Читать книгу Wasserschloss zu vererben - Usch Hollmann - Страница 13
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ОглавлениеWieder und wieder liest die Fürstin den Brief ihrer Tochter. Zu Claudias Tränenspuren kommen die der Mutter hinzu. Harald Wegener hat sich mit dem Versprechen, über die veränderte Situation absolutes Stillschweigen zu bewahren, verabschiedet. Auffallend nachdenklich und persönlich berührt hatte er sich zunächst einmal eine Zeit des Überlegens erbeten, um sich der Angelegenheit mit kühlerem Kopf widmen zu können.
Agnes Dahlmann, wenn auch zutiefst erschüttert, findet eher in die Realität zurück und erkennt, was zu tun ist. Ehe weitere Tränenspuren Claudias Brief unleserlich machen, nimmt sie der Fürstin das Papier behutsam aus der Hand, legt es unter den alten Kopierer im Arbeitszimmer des Fürsten und lässt den Apparat drei Kopien anfertigen.
„Fürstin, wir werden dieses Dokument dann und wann noch brauchen, deshalb muss es leserlich bleiben. Legen wir das Original lieber zur Seite und vertiefen wir uns in die Abschriften; auch Harald Wegener sollten wir eine Kopie zukommen lassen.“
Die Fürstin lächelt. „Meine immer praktische Dahlmann.“
Doch dann sitzen die beiden Frauen wieder traurig und schweigend nebeneinander und können den Blick nicht von den Zeilen wenden.
„Durch welche Hölle ist mein armes Kind gegangen! Was muss sie für Qualen ausgestanden haben. Und sie hat mit niemandem darüber sprechen können – oder hat sie sich dir anvertraut, Dahlmann?“
„Nein, Fürstin, auch ich bin völlig ahnungslos. Sie muss wirklich große Angst und tiefe Verunsicherung empfunden haben, sonst hätte sie sich doch Ihnen als Mutter anvertraut – eher jedenfalls als mir, obwohl sie zu ihrer ‚Dahma‘ in der Tat eine sehr innige Beziehung hatte.“
Die Fürstin schüttelt den Kopf.
„Dahlmann, du versuchst mich zu trösten, aber machen wir uns nichts vor: Mein Mann und – leider! – auch ich waren wohl wirklich etwas zu sehr im Gestern verhaftet, wir hatten für Claudias liberalere Ansichten oft kein Verständnis. Du hattest mehr Zugang zu ihr. Unsere Tochter hat uns nicht nur einmal unseren ihrer Meinung nach altmodischen Standesdünkel vorgeworfen. Und mein Mann hat seine überholten Ansichten – ja, es sind überholte Ansichten – bis zu seinem Tode beibehalten, aber ich für meinen Teil hoffe doch, mich weiterentwickelt zu haben. Natürlich hat auch Esther mit ihrer jugendlichen Unbekümmertheit dazu beigetragen – ach, ich vermisse dieses Kind so sehr, ich … und ich beneide die heutige Jugend, die sich von unserem überholten, unzeitgemäßen Ehrenkodex freimachen konnte.“
Dahlmann hört geduldig zu, unterbricht die Selbstanklagen der Fürstin nur ab und an mit beschwichtigenden Worten und versucht sie zu trösten. Aber im tiefsten Inneren stimmt sie zu: Das Fürstenpaar auf Schloss Wallburg hatte die Veränderungen der Zeit nicht wirklich wahrgenommen. Sie waren auf eine zwar liebenswürdige, aber eben doch altmodische Art sogar ein bisschen schrullig geworden – der Fürst, wesentlich älter, mehr noch als seine Frau. Sie pflegten wenig gesellschaftlichen Umgang, nahmen Einladungen nur selten und widerwillig an, verschlossen sich völlig den modernen Medien, hatten – wann immer möglich – Schulveranstaltungen aller Art gemieden und Claudia lieber eine großzügige Spende für irgendwelche angeblich notwendigen An- oder Umbauten innerhalb der Schule gegeben, um selber zurückgezogen in der Abgeschiedenheit ihres vertrauten kleinen Kosmos bleiben zu können.
Claudia hatte sich deswegen öfter bei Agnes Dahlmann beklagt. Ob sie, Dahlmann, nicht einmal mitkommen wolle zu einem Schulfest. „Du könntest eines von Mamas Kleidern und ihr Pelzcape anziehen und als meine Mutter auftreten, das würde kein Mensch merken, denn es kennt sie ja niemand. Aber ich könnte dann endlich auch einmal mit einem Familienmitglied glänzen.“ Natürlich hatte Dahlmann abgewinkt, aber sie hatten sich kichernd ausgemalt, welche Frisur und welcher Schmuck für so einen Auftritt infrage gekommen wäre und ob der Direktor sie ehrfürchtig mit Handkuss oder mit Hofknicks und „Durchlaucht“ begrüßt hätte.
„Ach, Dahma, so krank und alt sind meine Eltern doch nicht, dass sie meinen, sich schon zu Lebzeiten aus der Welt verabschieden zu dürfen.“
Ja, sie, Agnes Dahlmann, war tatsächlich diejenige gewesen, der Claudia sich anvertraut hatte. Sie erinnerte sich zum Beispiel an das Gespräch einige Wochen vor Claudias Abreise nach Amerika. Als sie von ihrem „Seitensprung“ erzählt hatte und von der Tatsache, dass sie erstmalig „Schmetterlinge im Bauch“ gefühlt hätte.
„Wer mag das wohl gewesen sein?“
Als hätte die Fürstin ihre Gedanken erraten, richtete sie plötzlich eine Frage an ihre Haushälterin.
„Dahlmann, hast du eine Ahnung, wer der Vater dieser Kinder sein könnte? Was muss das für ein Mensch sein, der es zulässt, eine junge Frau in solche Seelenqualen zu stürzen, dass sie ihre Kinder zur Adoption freigibt? ‚Um sein eigene Familie zu schonen‘, steht in Claudias Brief. Ob der womöglich seiner Frau nicht beichten mochte, dass er ihr untreu gewesen war? Und zwar mit Folgen? Fällt dir jemand ein, der vielleicht sogar hier, in Claudias Umfeld, verheiratet war und mein Kind verführt haben könnte?“
Kopfschüttelnd verneint Dahlmann die Frage, obwohl der Gedanke sie ebenfalls beschäftigt. Von wem hätte sich die selbstbewusste Claudia überhaupt ‚verführen‘ lassen? Von einem Klassenkameraden? Von einem Burschen aus dem Dorf? Wer hatte damals auf Schloss Wallburg gearbeitet? Sollte etwa Kurt Bovermann, der Verwalter …?
Dahlmann kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nein, Bovermann, heute fast sechzig Jahre alt, war auch in seiner Jugend kein Verführertyp. Fleißig und rechtschaffen und grundehrlich, wie er war, hatte der Fürst ihn eingestellt, und noch heute gilt er als eher wortkarg, schüchtern und nahezu menschenscheu.
Und Wegener, der Gärtner? Den sie Onkel Weggi nannte? Unsinn – der gab sich Claudia gegenüber eher väterlich, fürsorglich. Aber sein Sohn, Harald? Der fast gleichaltrige Spielkamerad aus Kindertagen, der sich damals schon zu einem gut aussehenden, attraktiven Jurastudenten entwickelt hatte? Der heute, als Anwalt, zum ersten Mal den privaten Bereich auf Schloss Wallburg betreten und dem Claudia sich erst vor ein paar Monaten anvertraut hatte?
Nein! Ausgeschlossen! Der war damals noch nicht verheiratet und hätte es außerdem nie zugelassen, seine und Claudias Kinder per Adoption in die Hände fremder Menschen abzugeben, nur um die Gesundheit des Fürstenpaares zu schonen und einen gesellschaftlichen Skandal zu vermeiden.
Oder gab es einen Stallburschen, der tollkühn genug gewesen wäre, sich Prinzessin Claudia zu nähern? Der ihr ein Gefühl wie „Schmetterlinge im Bauch“ vermittelt hätte?
Plötzlich und unvermittelt geht ihr ein Name durch den Kopf: Baron von Gliesen. Hatte der nicht damals auf Wallburg seine erste Stelle als Veterinär angetreten? Seine Frau kam ihn abends manchmal abholen, oft aber blieb er die halbe Nacht in den Stallungen, besonders, wenn es galt, eine tragende Stute zu beobachten. Und hatte nicht Claudias Pferd Avra damals ihr erstes Fohlen bekommen und Claudia verbrachte Stunden bei den Tieren?
Dahlmann schließt die Augen.
„Lieber Gott, lass nicht Baron von Gliesen der Vater der beiden Kinder sein. Er hat Wallburg damals ein paar Wochen nach Claudias Abreise verlassen und soll irgendwo in Australien in einem tiermedizinischen Institut eine gute Stelle bekommen haben. Ob der …?“
Die Stimme der Fürstin, obwohl ganz nahe, dringt plötzlich zu ihr wie durch einen dicken Nebel.
„Dahlmann, ist dir nicht gut? Du bist ganz blass geworden.“
Sie antwortet nicht. Versucht stattdessen verzweifelt, den Gedanken, der sich ihres Gehirns bemächtigt hat, zu ignorieren – vergeblich.
Baron von Gliesen. Wenn nun er derjenige ist, dem Claudia an jenem Tag begegnet war?
Sie erinnert sich dieses sehr persönlichen und privaten Gespräches, in dem Claudia freimütig gestanden hatte, dass sie und Michael zu Lauenstein – nun ja, sie waren ja immerhin miteinander verlobt und hatten durchaus schon – aber er habe sich ja immer ‚geschützt‘ und leider hätte sie bei ihm nie das Gefühl von ‚Schmetterlingen im Bauch‘ gespürt. Ja, sie erinnerte sich besonders an diesen für sie, Dahlmann, neuen Ausdruck. Aber Claudia habe ohne ihn erst kürzlich eine neue Erfahrung gemacht und wisse nun, wie es ist, wenn man nahe daran sei, den Verstand zu verlieren. Immerhin sei sie eine der letzten Jungfrauen in ihrer Klasse gewesen und …
Dahlmann gerät in einen Gewissenskonflikt. Darf sie jetzt, nach so vielen Jahren und in der unerwartet veränderten Situation, ihr Versprechen brechen? Käme das nicht einem Verrat gleich?
Die Fürstin ist aufgestanden und beugt sich voller Besorgnis über ihre Haushälterin.
„Dahlmann, was ist mit dir?“
Und eindringlich wiederholt sie ihre Frage. „Hast du eine Vermutung? Warum sagst du nichts? Willst du jemand schützen? Vergiss nicht, dass es zwei Kinder gibt, die Claudia mir schriftlich anvertraut hat. Ich sehe es dir an, dass du jemand im Verdacht hast.“
Dahlmann hebt hilflos die Schultern und sieht die Fürstin unsicher an.
„Mir fällt nur Baron von Gliesen ein, aber …“
Die Fürstin ist verblüfft. Baron von Gliesen, der junge Veterinär, den Fürst Raimund eingestellt hatte, damit sich jemand um die Pferde kümmerte.
„Dahlmann, du könntest recht haben. Avra war damals trächtig … sollten Claudia und er …? Aber sie war doch mit Michael zu Lauenstein verlobt, und sie hat ihn geliebt … Nein, Dahlmann, denk weiter nach, such weitere Spuren.“
„Ich fürchte, dass er der Einzige ist, der infrage kommt.“
Die Fürstin, sichtlich beunruhigt, geht im Raum auf und ab, bleibt jedoch plötzlich vor dem Arbeitstisch ihres Mannes stehen. Hat nicht Raimund in einer der Schubladen seine Adressbücher und ähnliche Unterlagen aufbewahrt? Sie hatte sich bislang nicht dazu entschließen können, die Papiere zu sichten und eventuell zu entsorgen. Vielleicht …
„Dahlmann, wir müssen versuchen, den Aufenthalt und die Adresse dieses Mannes herauszufinden. Lass uns über eine Strategie nachdenken, unter welchem Vorwand wir Kontakt mit ihm aufnehmen könnten. Wenn wir keine Telefonnummer finden, sollten wir Harald bitten, ihn zu suchen. Es muss doch mit Hilfe irgendwelcher moderner Medien möglich sein, ihn ausfindig zu machen. Vielleicht lebt er ja gar nicht mehr, obwohl – wie alt mag er heute sein? Dahlmann, ich fühle mich wie elektrisiert, hören wir auf zu weinen, mit unseren Tränen machen wir diese Tragödie nur noch schlimmer. Agnes, komm, hilf mir. Wir müssen endlich tätig werden.“
Mit einem Ruck öffnet sie die oberste Schublade, findet das gesuchte Adressbuch und beginnt mit hastigen Fingern zu blättern.
Die Haushälterin wagt einen Einwand.
„Aber sollten Sie nicht als erstes Michaels Mutter von diesem Brief in Kenntnis setzen? Denn wenn wir diese Kinder finden … die ja wohl keine Kinder mehr sind … Fürstin, dann hätten Sie plötzlich zwei Enkel, die das Blut derer von Wallburg in sich tragen, denen Sie möglicherweise eines fernen Tages Ihren Besitz vererben könnten. Ihr Bruder Edwin allerdings …“ Sie hebt fragend die Schultern.
Die Fürstin lacht spöttisch. „Edwin würde diese Kunde allerdings wohl weniger begeistert zur Kenntnis nehmen. Aber das kümmert mich im Moment nicht einmal ansatzweise!“