Читать книгу Wasserschloss zu vererben - Usch Hollmann - Страница 12

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„Dr. Wegener – oder darf ich Sie Harald nennen? Ich kenne Sie schon, seit Sie mit meiner Tochter durch den Garten getobt sind … danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich bin sehr besorgt.“

Mit diesen Worten begrüßt Fürstin Henriette ihren Gast und bittet ihn einzutreten.

„Ich warte seit Claudias Tod auf Ihren Anruf“, entgegnet Harald Wegener und folgt der Fürstin in die Eingangshalle des Hauses, wo Agnes Dahlmann dem Besucher mit einem Lächeln des Wiedererkennens den leichten Sommermantel abnimmt.

„Gehen wir ins Arbeitszimmer meines Mannes, dort sind wir ungestört. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Aber dann lassen sie uns schnell zur Sache kommen. Ich bin in Hochspannung, seit mir nach wochenlangem Dämmerzustand unter einer Wolke von Trauer, Angst und Ausweglosigkeit gestern im Gespräch mit Frau Dahlmann – Sie kennen sich ja noch von früher – plötzlich Ihr Name einfiel, weil meine Tochter ihn kurz vor ihrem Tod erwähnt hatte. Sie hat von einem Brief gesprochen … und von angeblichen Söhnen und sogar Namen genannt, die allerdings kaum zu verstehen waren. Sie war ja schon fast bewusstlos und ihrer Sinne vermutlich nicht mehr mächtig. Nun sind Sie meine ganze Hoffnung, dass mit Ihrer Hilfe vielleicht so etwas wie ein Geheimnis gelüftet werden wird.“

Dem Gast ist eine gewisse Scheu anzumerken. Als Kind war Harald Wegener selten bis ins Innere des Schlosses vorgedrungen. Er hatte dann und wann seinem Vater bei dessen Arbeit im Garten geholfen, manchmal einen Korb mit frischem Gemüse oder Obst oder einen Blumenstrauß an der Küchentür abgeliefert, für die er von Agnes Dahlmann manchmal mit einem Bonbon oder einem kleinen Geldstück belohnt worden war. Aber meistens hatte Claudia ihn mit Beschlag belegt. Als Einzelkind freute sie sich immer, wenn Spielgefährten aus dem Dorf oder aus der Schule nach Wallburg kamen. Sie rannten zusammen durch den Park, spielten Verstecken oder Fangen, durften manchmal mithelfen, die Pferde zu versorgen oder im Hühnerstall die noch legewarmen Eier einzusammeln. Gemeinsam hatten sie den Pfau bewundert und gekichert, wenn dieser im Frühsommer mit eindrucksvoll gespreiztem Rad vor einer der unscheinbaren braunen Pfauenhennen einherstolzierte und diese ihm keinerlei Beachtung schenkte.

Erinnerungen steigen in ihm auf – seine stille Freude, wenn Claudia ihm eine der langen Schwanzfedern des Pfaus mit dem blauglänzenden, goldumrandeten Pfauenauge schenkte, die sie auf einem der kiesbestreuten Wege gefunden haben mochte und die er bei sich zu Hause in seinem Zimmer an die Tapete heftete. Harald, selbst ein Einzelkind, war im Laufe der Jahre fast so etwas wie ein großer Bruder für Claudia geworden, zumindest aber ein guter Freund.

Nach der Schulzeit hatten sie sich mehr oder weniger aus den Augen verloren, aber die Erinnerung an unbeschwerte Kindertage bewirkte in ihm eine unauslöschliche Verbundenheit mit diesem Haus.

Und nun sitzt er, der Sohn des Gärtners, in seiner Funktion als beratender Anwalt und Notar im Arbeitszimmer des Fürsten vor dessen Schreibtisch. Und auf der anderen Seite des Tisches, im Sessel ihres verstorbenen Mannes, sitzt die Fürstin, der er in früheren Jahren nach Möglichkeit immer aus dem Wege gegangen war. Henriette von Wallburg sei schwermütig, hatte man sich im Dorf erzählt. Sie könne nur mit Beruhigungstabletten leben, und der Fürst, fast zwanzig Jahre älter als seine Frau, sei ebenfalls kränklich. Deswegen sähe man die beiden nur selten. Und wenn sie manchmal bei schönem Wetter Arm in Arm, sich gegenseitig stützend, einen kurzen Gang durch den Park machten, sei der alte Wegener der einzige gewesen, mit dem sie dann und wann ein paar Worte wechselten.

Aus den Augenwinkeln beobachtet er die Fürstin. Eine immer noch schöne Frau sitzt ihm gegenüber, auch wenn sie in den Wochen der Trauer ihr Aussehen etwas vernachlässigt haben mochte.

Sie sieht ihn beunruhigt und erwartungsvoll an.

„Harald, was hat das alles zu bedeuten?“

„Ich habe Ihnen in der Tat einen Brief zu überreichen, Fürstin. Claudia hat ihn mir vor ein paar Monaten mit der Bemerkung übergeben, ich dürfe ihn nur an den- oder diejenige aushändigen, die nach ihrem Tode gezielt danach fragen werde. Es erschien mir damals rätselhaft und ist es noch heute, dass sie in ihrem Alter – sie war doch eben erst vierzig geworden – vom Tod sprach, aber natürlich habe ich mich Claudias Wunsch gefügt. Nun sind Sie es, Fürstin, die danach fragt. Ich selber bin über den Inhalt des Schreibens nicht informiert. Ich hoffe, er enthält nichts Belastendes.“

Mit zitternden Händen nimmt die Fürstin einen verschlossenen Umschlag aus handgeschöpftem Büttenpapier entgegen, die eigenwillige Handschrift der Tochter sogleich erkennend. Mit halblauter Stimme liest sie vor:

Claudia Gräfin zu Lauenstein, Prinzessin von Wallburg.

Von mir persönlich verfasst.

Sie langt nach einem Brieföffner, zögert aber, ihn anzusetzen und den zugeklebten Verschluss zu durchtrennen. Sie wendet sich an den Besucher.

„Würden Sie bitte Frau Dahlmann hereinrufen? Ich möchte sie bei mir haben, wenn ich Claudias Brief lese.“

Erst als Dahlmann auf einem abseits stehenden Stuhl Platz genommen hat, entnimmt die Fürstin dem Kuvert einen doppelseitig hand-beschriebenen Bogen Papier und beginnt leise zu lesen.

Es ist ein langer Brief, der an verschiedenen Stellen Tränenspuren aufweist.

Agnes Dahlmann und Harald Wegener sitzen schweigend und abwartend auf ihren Stühlen. Vogelgezwitscher dringt durch das geöffnete Fenster. In der Halle tickt langsam und bedächtig die alte Standuhr, schlägt unaufgeregt mit sonorem Ton viermal, während die kleine französische Pendule im Arbeitszimmer des Fürsten eifrig und nervös die Sekunden zählt. Sie hören den stockenden Atem der Fürstin, ihr verhaltenes Schluchzen, nehmen mit Erschrecken wahr, wie sie die Lektüre immer wieder unterbricht, das Papier in fassungslosem Entsetzen zwei bis dreimal in den Schoß fallen lässt und schließlich einen Sturzbach von Tränen nicht mehr zurückhält.

„Mein armes Kind – was haben wir dir angetan – mein armes kleines Mädchen, meine Claudia … nein, nein …“

Ehe sie ihren Kopf auf die Tischplatte sinken lässt, reicht sie den Brief an Agnes Dahlmann weiter. „Bitte, lies ihn … Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist … mein armes Kind, meine Claudia …“

Dahlmann starrt auf die Zeilen, liest, hält inne, liest mit schreckensweit geöffneten Augen weiter, ungläubig den Kopf schüttelnd. „Meine Laudi, meine Laudi …“ Vor ihren tränenblinden Augen verschwimmen die Buchstaben.

Harald Wegener steht am Fenster, hilflos die Hände faltend und wieder lösend und nach Worten suchend. Die Fürstin nimmt Dahlmann den Brief ab und reicht ihn schluchzend an den Anwalt weiter.

„Lesen Sie – Sie kannten sie so gut … wie konnte sie so etwas Entsetzliches tun? Haben wir sie dazu getrieben?“

Nur widerwillig beginnt er zu lesen.

Lauenstein

Liebste Mama,

ich weiß nicht, warum ich diesen Brief gerade heute und gerade an Dich richte. Vielleicht, weil in der Zeitung ein Bericht über einen plötzlichen, unerwarteten Todesfall stand, der mich tief ergriffen hat, obwohl ich die erwähnten Menschen nicht einmal kenne. Aber gibt es so etwas wie Ahnungen? Jedenfalls drängt es mich, diesen Brief zu schreiben und mein sorgsam gehütetes Geheimnis zu offenbaren. Wem außer Dir könnte ich mich anvertrauen? Ich hoffe einfach, dass Du es sein wirst, die diesen Brief eines Tages in Händen halten und lesen wird, falls ich vor Dir sterbe.

Er wird Dich schockieren – bitte verzeih mir.

Wenn Du ihn liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Das ist die Bedingung, mit der ich ihn Harald Wegener übergebe. Er ist mir ein Freund, der mein volles Vertrauen genießt.

Ich habe in meinen jungen Jahren einen furchtbaren Fehler begangen, der mein Gewissen bis heute in unerträglichem Maße belastet, den zu korrigieren ich dennoch nicht imstande bin. Bitte versuch Du es im Interesse meiner Söhne, die Deine Enkel sind.

Erinnerst Du Dich, dass ich bald nach meinem Abitur für einige Zeit nach Amerika ging? Kurze Wochen vorher hatte ich eine einmalige leidenschaftliche Begegnung mit einem verheirateten Mann. Den Namen des Mannes möchte ich nicht nennen, um nicht noch einmal in sein Leben einzugreifen. Kurz nach diesem Ereignis flog ich in die Staaten, um meine Stelle als Au-pair anzutreten. Kaum angekommen, stellte ich fest, dass ich schwanger war. Völlig kopflos, von der Situation überfordert und zu feige, Euch meine Situation zu bekennen, beriet ich mich telefonisch mit dem o. e. Mann. Wir waren beide zunächst ratlos.

Vater war damals schon schwer krank und schonungsbedürftig, Du littest unter Depressionen – ich habe es nicht übers Herz gebracht, Euch meine Lage zu beichten. Auch wollte ich um jeden Preis einen Skandal vermeiden, denn mit Sicherheit wäre die außereheliche Schwangerschaft der Prinzessin von Wallburg durch sämtliche Klatschspalten gegangen und für Euch zu einer unerträglichen Belastung geworden. Auch Michael zu Lauenstein, mit dem ich damals schon verlobt war, hätte ich eine große Enttäuschung und Kränkung nicht ersparen können.

Zu einer Abtreibung konnte ich mich aus unterschiedlichen Gründen nicht entschließen. So habe ich während meines Aufenthaltes in den USA unter geändertem Namen zwei Söhne geboren und sie in meiner Verzweiflung unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Ich habe sie nie gesehen. Die Freigabe meiner Kinder zur Adoption schien mir damals der einzige Ausweg.

Heute weiß ich, dass das ein furchtbarer Fehler war, worunter ich leide, wofür ich seit Jahren büße und den ich rückgängig machen möchte, obwohl ich weiß, dass es meinen Söhnen gut geht und dass sie verantwortungsbewusste und liebevolle Eltern bekommen haben.

Ich wurde damals in Seattle als Kindsmutter unter dem Namen Karin Weiler registriert, der angebliche Vater heißt James Gardmann. Er war ein Freund des eigentlichen Vaters, der in Deutschland lebt und damals der Adoption zustimmte, um seine Familie zu schonen. James Gardmann hat seinerzeit in Seattle alle Formalitäten für mich erledigt. Ich stand mit ihm über Jahre in lockerem Kontakt, war immer wieder versucht, mich zu der Situation zu bekennen, aber er ist gestorben, ehe ich mich zu einem Entschluss durchringen konnte.

Die Vermittlung der Kinder besorgte seinerzeit die St. Agatha-Church of Seattle. Über ihren Verbleib weiß ich nur, dass einer der eineiigen Zwillinge von einer deutschen Diplomatenfamilie namens Werthstein adoptiert wurde. Die Spur seines Bruders führt nach Sao Paulo, Brasilien. Seine Adoptivmutter ist Deutsche. Ihr Ehemann heißt Alfredo de Souza.

Meine Söhne wurden am 22.6.1997 geboren. Sie heißen Christopher Werthstein und Alessandro de Souza. Sie waren ein Teil meines Lebens, auch wenn ich sie nie kennenlernen konnte.

Wie zu Anfang des Briefes erwähnt, werde ich zu dem Zeitpunkt, da Du dieses Schreiben liest, nicht mehr am Leben sein. Noch bin ich gesund und stehe mitten im Leben und schreibe diesen Brief nicht, weil ich wirklich Todesahnungen habe, aber der Tod von James Gardmann hat seinerzeit in mir den Entschluss geweckt, so etwas wie ein Seelen-Testament zu verfassen.

Inzwischen bin ich nämlich nach unzähligen schlaflosen Nächten des Bereuens zu der Einsicht gelangt, dass meine Söhne ein Anrecht darauf haben, über ihre Herkunft aufgeklärt zu werden. Sie sollen wissen, dass sie eine Schwester und zwei Großmütter in Deutschland haben. Aber ich weiß nicht einmal, ob sie von ihren Adoptiveltern je erfahren haben, dass ihre leibliche Mutter in Deutschland lebt und dass sie zu einem Zwillingspaar gehören. Sollen sie es überhaupt wissen? Sie werden in einigen Monaten zwanzig Jahre alt sein. Habe ich noch das Recht, mich nach so vielen Jahren in ihr Leben einzumischen?

Mama, hilf mir, wenn Du die Kraft dazu hast. Wenn auch Du es für richtig hältst, suche meine Söhne, sei ihnen eine fürsorgliche Großmutter. Bitte Dahlmann und Harald Wegener um Beistand. Esther soll wissen, dass sie zwei Brüder hat. Tröste Michael, dem ich als seine Ehefrau immer treu war, weil ich ihn innig liebe.

Liebste Mama, verstoße mich nicht aus Deinem Herzen. Ich war feige und hatte Angst vor allen Konsequenzen, auch um Euretwillen. Du bist eine starke Frau – trotz Deiner Depressionen. Du wärst in meiner Situation mutiger und nicht so kopflos gewesen.

Wirst Du mir verzeihen und mich in guter Erinnerung behalten können?

Ich werde es leider nicht mehr erfahren, hoffe aber fest darauf.

In Liebe

Deine Tochter Claudia.

Harald Wegener, sichtlich ergriffen, liest die letzten Zeilen ein zweites Mal, faltet den Brief nachdenklich zusammen und gibt ihn der Fürstin zurück, unfähig, tröstende Worte an sie zu richten.

„Arme, arme Claudia.“

Erst nach einigen Minuten und nachdem er sich einigermaßen gefasst hat, sieht er sie offen an.

„Durchlaucht, Sie haben irgendwo auf der Welt zwei Enkelsöhne.“

Agnes Dahlmann beobachtet die Fürstin, die wie erstarrt am Schreibtisch sitzt und sich mit zitternden Händen bemüht, den Brief wieder in das Kuvert zu schieben.

„Ich hole Ihnen ihre Medikamente.“

Mit diesen Worten erhebt sie sich von ihrem Stuhl und will den Raum verlassen, wird aber von der Fürstin zurückgehalten.

„Ich werde zu beweisen versuchen, dass ich eine starke Frau bin, wie Claudia meint. Dahlmann, wirst du mir helfen? Harald, Sie auch?“

Ihre Stimme zittert. Sie streckt bittend beide Arme aus.

Harald ergreift ihre Hände.

„Es wird mir um Claudias Willen eine Ehre und eine Verpflichtung sein, Fürstin.“

Auch Agnes Dahlmann, sichtlich bewegt, nickt zustimmend und streichelt mit beruhigender Geste die Hände der Fürstin.

„Dahlmann, welche Tabletten muss ich um diese Zeit nehmen? Ich werde mich mit Dr. Mittmann beraten, ob ich deren Einnahme nicht nach und nach reduzieren kann. Ich werde einen klaren Kopf brauchen.“

Wasserschloss zu vererben

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