu bremsen.
„Und deshalb darf ich gar keinen Gedanken mehr äußern, der seiner Denkweise auch nur im Mindesten widerspricht. Wann immer es ihnen geboten scheint, ziehen sie sich kurz vor dem „Ende“ zurück, nehmen übel und lassen mich mit schlechten Gewissen sitzen. Dahma, wenn du wüsstest, wie sehr ich mich danach sehne, diesen Zwängen wenigstens für ein Jahr zu entkommen – bevor ich in den nächsten goldenen Käfig gesperrt werde. Am liebsten würde ich gleich morgen in den Flieger in die USA steigen.“ Sie ergreift einen Zipfel des Tischtuches und wischt sich mit ungeduldiger Geste ein paar Tränen aus dem Gesicht.
„Und sie bringen mich immer wieder zum Heulen, auch wenn ich gar nicht heulen will. Das muss auch mal aufhören.“
Die Haushälterin hat begonnen, das benutzte Geschirr aufeinanderzustapeln. Doch ehe sie damit in die Küche geht, stellt sie es noch einmal ab und nimmt Claudia in den Arm.
„Laudi, mein kleines Mädchen.“ Unversehens sind beide in die Anrede aus Claudias Kindertagen verfallen: Dahma und Laudi. Sie streicht der weinenden Prinzessin liebevoll übers Haar.
„Vielleicht solltest du versuchen, einen etwas weniger rebellischen Tonfall anzuschlagen, wenn du mit deinen Eltern sprichst. Dein Vater ist in der Tat schwer herzkrank und deine Mutter hat es nicht gerade einfach mit ihm. Was ihre zeitweiligen Anfälle von Depressionen betrifft, so finde ich, dass sie sich dennoch sehr tapfer hält.“
Das „kleine Mädchen“ schlägt die Hände vors Gesicht.
„Jajaja, und deshalb brauchen sie unentwegt Schonung und Nachsicht und müssen wie rohe Eier behandelt werden … Dahma, ich brauche auch manchmal Schonung und Rücksichtnahme, aber daran denkt niemand, und ich …“
Claudia beginnt hemmungslos zu schluchzen.
„Ich kann hier doch nicht ein ganzes Jahr untätig herumsitzen oder womöglich Monogramme in die Aussteuerwäsche sticken, bis Michael sein zweites Staatsexamen gemacht hat. Denn ehe er das nicht in der Tasche hat, denkt er nicht ans Heiraten. Und überhaupt – ich versteh ihn manchmal nicht – er ist so ehrgeizig, hat nur sein Studium und seinen zukünftigen Beruf im Kopf, träumt von einer glanzvollen Anwaltskarriere, von interessanten Fällen und …“
Agnes Dahlmann unterbricht sie.
„Kind, sei nicht ungerecht. In der heutigen Zeit ehrgeizig zu sein, ist kein Fehler, sondern ein Muss. Auch ihm als Adeligem fällt nichts in den Schoß, das weißt du selbst. Und – ich dachte immer, du liebst ihn?“
„Ach, Dahma – Liebe, das ist ein großes Wort. Ja, er ist nett, er ist anständig, er sieht gut aus, die Lauensteins sind reich, er ist ganz bestimmt das, was man eine gute Partie nennt. Alle Mütter mit Töchtern im heiratsfähigen Alter wünschen sich einen solchen Schwiegersohn – und ich mag ihn ja auch, aber …“ Sie stockt.
„Was, aber?“
„Ich verzehre mich nicht nach ihm, ich bekomme keine ‚Schmetterlinge im Bauch‘ in seiner Nähe – Mama sagt, das käme erst in der Ehe, aber ob Mama das jemals erlebt hat, das mit den Schmetterlingen im Bauch? Ob die Verbindung mit Papa nicht womöglich auch eine Ehe aus Standesgründen war? Dahma, warst du eigentlich mal verliebt?“
Die so Angesprochene streicht nachdenklich die Tischdecke glatt.
„Ja, war ich – und wie!“
„Oh, erzähl mal – wer war das, wie hieß er? Und warum hast du ihn nicht geheiratet?“
Claudia wischt mit dem Handrücken die letzten Tränen ab und sieht ihre „Dahma“ erwartungsvoll an.
„Er hieß Richard und war der Sohn eines Professors – und ich war die Tochter eines Tischlermeisters. Solche Standesunterschiede waren in meiner Jugend nicht zu überbrücken. Das hat sich bis zum heutigen Tage doch etwas gelockert, aber …“
„Das denkst du“, unterbricht Claudia. „Schön wär’s. In normalen, also in bürgerlichen Gesellschaftsschichten, hat es sich vielleicht etwas gelockert, aber in ‚unseren Kreisen‘, wie meine Mutter zu sagen beliebt, gibt es noch haufenweise Ewiggestrige, die der Ansicht sind, kostbares blaues und ordinäres rotes Blut dürfe man nicht mischen. ‚Lila Blut tut niemand gut‘, das ist doch einer ihrer Standardsätze.“
Nach einer Pause fährt sie resigniert fort:
„Deswegen sind meine Eltern auch so versessen darauf, dass ihre einzige Tochter einen Blaublütigen heiratet. Und Papa will endlich einen Sohn haben. Er hat es mich oft genug deutlich spüren lassen, wie sehr er es bedauert, dass ich nur ein Mädchen geworden bin. Ach, Dahma, du durftest nicht nach deinem Herzen heiraten, aber ich darf auch nicht frei entscheiden. Standesunterschiede und Standesdünkel gibt es auch heute noch, sonst müsste ich doch nicht diesen guten, lieben, ehrgeizigen und langweiligen Michael zu Lauenstein heiraten. Vater fiele tot vom Stuhl, wenn ich ihm eines Tages einen Bürgerlichen als künftigen Schwiegersohn präsentieren würde. Und Mutter würde mich enterben – sie hat ja bei uns das ganze Geld und die Ländereien, auf die Onkel Edwin, Mutters blöder Bruder, so erpicht ist. Das ist ja auch einer der Gründe, weswegen ich Michael heiraten soll: Dass unser Geld mit dem der Lauensteins verschmilzt, dass Michael und ich viele Kinder bekommen und dass Onkel Edwin, dieser Nichtsnutz mit seinen riskanten Finanzgeschäften, in die Röhre kuckt. Aber erzähl mir weiter von deinem Richard, in den du verliebt warst – war auch er in dich verliebt?“
„Nein, nein, und er war auch nie mein Richard, denn er hat ja gar nicht wissen können, wie es in mir aussah. Wir haben nur ein einziges Mal eher zufällig zusammen getanzt und danach hat er mich geküsst, aber mehr so bussibussi-mäßig. Und seitdem habe ich mich nach ihm ‚verzehrt‘, wie du es nennst, monatelang, und ich hatte die von dir erwähnten ‚Schmetterlinge im Bauch‘, wenn ich ihn nur von Weitem gesehen habe.“
„Arme Dahma, aber hättest du keinen anderen heiraten können? Du warst doch sicher hübsch früher. Bist es ja heute noch … du könntest noch heute einen Mann finden.“
„Ach, Kind, mit 45 Jahren denkt man nicht mehr unbedingt ans Heiraten. Nein, ‚verzehrt‘ habe ich mich nur nach Richard, dem Unerreichbaren. Und dann stand ja eines Tages diese Anzeige in der Zeitung, dass auf Schloss Wallburg die junge Fürstin Henriette eine zuverlässige Kinderfrau für die Betreuung der neugeborenen Prinzessin Claudia braucht – und weil ich ohne ‚Schmetterlinge im Bauch‘ niemanden heiraten wollte, bin ich ledig geblieben und eure Dahlmann und deine Dahma geworden – und das habe ich nie bereut. Besonders nicht deinetwegen, denn dadurch, dass deine Mutter andere Aufgaben übernehmen musste, bist du meine Laudi geworden. Du konntest lange keinen K-Laut sprechen. ‚Dahma, Dahma, Laudi Arm!‘ Das war immer so süß, wenn du nach mir gerufen hast.“
„Das möchte ich noch heute manchmal rufen“, murmelt Claudia und drängt sich in die Arme der Haushälterin.
„Du hast diesen Richard also nicht einmal geküsst … willst du damit sagen, dass du nie … also du hast nie … Dahma, bist du womöglich noch – Jungfrau?“
„Aber Claudia, so etwas fragt man doch nicht … so etwas würde ich dich bei all unserer Vertrautheit nie fragen.“
Agnes Dahlmann ist rot geworden. Sie schiebt Claudias von sich und streicht wieder mit fahrigen Händen über die längst tadellos geglättete Tischdecke.
„Aber du dürftest mich so etwas ruhig fragen“, wendet Claudia lebhaft ein, „Denn du kennst mich, seitdem ich lebe, also immerhin seit fast 19 Jahren. Du kennst mich besser, als meine eigene Mutter mich kennt – ich habe ‚Dahma‘ gebrabbelt, noch bevor ich „Mama“ sagen konnte, und deshalb verrate ich es dir ungefragt: Ich bin keine Jungfrau mehr. Setz dich hin, bevor du vor Schreck umfällst.“
Dahlmann lässt sich sichtlich erschüttert auf den nächsten Stuhl fallen. „Aber Claudia, ich …“
„Dahma, ich war die letzte Jungfrau in unserer Abiturklasse, alle konnten irgendwann von ihren erotischen Ersterfahrungen berichten, nur ich nicht – das war ja schon fast peinlich.“
„So etwas erzählt ihr euch gegenseitig? In meiner Jugend … Laudi, du machst mich sprachlos.“
„Ach, Dahma.“ Claudia verfällt immer wieder in den Kosenamen aus längst vergangenen Kindertagen.
„Diesbezüglich stand ich nicht wirklich unter dem Druck meiner Klassenkameradinnen – ich hätte mir jederzeit einen Liebhaber ausdenken können, um mich damit zu brüsten. Wer weiß, ob die anderen nicht auch dann und wann geflunkert haben. Notfalls hätte ich auch fröhlich gelogen. Nein, den eigentlichen Druck hat Vater ausgeübt.
‚Ist mit dir und Michael in jeder Beziehung alles in Ordnung?‘, fragte er manchmal. Anfangs wusste ich gar nicht, was genau er meinte, dann hakte Vater nach. ‚Ich meine – ist Michael ein richtiger Mann?‘ Wenn er sich getraut hätte, würde er wohl gefragt haben: ‚Ist dein Zukünftiger gut im Bett? Ist er imstande, der Vater meiner Enkel zu werden?‘ Dann hätte ich ihm wahrscheinlich ins Gesicht gesagt: ‚Ja, Vater, deine Sorgen sind unbegründet – er ist imstande, aber er bringt mein Blut nicht zum Kochen und er benutzt Kondome, weil wir erst nach seinem Examen heiraten und Kinder haben wollen – wir tun alles, damit ihr nicht wegen einer vorzeitigen Schwangerschaft eurer Tochter in den Schlagzeilen der bunten Blätter auftaucht und euer tadelloser Ruf einen Knacks bekommt – zufrieden?‘ Natürlich habe ich nie so reagiert, wohlerzogen und artig wie ich im Grunde bin, aber dass Michael mein Blut nicht zum Kochen bringt, dass ich mich nicht nach ihm ‚verzehre‘, das stimmt leider.“
„Oh, mein Schätzchen, mein Herzenskind.“ Agnes Dahlmann wiegt ihre „Laudi“ in den Armen wie in längst verflossenen Kindertagen.
„Aber wenn wir schon beim Thema sind, dann verrate ich dir noch etwas: Seit vorgestern weiß ich, wie es sein kann, wenn ein Mann nicht wie Michael pflichtgemäß, aber unbeholfen ‚den Druck aus dem Kessel lässt‘, sondern wenn jemand es schafft, echte Leidenschaft in einem zu wecken. Welches Gefühl dich überkommt, dass du nahe daran bist, den Verstand zu verlieren. Wenn du nicht nur Schmetterlinge im Bauch hast, sondern … ach, ich will dir nicht verspätet den Mund wässerig machen, arme Dahma, die du so etwas nie erlebt hast. Ich habe es erlebt – ob es aber ein Glück oder ein Segen ist, wird sich zeigen. Nur – wer der ‚Bösewicht‘ war, der mir den Pulsschlag lustvoll erhöht und die Blutzufuhr zum Herzen so beschleunigt hat, dass ich befürchtete, ohnmächtig zu werden – das werde ich niemandem erzählen, nicht meinen besten Schulfreundinnen und auch nicht meiner lieben treuen Dahma.“
Die Haushälterin schweigt zunächst, fast peinlich berührt und zögert, ehe sie ihre Scheu überwindet und eine Frage stellte, die ihr auf der Zunge brennt:
„War der ‚Bösewicht‘ wenigstens standesgemäß?“
Claudia lächelt. „Keine Auskunft!“
„Aber – wirst du Michael zu Lauenstein trotzdem heiraten?“
„Ja, ich bin eine brave, folgsame Tochter, eine von Wallburg, die ihr einmal gegebenes Versprechen halten wird, aber vorher will ich noch ein wenig von der Welt sehen, auch wenn …“
Die rufende Stimme der Fürstin unterbricht das Gespräch der beiden.
„Dahlmann, könntest du bitte kommen?. Ich muss Dr. Mittmann anrufen und möchte nicht, dass mein Mann in der Zwischenzeit alleine ist.“
Dahlmann windet sich aus Claudias Armen.
„Ich komme, Fürstin, bin sofort bei Ihnen.“
„Mutter, ich könnte auch …“
Die Fürstin reagiert abweisend.
„Meine liebe Claudia, deine Gesellschaft ist Vater in seiner momentanen gesundheitlichen Verfassung nicht anzuraten, wie du dir unschwer denken kannst, besonders nicht nach der Standpauke, die du uns eben überflüssigerweise gehalten hast. Nein, nein, Dahlmanns Obhut ist ihm auf jeden Fall zuträglicher.“
Claudia liegt eine bissige Antwort auf der Zunge, aber Dahlmann bedeutet ihr zu schweigen.
„Lass es gut sein, Laudi,“ murmelt sie halblaut. „Und was unser voriges Gespräch betrifft …“ Sie legt den rechten Zeigefinger auf ihre geschlossenen Lippen und flüstert im Vorbeihuschen: „Ich werde schweigen wie ein Grab.“
„Ich weiß es zu schätzen, liebe, liebe Dahma.“
Unwillig wendet Claudia sich an ihre Mutter.
„Wenn ich hier also unerwünscht und überflüssig bin, dann gehe ich in den Stall zu Avra und ihrem Fohlen. Die Pferde freuen sich über meine Anwesenheit und sind dankbar für ein paar Streicheleinheiten – im Gegensatz zu manchen Menschen.“
Die Miene der Fürstin verfinstert sich.
„Du kannst dir deinen schnippischen Unterton sparen. Im Übrigen würde auch Vater sich über ein paar Streicheleinheiten seiner einzigen Tochter freuen, aber diese …“ Sie vollendet den Satz nicht, sondern bedeutet Dahlmann, ihr ins Schlafzimmer des Fürsten zu folgen.
Claudia beherrscht sich nur mühsam. Sie schließt die Augen für einen kurzen Moment und atmet tief durch.
„Dann muss ich mir wohl schon wieder reumütig an die Brust schlagen: Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa …“, murmelt sie halblaut, schluckt aber eine bissige Antwort herunter, um weiteren Unfrieden zu vermeiden. Dann geht sie entschlossenen Schrittes durch den Garten zu den Hofgebäuden, in denen auch der Reitstall untergebracht ist. Ihr Pferd Avra begrüßt seine Herrin schon von Weitem mit einem sanften, aber hörbaren Schnobern.