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„Schwesterherz, das Leben geht weiter – du musst tapfer sein, schon deiner Tochter zuliebe. Sie war ein wundervoller Mensch und so stolz auf ihre Mutter. Sie würde es nicht gewollt haben, dass du dich der Welt bis ans Ende deiner Tage in Trauer und Teilnahmslosigkeit verschließt.“

Prinz Edwin von Ehrenfels tätschelt seiner Schwester Henriette aufmunternd den Arm. Sie schiebt seine Hand unwillig zur Seite.

„Bis ans Ende meiner Tage? Ich trauere um meine einzige Tochter, meinen Schwiegersohn und meine Enkelin, deren Tod erst sechs Wochen her ist.“

Seit der Beerdigung verlebt Fürstin Henriette die Tage und Wochen wie in Trance. Starke Beruhigungsmittel, von Doktor Mittmann zusätzlich zu den gewohnten Antidepressiva verabreicht, reduzieren ihr Wahrnehmungsvermögen.

Während der Beerdigung waren ihr die Anwesenheit der zahlreichen Trauergäste, die endlosen Beileidsbekundungen sowie die liturgischen Worte des Priesters kaum bewusst geworden. Charlotte zu Lauenstein, Michaels Mutter, und sie hatten sich gegenseitig gestützt, als die drei Särge in die Gruft der Lauensteins getragen wurden. Mit keinem Wort waren die letzten Augenblicke an Claudias Sterbebett erwähnt worden.

Wie versteinert und mit den eckigen Bewegungen einer Marionette bewegt sie sich seither im Haus, reagiert auf Fragen oder behutsame Ansprache wie abwesend und verwirrt.

Dahlmann, rührend um sie besorgt, ermuntert ihre Herrin von Zeit zu Zeit zur Kontaktaufnahme mit Charlotte zu Lauenstein, um ihr bewusst zu machen, dass diese unter dem Verlust von Sohn, Schwiegertochter und einziger Enkelin ebenfalls betroffen ist und leidet. Aber die Fürstin verschließt sich diesem Mitgefühl in ihrer eigenen Trauer völlig.

Die Haushälterin ist zutiefst bekümmert über die offensichtliche Teilnahmslosigkeit der Fürstin an den Geschehnissen des Alltags.

Einzig auf die wochenlange Anwesenheit ihres Bruders Edwin, der sich unsensibel und nahezu aufdringlich bemüht, auf Schloss Wallburg so etwas wie Normalität wiederherzustellen, reagiert die Fürstin zeitweilig aggressiv.

Seine unentwegt gute Laune und demonstrative Unbekümmertheit ist ihr auch jetzt zuwider, als er sie zu einem Rundgang durch den Park überreden will.

„Komm, lass uns schauen, was die Pferde machen, man muss sich um sie kümmern. Wer kümmert sich übrigens um den Park und die Gewächshäuser? Etwa immer noch dieser uralte Mann, der kaum noch den Rücken hochkriegt? Henriette, du solltest ihn endlich entlassen, ich werde dir einen jungen, modernen Gärtner besorgen, der dieses ganze Anwesen endlich mal ein bisschen zeitgemäßer anlegt. Auch was Gärten und Parks in alten Schlossanlagen betrifft, muss man sich um neue Erkenntnisse bemühen. Zum Beispiel die Taxushecken – es wird Zeit, die mal wieder gründlich zu kappen, notfalls stellenweise zu roden, man sieht ja nur noch Taxus und sonst nichts.“

Fürstin Henriette, ganz in schwarz gekleidet, schüttelt den Kopf. Sie weist den ihr dargebotenen Arm des Bruders zurück.

„Es gibt keine Pferde mehr, um die man sich kümmern muss. Ich habe nach Claudias und Esthers Tod veranlasst, dass mein Verwalter sie verkauft. Es tut Pferden nicht gut, wenn sie zu lange unberitten im Stall stehen. Es ist mir nicht leichtgefallen, aber …“

Prinz Edwin gibt sich entsetzt.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Henriette, du hast Claudias Pferd verkauft? Eine so wertvolle Stute, mit der du noch lange hättest züchten und viel Geld verdienen können? Was hat dein Herr Verwalter denn dafür erlöst? Egal, welche Summe du jetzt nennst – er hat bestimmt darauf geachtet, bei dem Handel selber nicht zu kurz zu kommen – ich hätte jedenfalls mehr herausgeholt. Dieser einfältige Bauer hat doch nie und nimmer die Kontakte, mit denen ich hätte dienen können. Also wie viel?“

Der Fürstin ist diese Unterhaltung sichtlich unangenehm.

„Da müsste ich erst in die Bücher schauen – ich habe es vergessen. Aber ich konnte mich bislang immer auf Kurt Bovermann verlassen. Er ist keineswegs ein ‚einfältiger Bauer‘, sondern im Gegenteil ein umsichtiger, zuverlässiger Mitarbeiter, der mein vollstes Vertrauen genießt. Er würde mich nie und nimmer betrügen oder seinen eigenen Profit im Auge haben.“

Agnes Dahlmann kommt mit einem Tablett und zwei Teegedecken in den Raum und will eben den kleinen Teetisch decken, als Prinz Edwin sie anherrscht.

„Frau Dahlmann, meine Schwester und ich sind eben in einer wichtigen Besprechung, die keinen Aufschub duldet. Ich rufe Sie, wenn uns der Sinn nach Tee steht, also bitte …“ Er zeigt mit bestimmender Geste auf die Küchentür.

Ruckartig erhebt sich die Fürstin aus ihrem Sessel und stellt sich kerzengerade vor ihren Bruder.

„Was fällt dir ein, so mit meiner Haushälterin zu reden? Du bist Gast in diesem Hause und genießt keinesfalls die Rechte eines Hausherrn. Mir missfällt auch, wie du vom alten Wegener und von meinem Verwalter sprichst. Außerdem hatte ich dich als einziges noch lebendes Mitglied meiner Familie zwar zur Beerdigung eingeladen, dich aber nie aufgefordert, mehrere Wochen hier zu verbringen. Du hast mir deine Hilfe in Erbschaftsangelegenheiten angeboten und wenn ich deren je bedarf, werde ich mich an dich wenden, aber nun denke ich, dass es Zeit ist, dass du dich wieder deinen persönlichen geschäftlichen Dingen zuwendest, die mit meinen wenig gemein haben. Und mein von Herrn Wegener gepflegter Park gefällt mir so wie er ist, ich verspüre keinerlei Wunsch nach Modernisierung.“

Prinz Edwin legt beschwichtigend seine Arme auf die Schultern der Schwester und versucht sie auf die Wange zu küssen.

„Schwesterherz, jetzt hast du etwas in den falschen Hals bekommen.“

Er senkt seine Stimme und gibt ihr einen beruhigenden Ton.

„Ich will dich doch nur vor unüberlegten Schritten und Entscheidungen beschützen, das ist doch meine Pflicht als dein einziger Bruder. Und wenn ich dir rate, dich vom alten Wegener zu trennen, der bei jedem noch so kurzen Treffen das Gespräch unnötigerweise auf seinen vielversprechenden Sohn Harald als einen begnadeten Anwalt bringt, um von seinen gärtnerischen Unterlassungssünden abzulenken – Henriette, das kann doch nur in deinem Sinne sein. Aber bitte, wenn du meinst, auf meine guten Ratschläge verzichten zu können … ich reise morgen früh ab.“

Er wendet sich zum Gehen, dreht sich aber gleich wieder um. „Allerdings nur, wenn ich mir deinen Wagen ausleihen darf, weil mein Auto immer noch in der Reparatur ist … dem Halunken in der Werkstatt muss ich auch mal die Leviten lesen, was der sich einbildet …“

Fürstin Henriette unterbricht den Redeschwall des Bruders.

„Du kannst den Wagen nehmen und ihn behalten, ich wollte mir ohnehin einen etwas kleineren kaufen. Und betrachte deinen „Hinauswurf“ nicht als Unhöflichkeit meinerseits – ich bin es nur nicht gewohnt, immer einen Gast im Hause zu haben, auch wenn der mein einziger Bruder ist. Dahlmann, ich würde jetzt gern meinen Tee trinken, Prinz Edwin wird packen wollen, er verlässt uns morgen.“

Dahlmann erscheint neuerlich mit dem Tablett und der Teekanne, während Prinz Edwin noch zögert, den Raum zu verlassen. Nur widerwillig geht er durch die Halle, nachdem seine Schwester ihm mit entsprechenden Handzeichen bedeutet hat, dass er entlassen sei.

„Schwesterherz, wenn ich tatsächlich deinen Wagen haben kann, dann fahre ich lieber noch heute – mein Schreibtisch biegt sich vermutlich unter der eingegangenen Post – in einer halben Stunde bin ich weg.“

Er nimmt zwei Treppenstufen auf einmal und verschwindet in einem der oberen Räume.

Dahlmann beginnt den Teetisch zu decken, wobei sie das zweite Gedeck auf dem Tablett belässt.

„Oder wird Prinz Edwin noch mit Ihnen Tee trinken?“

„Nein, er hat es jetzt eilig, aber stell die zweite Tasse für dich auf den Tisch und leiste mir Gesellschaft. Warten wir eben noch ab, bis er weg ist – ich kann es kaum erwarten, ihn los zu sein.“

Sie senkt die Stimme.

„Er ist mein Bruder, aber ich konnte ihn schon als Kind nicht leiden. Er war der Liebling unserer Mutter. Sie hat ihn nach Strich und Faden verwöhnt und ich war eifersüchtig und bestimmt nicht die liebe große Schwester, die er eigentlich gebraucht hätte. Aber heute ist meine Abneigung gegen ihn noch größer. Er ist arrogant und hinterhältig und manövriert sich von einem finanziellen Desaster ins nächste. Auf diese Weise hat er sein gesamtes Erbe durchgebracht – und wir haben beide gleichviel von unseren Eltern erhalten. Ich fürchte, mit seiner angeblichen Hilfsbereitschaft, was meine nun anstehenden Geldsachen betrifft, versucht er nur, sich bei mir einzuschmeicheln, und hofft in irgendeiner Form auf eine Erbschaft, nun, da Claudia ebenso wie Esther …“

Sie vollendet den Satz nicht, greift gedankenverloren nach der Zuckerdose und löffelt etwas braunen Kandis in ihrer Teetasse.

Prinz Edwin kommt, mit einigen Gepäckstücken beladen, geräuschvoll die Treppe hinunter.

„Gibst du mir den Autoschlüssel und die Papiere, Schwesterherz? Und darf ich ein paar Erinnerungen an Claudia mitnehmen? Zum Beispiel das silberne Besteck, in das ich damals zu ihrer Taufe extra ihre Initialen habe eingravieren lassen?“

„Du meinst das Besteck, das eigentlich unseren Eltern gehörte? Du warst damals schon ständig in finanziellen Schwierigkeiten und konntest dir als Taufgeschenk nur die Gravur leisten, und sogar die hat Mutter später bezahlt, nachdem der Goldschmied die Rechnung und im Anschluss daran noch zwei Mahnungen schicken musste.“

„Das hat Mutter dir erzählt? Eine Frechheit! Aber wahrscheinlich war sie da schon ziemlich gaga – ich meine … durcheinander – da hat sie ja allerlei dummes Zeug gefaselt – wie alte Leute eben sind, schwatzhaft und geizig und paranoid. Henriette, pass auf, dass du nicht auch so wirst, das entsprechende Alter hast du ja fast …“

„Auf Wiedersehen, Edwin, du darfst gehen, das Besteck jedoch bleibt hier. Und was mein Auto betrifft: Ich werde dir den Fahrzeugbrief per Post zukommen lassen, fahr als vorsichtig, dass du nicht schon in einen Unfall verwickelt wirst, ehe der Wagen dir wirklich gehört. Ich wünsche dir allzeit ‚Gute Fahrt‘, aber betrachte mein Heim auch in Zukunft nicht als das deine. Dahlmann, du darfst jetzt für dich und mich den Tee einschenken.“

Mit gespielter Gelassenheit, aber innerlich zitternd, setzt sie sich in ihren gewohnten Sessel und dreht dem Bruder, der seinerseits die in ihm kochende Wut zu verbergen sucht, den Rücken zu. Die Haustür fällt mit schwerem, dumpfem Schlag ins Schloss.

Dahlmann nimmt zögernd in dem zweiten Sessel Platz. Die beiden Frauen sehen sich wortlos an, gespannt nach draußen horchend, bis der aufheulende Motor des abfahrenden Wagens nicht mehr zu hören ist.

„Kotzbrocken!“, entfährt es der Fürstin. Dahlmann versucht ein Lächeln zu verbergen.

„Wir könnten uns zur Feier des Tages einen Schluck Rum zum Tee gönnen, was meinst du, Dahlmann?“

„Ja, den haben Sie sich auf jeden Fall mehr als verdient, Fürstin, und ich trinke zur Gesellschaft gern einen mit. Und, wenn Sie erlauben: Das mit dem Kotzbrocken ist durchaus zutreffend, den Begriff habe ich für Prinz Edwin schon seit Jahren.“

Nahezu gleichzeitig brechen beide in ein erleichtertes, unbändiges Lachen aus. Die Fürstin sucht in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch, um sich die Lachtränen zu trocknen, Dahlmann greift nach einer Papierserviette.

„Wir haben lange nicht gelacht, Dahlmann. Aber mein Bruder und alle die anderen Leute haben recht, wenn sie einen mit dem überstrapazierten Spruch, ‚Das Leben geht weiter‘, zu trösten versuchen. Wir müssen mit der schrecklichen, brutal veränderten Situation fertig werden. Dazu gehört dann und wann ein befreiendes Lachen.“

Dahlmann nickt und wischt sich verschämt ihre eigenen Lachtränen ab.

Es ist ein regnerischer, kühler Frühsommertag. Die beiden Frauen, am Teetisch sitzend, schauen eine Weile schweigend in den Park, wo eben der alte Wegener mit einem Eimer in der Hand an den Rhododendronbüschen vorbeischlurft.

„Der hat bei der Beerdigung furchtbar geweint, hast du das gesehen, Dahlmann? Er hat Claudia so geliebt, und für Esther war er fast wie ein Großvater … und sein Sohn war auch unter den Trauergästen. Wie heißt er noch? Helmut? Hartmut? Harald? Ja, ich glaube so heißt er, Harald.“

Dahlmann überlegt.

„Ja, ich meine auch, dass Harald der richtige Name ist. Jedenfalls war er bei der Beerdigung. Claudia und er haben schon als Kinder oft zusammen gespielt und sich auch später gut verstanden, fast wie Geschwister. Ja, er war da, und Baron von Gliesen ebenfalls, erinnern Sie sich an ihn? Fürst Raimund hatte ihn als jungen Veterinär eingestellt, er soll später mit Frau und Tochter nach Australien gegangen sein. Nach der Trauerfeier hat er mich in ein langes Gespräch verwickelt und ganz seltsame Fragen gestellt. Ich sei doch bei Claudias Tod … also, ich sei mit Ihnen doch bis zum Schluss bei Claudia gewesen. Ob sie noch habe sprechen können und ob man sie hätte verstehen können und es täte ihm alles so leid. Er klang ziemlich gestresst und ich wurde aus seinen Worten irgendwie nicht klug, aber jetzt fällt es mir ein – er hat vom Sohn des alten Wegener gesprochen, von Harald, dem Rechtsanwalt, auf den Weggi so stolz sei. Aber auf was er mit seinen wirren Fragen eigentlich hinauswollte, das wurde mir nicht klar. Es kamen dann ja auch andere Leute dazwischen …“

Fürstin Henriette setzte sich mit einem plötzlichen Ruck wie elektrisiert auf. „Dahlmann, hat Claudia nicht etwas von einem Harald und einem Brief gesprochen? Und von Söhnen? Und hat sie nicht sogar Namen genannt? Mein armes Kind … sie war ja kaum zu verstehen und ich dachte sowieso, sie spräche in einer Art Wahn, aber jetzt fällt mir urplötzlich alles wieder ein.“

Erregt steht sie auf und beginnt nervös hin und her zu laufen.

„Doch, sie hat von einem Brief gesprochen und von einem Harald, den ich fragen soll. Dahlmann, hilf mir denken, du musst das doch alles auch gehört haben … sie wollte uns noch etwas Wichtiges sagen, das hat auch der Arzt angedeutet … Sie hat von Söhnen gesprochen und Namen genannt … Dahlmann, wir müssen aufwachen. Wir müssen versuchen … Dahlmann – Claudia hat uns etwas mitteilen wollen.“

Sie geht zur Terrassentür, öffnet die Verriegelung und ruft den Namen des alten Gärtners: „Herr Wegener, Herr Wegener …“

Es klingt wie ein Hilferuf.

Der Gärtner bleibt erschrocken stehen und dreht sich um. Die Fürstin bedeutet ihm mit winkenden Armen, zu ihr zu kommen. Sie läuft ihm entgegen.

„Herr Wegener, ich muss Sie sprechen. Ihr Sohn ist doch Anwalt geworden, vielleicht brauche ich seine Hilfe. Und er heißt Harald, nicht wahr? Er war mit Claudia lange Jahre befreundet, Claudia hat seinen Namen genannt, kurz bevor …“ Sie presst die Lippen schmerzlich zusammen und hält die geballten Fäuste vor den Mund.

„Ich muss Ihren Sohn in einer dringenden Angelegenheit so bald wie möglich sprechen, wo wohnt er? Kann ich ihn telefonisch erreichen?“

Der alte Mann nickt eifrig, wischt die erdigen Hände an der Hose ab, kramt in der Brusttasche seines Arbeitskittels und zieht eine Visitenkarte hervor. „Ich habe seine Karte immer bei mir …“

Er reicht sie der Fürstin. Sie liest:

Harald Wegener, Rechtsanwalt für Zivilrecht, Münster … Rennweg … Telefon/fax …“

Die Fürstin sucht mit fahrigen Händen die Hände des überraschten Gärtners zu fassen, umarmt ihn jedoch plötzlich, wobei seine Mütze verrutscht und zu Boden fällt, dreht sich um und eilt über die Terrasse zurück ins Haus. „Ich rufe Ihren Sohn auf der Stelle an. Danke, danke … Weggi.“

Der alte Mann streicht nachdenklich seine grauen Haare zurück, ehe er die Mütze wieder zurechtrückt. Kopfschüttelnd, aber lächelnd geht er zurück zu seinen Rhododendren.

Wasserschloss zu vererben

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