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2.
Nadja: Ins Boyne Valley

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Heute.

»Liiinks! Linke Spur! Du musst liiinks faaaahreeeen!«, kreischte Pirx und hielt sich das rote Mützchen vor die Augen.

Der Wagen schlingerte über die Fahrbahn, ein entgegenkommendes Auto konnte gerade noch hupend und mit blitzendem Fernlicht ausweichen, dann lehnte der Rover sich an die linke Leitplanke an und fand endlich wieder auf sichere Bahn.

Strafend blickte Fabio Oreso von der linken Beifahrerseite auf David Bonet, der hochkonzentriert das Steuer umklammert hielt, die sonst kühn geschwungenen Augenbrauen fest zusammengezogen, den Blick starr auf die Straße gerichtet.

»Nächstes Mal«, sagte der Venezianer streng, »fahre ich!«

»Ich weiß nicht, was ihr immer alle habt!«, gab David entrüstet zurück. »Ich bin ein sehr guter Autofahrer!«

»Bist du nicht!«, schrien alle im Chor, die sich noch im Wagen aufhielten, die meisten davon mit geschlossenen Augen und Angstschweiß auf der Stirn.

»Ich hätte mich niemals überreden lassen sollen«, brummte Fabio.

»Ich habe dich nicht überredet«, erwiderte David grinsend. »Ich hab dich reingelegt.«

»David, bei allen Göttern, fahr endlich links ran und lass Fabio ans Steuer!«, forderte Rian ihren Zwillingsbruder zum wiederholten Mal auf, nun deutlich ungehalten.

»Wenn ich mich scheiden lassen könnte, würde ich es tun!«, schimpfte Nadja, deren Flüche der letzten halben Stunde bewundernde Blicke von Pirx eingebracht hatten. »Wenn du schon nicht auf uns hörst, dann wenigstens auf deinen ungeborenen Sohn, dem es mindestens ebenso speiübel ist wie mir!«

»Ach was, das bisschen Schaukelei, das liebt er«, gab David ungerührt zurück und steuerte schon wieder die rechte Straßenseite an, fing sich aber gerade noch rechtzeitig, als er einen Wagen entgegenkommen sah. »Ein Verkehr ist das hier …«

Außerdem regnete es in Strömen, und man sah höchstens hundert Meter weit. Aber das störte den Elfenprinzen kaum. Er hatte noch nie vor irgendetwas Angst gehabt. Im Gegensatz zu den anderen im Auto, die diesen Begriff seit Antritt der Fahrt etwa alle Viertelstunde neu definierten.

Wie sie es vom Flughafen Dublin überhaupt bis hierher geschafft hatten, war allen ein Rätsel. Andererseits war der Verkehr rund um Irlands Hauptstadt von sich aus schon chaotisch, wenngleich nicht ganz so turbulent wie in Catania, wie Nadja fand. Doch dieses Chaos reichte aus, dass David das Auto irgendwie unbeschadet hindurchbrachte, und nun waren sie in den Norden Richtung Drogheda unterwegs.

Die Nerven lagen blank. Der Grogoch hatte schon seit einer halben Stunde nichts mehr gesagt und hielt die Augen fest geschlossen. Seine linke Hand klammerte sich krampfhaft an Rians Bein, eine überaus gewohnte Geste, seit sie zum ersten Mal nach Paris gegangen und als Erstes in den Autoverkehr geraten waren.

»David, wenn du jetzt nicht sofort anhältst, werde ich gewalttätig«, griff Fabio zur letzten Drohung.

»Außerdem muss ich kotzen!«, rief Pirx, und er sah wirklich nicht gut aus. Nadja blickte krampfhaft weg von ihm, zum Fenster hinaus.

»Also schön«, gab David beleidigt nach. Immerhin hatte es gerade zu regnen aufgehört, was nichts zu bedeuten hatte – in diesem Land wechselte das Wetter oft alle zehn Minuten. Wenigstens war es nicht kalt; kein Wunder, der Frühsommer stand vor der Tür. Gleich darauf wurden alle nach links geschleudert, was in dem Fall bedeutete, dass auf Rian das meiste Gewicht lastete, und dann nach vorn, als David bremste und gleichzeitig den Motor abwürgte, weil er die Kupplung nicht trat.

Zeternd, am Rande ihrer Kräfte, stiegen die Mitfahrer aus. Pirx und Grog wackelten eilig ins tropfnasse Gebüsch, von wo aus gleich darauf würgende Geräusche erklangen, und Rian klopfte Nadja beruhigend auf die Schulter, während Fabio die Autoschlüssel an sich riss. Der Prinz breitete die Arme aus.

»Was denn?«, fragte er ratlos. »Das Auto hat nicht mal eine Schramme!«

»Das ist nicht deinen, sondern den Fahrkünsten der Iren zu verdanken«, knurrte Nadjas Vater. »Du bist ein leichtsinniger, ignoranter …«

»Elf!«, vollendete David und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine violetten Augen trugen einen stolzen Ausdruck. »Wäre Alebin dir als Schwiegersohn lieber?«

»Könnten wir diesen grässlichen Namen einfach mal weglassen?«, fragte Nadja, und jetzt würgte es sie doch. Pirx und Grog, die gerade mit runzligen Nasen zurückkamen, brachten sich schnell in Sicherheit.

Fabios Handy klingelte, und er hielt es sich ans Ohr. Sein Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an; damit wusste jeder, wer dran war, noch bevor er sagte: »Schatz.« Ein paar Sekunden lauschte er, dann lächelte er und ging ein Stück abseits. Obwohl Pirx lange Ohren machte, konnte er kein Wort verstehen. Nach einer Weile kehrte Fabio zurück. »Schöne Grüße von Julia. Auf Sizilien ist alles in Ordnung, auch bei ihr im Waisenhaus. Als ich ihr von Davids Fahrkünsten erzählte, war sie froh, daheim geblieben zu sein.«

Unwillkürlich musste Nadja lachen. Julia – oder vielmehr Donna Letitia, wie ihre Mutter auf Sizilien genannt wurde – wäre auch so nicht mitgekommen, sie wurde im Waisenhaus gebraucht. In den vergangenen Wochen hatte sie die Arbeit, wie sie es bezeichnete, »genug schleifen lassen«, um bei ihrer Familie zu sein, nun wollte sie wieder für die Kinder da sein. Nadja und Fabio war es sehr recht, dass sie außerhalb des Brennpunkts der Geschehnisse blieb.

Die Stimmung besserte sich erheblich, als Fabio das Steuer übernahm. David nahm es ihm nicht lange übel, dafür war das Land viel zu interessant. Immerhin erstreckte sich über dieses Gebiet auch das Reich der Crain in der Anderswelt, und er fand einige Parallelen. Das besondere Grün der Wiesen, vor allem, wenn die Sonne nach dem Regen darauf schien, die sanften Hügel, und die hier zahlreichen Bäume. Es gefiel dem Elfenprinzen ausnehmend gut, und seine Mitreisenden waren bald erneut genervt, weil er bei jedem Inn, an dem sie vorbeifuhren, und bei jedem Pub in den kleinen Ortschaften inständig darum bettelte, anzuhalten und etwas zu trinken.

Niemand sprach es aus, aber Nadja war sicher, dass sie sich nicht allein Gedanken über Davids seltsames Verhalten machte, und ob es an seiner Seele liegen mochte, die langsam in ihm heranwuchs. Früher war er nie so stark emotional gewesen, und wenn, dann eher negativ – mürrisch, aufbrausend, überheblich. So wie jetzt kannte sie den Mann, den sie liebte, überhaupt nicht. Andererseits war es kein Wunder, dass er so durcheinander war. Er musste sich an den Gedanken gewöhnen, Vater zu werden und Verantwortung zu übernehmen; das allein brachte ihn sicherlich schon aus dem Konzept. Elfen banden sich nur selten an jemanden, und noch seltener zogen sie den Nachwuchs gemeinsam auf. Meistens blieben die Kinder bei einem Elternteil, und der andere sah ab und zu vorbei. Inzwischen kam noch dazu, dass Nachwuchs in der Anderswelt mittlerweile zur einer Sensation zählte.

Das Elfenvolk war alt geworden, es gab kaum Nachkommen – und nun hatte es auch noch die Unsterblichkeit verloren. Innerhalb kürzester Zeit war die Anderswelt auf den Kopf gestellt worden – und für junge Elfen wie David und Rian hatte dies umso stärkere Auswirkungen.

Doch Davids Begeisterung steckte schließlich an, Nadja war inzwischen gerührt über sein fortwährendes Staunen und die Vergleiche, die er zog. Er schien sich »fast daheim« zu fühlen, und doch in der Menschenwelt: Genauso »zwischendrin«, wie er selbst nunmehr war. Ein Elf mit einer jungen Seele.

Auch Pirx und Grog wurden durch Fabios sichere Fahrweise allmählich munter, und bald schnatterten alle vier Elfen durcheinander. Über die Kühe, die Schafe, die schönen Pferde, die hübschen weißen reetgedeckten Cottages, die bunten Ortschaften, und das eine oder andere Relikt vergangener Jahrtausende, das ihnen vertraut war.

Nadja, die hinter Fabio saß, rutschte ein wenig nach vorn und sagte leise an sein rechtes Ohr: »Und wie fühlst du dich?«

»Wie ein Tourist«, antwortete er. »Ich war nicht allzu oft hier.«

»Ich war schon zweimal in Irland«, sagte sie. »Als ich das erste Mal hier war, ging es mir ganz ähnlich. Man verbindet ja immer auf romantische Weise das Keltentum, eine ruhigere Gangart und jede Menge Elfenmärchen damit. Ich habe jedes Mal sehr viel Stimmung und Geschichten erlebt, und die Musik passt genau dazu.«

»Da werden unsere vier wahrscheinlich endgültig ausrasten«, sagte er lächelnd. »Die Musik bei den Crains ist durchaus ähnlich.«

»Stell ja nicht das Radio an!«, warnte sie. »Am Ende erwischen wir noch einen traditionellen Sender.«

Für Nadja war es eine ziemliche Umstellung von Sizilien hierher. Nicht nur, dass sie sich wieder sprachlich umgewöhnen musste, es war auch alles so anders, eine völlig unterschiedliche Lebensart. Sicher, es gefiel ihr, aber … wohler fühlte sie sich in Italien. Da merkte man doch, wer ihre Eltern waren.

Sie zuckte kurz zusammen, als ihr Sohn ihr einen fröhlichen Tritt in die Leiste verpasste. Allmählich machten sich doch das Gewicht und das neue Leben in ihr bemerkbar, auch wenn es ein Elfenkind war. Trotzdem konnte sie sich nicht beklagen, es ging ihr blendend, sie war in ihrer Bewegung kaum eingeschränkt, und ihr gesunder Appetit hatte eher noch zugenommen, allerdings angenehmerweise nach wie vor, dem elfischen Erbe gemäß, nicht das Gewicht. Und ihre Mutter hatte wohl auch einen kleinen Anteil daran, da sie ebenfalls über einen gesunden Appetit verfügte, aber von zierlicher Statur war.

Nadjas Welt hatte sich zum zweiten Mal völlig auf den Kopf gestellt. Das erste Mal, als sie den Elfen begegnete, und nun, dass sie Mutter wurde. Was sie in den vergangenen Monaten erlebt und durchgemacht hatte, passierte den meisten anderen Menschen im ganzen Leben nicht. Sie war gespannt, was da noch alles auf sie warten würde.

Zuallererst aber mussten sie verhindern, dass der Getreue das Zeitgrab in Newgrange öffnete. Nicht auszudenken, was dann geschehen mochte! Die Frage war: Warum tat er das? Regiatus der Cervide hatte eine Botschaft seines Halbbruders Ainfar erhalten, der freiwillig als Spitzel im Schattenland lebte. Das war eine Überraschung für die Zwillinge gewesen, da Regiatus nie über seinen Bruder gesprochen hatte.

Leider war ein Teil der Nachricht verlorengegangen, nämlich der über die Motive des Getreuen. Doch das würden sie schon herausfinden, wichtig war zunächst, dass sie überhaupt wussten, was er aktuell vorhatte.

Trotzdem hatten sie während des Fluges hierher Zeit zum Grübeln gehabt, was das zu bedeuten hatte. Wollte er auf diese Weise neue Rekruten für Bandorchus Heer sammeln? Welche Welt würde er damit zuerst überschwemmen? Nahm er das Zeitparadoxon absichtlich in Kauf, war dies Bestandteil seines teuflischen Plans? Sowohl Fabio als auch Grog hatten versichert, dass das Spiel mit der Zeit strengen Regeln unterlag. Ein Blick in die Zukunft beispielsweise war absolut untersagt – Fabio hatte am eigenen Leib die Folgen der Übertretung zu spüren bekommen. Und die meisten Elfen hielten sich davon fern; während ihrer Unsterblichkeit hatte Zeit ohnehin keine Rolle gespielt, und jeder von ihnen wusste, dass schon ein kleiner Eingriff den Untergang herbeiführen konnte. Die Erinnerungsmagie wurde gleichfalls nur sehr selten durchgeführt, da sie erhebliche Risiken barg.

Aber es wäre nicht das erste Mal, dass der Getreue alles riskierte. Bisher wussten sie ja noch nicht einmal, welche genauen Auswirkungen das Setzen des Stabes am Ätna haben würde, es war alles möglich.

Als der Wegweiser Brú na Bóinne kam, setzte Fabio den Blinker, und sie bogen nach links Richtung Westen ab. Schon kurz darauf wurde die Straße schmaler und zog sich zwischen Steinmauern, kleinen Gehöften, Wäldchen und über Hügel hinweg. Das Gebiet war hier leicht sumpfig, es gab viele Birken auf torfreichem, mit Heidekraut bewachsenen Grund. Das Land wirkte gleich weitläufiger, nachdem das Meer hinter ihnen zurückblieb, und einsamer.

»Wir erreichen jetzt eine der fruchtbarsten Gegenden Irlands«, erklärte Nadja, die sich noch gut von ihren vergangenen Reisen daran erinnerte und sich außerdem vorbereitet hatte. »Schon quasi seit Urzeiten ist diese Region Anbaugebiet. Deswegen finden sich hier auch überall uralte Hinterlassenschaften wie Melagithbauten, Cairns, Hochkreuze, jahrhundertealte Abteien und so weiter.«

Kurz darauf passierten sie ein Schild, das Reisende im Tal des Flusses Boyne willkommen hieß.

»Das ist wohl was besonderes hier, nicht wahr?«, rief der Pixie und hüpfte aufgeregt auf und ab.

»Ja«, antwortete Nadja lächelnd. »Ich war fasziniert.« Sie holte Atem und führte aus: »Der Fluss Boyne ist sehr geschichtsträchtig, auch in mythologischer Hinsicht. Sein Name rührt wahrscheinlich von Bóinn oder auch Boann her, der irischen Muttergöttin und Königin. Deshalb wurde hier einst Tara gebaut, der Hochsitz der irischen Könige. Der Boyne ist so um die hundertzehn Kilometer lang, zieht sich durch liebliche Auen, lichte Wälder und fruchtbare Felder. Alte Städte wie Trim mit dem großen Castle und die ehemalige Hauptstadt Drogheda kurz vor der Irischen See finden sich an seinem Lauf, ebenso wie die alten Abteien Monasterboice mit den berühmtesten und schönsten Hochkreuzen Irlands, und natürlich die Mellifont Abbey, zu der das große Ganggrab Newgrange sowie die beiden noch älteren Megalithbauten Knowth und Dowth gehören.«

Alle hörten ihr aufmerksam zu, und Nadja fuhr, nunmehr selbst begeistert, fort: »Finn Mac Cumal, Anführer der berühmten Fianna, soll den Lachs des Wissens im Fluss gefangen haben, was den Grundstein seiner künftigen Heldentaten darstellte. Im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert fand hier eine fürchterliche Religionsschlacht statt, der protestantische Wilhelm von Oranien gegen den katholischen Jakob den Zweiten, beides Engländer, die jeder für sich Irland als Provinz beanspruchten. Jakob verlor, konnte aber mit den meisten Soldaten fliehen, und so dauerte der zerstörerische Krieg ein weiteres Jahr an. Zahlen mussten die Iren, wie meistens.«

»War Finn ein Elf?«, fragte Pirx dazwischen.

»Das müsst ihr besser wissen als ich.«

»Was meinst du, Grog?«, wandte der Pixie sich an den Älteren.

»Ich kann es nicht sagen«, antwortete der alte Kobold. »Zu den Zeiten damals waren die Grenzen noch weit offen, alles vermischte sich. Schon möglich, dass Finn ein Elf war, aber er gab sich stets als Mensch.«

»Mit Zauberkräften«, wandte Nadja ein.

»Viele verfügten damals über Magie, Nadja, und vieles wurde in den Legenden hinzugedichtet. Wir werden es nicht herausfinden.«

Rian verstand es nicht. »Aber warum denn nicht? Das könnte uns von Nutzen sein! Fragen wir die Iren!« Sie runzelte die Stirn, als Fabio und Nadja grinsten. »Was ist daran so witzig, eine Frage an jemanden zu stellen?«

»Eines Nachts«, begann Fabio, »es war sehr finster, und kein Leuchtturm wies den Weg, strandete ein Schiff an dieser Küste. Es hatte wegen eines Sturms die Orientierung völlig verloren. Die Schiffbrüchigen wussten also nicht, wo sie waren. Der Kapitän ging mit seinem Steuermann an Land und suchte nach einer Straße. An einer Kreuzung trafen sie einen Mann und fragten ihn, wo es zur nächsten größeren Ortschaft ginge. Der Mann deutete wortlos nach links. Der Kapitän ging daraufhin nach rechts. Der Steuermann staunte, sagte aber nichts. Kurz darauf kamen sie an einen Wegstein, der die Grenze einer Stadt markierte, und der Steuermann staunte noch mehr. Dort bei dem Stein stand wiederum ein Mann, der seinen Hund Gassi führte. Der Kapitän fragte ihn, ob die Stadt für hiesige Verhältnisse groß sei. , sagte der Mann. Sie gingen weiter und begegneten einem dritten Mann, der sich gerade die Schnürsenkel band. Der Kapitän fragte ihn, ob man hier auf der Straße sicher vor Räubern sei. Yo, sagte der Mann. Der Kapitän nickte und ging weiter. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und bat den Steuermann um ein paar Geldstücke, weil er selbst vergessen habe, die Börse mitzunehmen. Der Steuermann suchte alle Taschen ab und stellte erschrocken fest, dass er bestohlen worden war. ›Das genügt‹, sagte der Kapitän, ›wir können zurück.‹ Er drehte um. Der Steuermann folgte ihm, verlangte aber Aufklärung. Der Kapitän antwortete: ›Wortkarge Leute, die nicht die Wahrheit sagen und prahlen, und die einen schneller bestehlen, als man ausspucken kann – wir sind in Irland, und die Stadt da hinten ist Dublin.‹«

Verblüfftes Schweigen herrschte im Wagen, während Nadja und Fabio Mühe hatten, nicht laut zu lachen.

»Die Iren sind Elfen?«, fragte Pirx schließlich, und da konnte Grog nicht mehr an sich halten. Er lachte, dass sein haariger Bauch wackelte. »Also, was nun?«, hakte der Pixie nach, erhielt aber keine Antwort. Es gab wohl auch keine.

Kurz darauf bog Fabio erneut von der Straße ab, diesmal nach rechts. Er hatte ein B&B-Schild entdeckt, das zur »View Lodge« einlud. Sie fuhren eine einspurige Straße entlang, die immerhin geteert war und zwei Ausweichbuchten aufzuweisen hatte, bis sie auf dem Ende eines Hügels herauskamen, wo malerisch gelegen ein großes Steinhaus sein Fundament gegründet hatte, mit zwei Anbauten für Garage und Landwirtschaft. Links und rechts vom Hof gingen steinumzäunte Weiden ab, auf denen schwarzköpfige Schafe und zumeist braune Pferde friedlich grasten. Es ging auf achtzehn Uhr zu, und das Land zeigte sich von seiner besten Seite: Blauer Himmel hinter schnell abziehenden Wolken, eine rötliche Sonne, die sich auf den Weg in den Westen machte, und weiches, farbintensives Licht, das sich tausendfach in Regentropfen an Zweigen brach. Die Luft war mild und roch nach Ginster, nassem Torf, Rosen und Meer.

»Fast wie daheim«, flüsterte Pirx, als sie ausstiegen – die beiden Kobolde natürlich unsichtbar.

Nadja und Fabio gingen gemeinsam zum Eingang und drückten auf die Klingel. Auf dem Schild daneben stand »O’Sullivan«. Nur wenig später öffnete eine kleine, schlanke Mittfünfzigerin die Tür, die sie freundlich anlächelte und begrüßte: »Wie geht es Ihnen heute, an diesem wunderbaren Abend?«

Fabio schien ein wenig irritiert, aber Nadja kannte dies bereits. »Bestens, bei so einem Wetter«, antwortete sie. »Haben Sie zwei Zimmer für eine Nacht?«

»Nun, Sie haben Glück, ich habe gerade eine Absage bekommen, sonst wäre ich voll belegt gewesen. Zu dieser Jahreszeit ist es besser, zu reservieren.«

»Ach, wir wissen meistens nicht, wo wir heute oder morgen sind«, meinte Nadja leichthin. »Aber hier gefällt es uns so gut … die Aussicht aufs Boyne Valley …«

»Oh ja, wir haben die beste!«, sagte die Frau eifrig und deutete über den Hügel. »Wenn Sie ein Stück nach vorn sehen, können Sie zwischen den Bäumen rechts Newgrange erkennen. Haben Sie das schon besichtigt?«

»Ich, vor Jahren, aber meine Freunde und mein Vater noch nicht, wir wollen es uns morgen ansehen.«

»Also gut, kommen Sie erst einmal herein. Wollen Sie zuerst die Zimmer sehen? Ich gehe voran. Übrigens, ich bin Mrs O’Sullivan. Sagen Sie Anna.«

Nadja folgte ihr. »Ich bin Nadja Oreso, mein Vater Fabio, und meine Freunde David und Rian Bonet.«

»Freut mich! Machen Sie eine Rundreise? Das sollten Sie unbedingt, und sich viel Zeit nehmen, es gibt so viel zu besichtigen. So, sehen Sie hier, die beiden Zimmer. Nummer 5 gleich rechts, und die 9 den Flur runter, links. Die Schlüssel stecken.«

»Was kosten sie?«, fragte Nadja, bevor Fabio etwas sagen konnte, und versetzte ihm einen leichten Stoß, um zu verhindern, dass er zu handeln anfing.

Die Wirtin nannte den Preis, der Nadja völlig angemessen schien. Die Zimmer waren groß, hell und freundlich, mit viel Holz, knalliger Blumentapete, gemütlicher Sitzgelegenheit, eigenem Bad und Vorrichtungen zum Teekochen. Zum Abschluss fragte Mrs O’Sullivan, ob sie ein irisches Frühstück wünschten, und alle sagten begeistert zu.

Dann konnte David sich nicht mehr zurückhalten: »Bitte, gibt es einen Pub hier in der Nähe?«

Mrs O’Sullivan lachte. »Selbstverständlich! Sogar zu Fuß erreichbar, in zehn Minuten. Gehen Sie zurück zur Straße, dann rechts, und an der nächsten Kreuzung gleich wieder rechts. Da ist eine kleine Ortschaft, Boyne Hills heißt es, und der Pub Smoking Cat ist sehr beliebt. Keine Angst, natürlich raucht niemand mehr drin, und das Essen ist gut. Wenn Sie Glück haben, spielen dort heute Abend ein paar Freunde.«

Nadja und Fabio nahmen nach kurzer Diskussion das erste Zimmer, die Zwillinge und die Kobolde das andere. Sie verabredeten sich eine halbe Stunde später und spazierten dann gemeinsam in den Pub, der tatsächlich nicht weit entfernt lag. Wie alle Pubs war das Smoking Cat vollständig mit Holz verkleidet und eingerichtet, mit schummriger Beleuchtung, jeder Menge Bier-Werbeblechschildern an den Wänden, Murphy’s Laws, Dartscheibe, ein paar gerahmte Fotos mit Berühmtheiten und sonstiger Krimskrams, den irgendwann mal jemand einfach hingepinnt hatte. Es ging bereits hoch her, von überall kamen Arbeiter, die schnell ein Pint vor dem Heimweg zu sich nahmen. Dazu ein paar verirrt wirkende, viel zu fein gekleidete Touristen, die solche eher einfachen Pubs abseits der gewohnten Pfade wohl nicht kannten, sowie Ortsansässige, und im Nebenraum eine kleine Gruppe Musiker, die temperamentvoll fiedelten. Sie verliehen den Traditionals oder kurz trads eine rockige Note, was sofort für viel Stimmung sorgte.

»Hi folks, how’s the craic?«, rief der Barmann, als sie nach einem Platz Ausschau hielten. »Was geht ab, Leute?«

Nadja kannte den Ausdruck, und sie antwortete: »Hauptsächlich Bier!«, woraufhin die Arbeiter grölend die Pintgläser hoben. Damit waren sie schon mal willkommen.

»Hier gefällt’s mir«, sagte David grinsend.

Während sie sich setzten, holte der Prinz Bier und Cider, und für sich und Fabio dazu zwölf Jahre alten Bushmills, »weil sich das so gehört«. Eine Weile saßen sie stillvergnügt um einen niedrigen wackligen Tisch auf schäbigen Ledersesseln und ließen alles auf sich einwirken. Pirx und Grog waren ebenfalls versorgt und achteten darauf, dass niemand über sie stolperte.

»Also gut«, sagte Nadja, nachdem sie gegessen hatten, und packte Unterlagen über Irland aus ihrem Rucksack, von dem sie sich nie trennte. »Fangen wir an. Ich habe mich ein bisschen vorbereitet.«

Sie unterhielten sich auf deutsch, das hier vermutlich niemand verstand, außerdem war es ziemlich laut und voll, und keiner achtete auf sie.

»Newgrange wurde vor über fünftausend Jahren erbaut und ist damit älter als die ägyptischen Pyramiden«, fing sie an. »Das ist deswegen von Bedeutung, weil Newgrange selbst ebenfalls ein Kraggewölbe ist, wie es teilweise auch in Ägypten gebaut wurde, nur eben viel später. Das älteste dieser Gewölbe hier in Europa ist der Cairn von Barnenez in der Bretagne, sechseinhalbtausend Jahre alt. Man nimmt an, dass es sich in Newgrange um ein Ganggrab handelt, weil menschliche Überreste sowie verbrannte Knochen auf einer Art Altar gefunden wurden. Gleichzeitig aber ist es auch ein Kalenderbau, denn dreizehn Tage im Jahr, um die Wintersonnenwende, gelangt ein Sonnenstrahl ins Innere des Baus, genau in die Hauptkammer, auf den Altar. Damit ging es also nicht nur um den Tod, sondern auch um das neue Leben, das sich im Frühjahr regt. Deshalb geht die Öffnung nach Osten, zum Sonnenaufgang. Wie übrigens bei allen Tumuli – Tod bedeutet zugleich immer Leben. Die nahebei gelegenen Knowth und Dowth, die früher errichtet wurden, hingegen waren wohl keine reine Nekropolen, sondern dort lebten Menschen um ihren Tumulus. Die beiden Anlagen sind von der Gesamtfläche wegen der Nebengebäude größer, aber Newgrange ist das größte europäische Ganggrab.«

»Wahrscheinlich«, sagte Fabio dazwischen, »halfen die Tuatha damals beim Aufbau, da einige Steine von sehr weit her kamen, die nur schwer transportiert werden konnten. Vielleicht hat sogar Fanmór selbst den Transport unterstützt. Das Volk, das Newgrange baute, ist unbekannt, es existierte lange vor den Kelten. Diese Megalithkultur war sehr spirituell, die Verbindung zur Geisterwelt nahe. Das kann man gut an den Mustern der behauenen Ringsteine erkennen. Vermutlich lebten sie mit den Tuatha in friedlicher Gemeinschaft und vermischten sich sogar.«

Nadja fuhr fort: »Das Ganggrab ist rund zwanzig Meter lang und endet in einer kreuzförmigen Hauptkammer mit drei Nischen. Das innere Kraggewölbe ist sieben Meter hoch und bis auf den heutigen Tag zu hundert Prozent regendicht. Kein Tropfen Wasser gelangte jemals seit der Erbauung ins Innere.« Sie öffnete einen Reiseführer und zeigte einige Bilder des äußeren Rundbaus mit der schwarzweißen Steineinfassung beim Eingang.

»Sieht sehr modern aus«, befand Pirx.

»Es handelt sich hier um eine umstrittene Rekonstruktion«, erklärte Nadja. »Die Steine fand man aber genau hier, und eine Führerin hat mir erzählt, dass sie exakt so, wie sie gefunden worden waren, wieder eingepasst wurden. Angeblich wurde kein Stein hinzugefügt, es blieben sogar ein paar übrig, die sie in einem Korb beim Eingang sammelten. Jahrtausendelang hat wohl niemand die Quarze geholt, um sie selbst zu verwenden. So wird es hier erzählt, in Führern steht wieder was anderes. Außerdem fehlen von der Steinumfassung mit Monolithen zwei Drittel, diese schweren Brocken sind irgendwie abhandengekommen.«

»Aber eine Tatsache ist«, sagte Fabio, »dass dieses Gebiet gemieden und nicht besiedelt wurde, auch nachdem das Grab längst vergessen und mit Bäumen und Gras überwuchert war. Selbst Wikinger oder sonstige Grabräuber, die überall auf den Inseln Vandalismus betrieben, haben dieses Grab nie betreten. Dass sie es nie entdeckten, ist unwahrscheinlich, Knowth und Dowth in der Nähe haben sie auch gefunden. Daher wurde in Newgrange nicht die Decke aufgebrochen, wie sonst üblich, weswegen wir heute immer noch in der Lage sind, diese hohe Baukunst zu bewundern – egal, ob von Menschen oder Elfen errichtet.« Er hob die Hände. »Ich habe nichts damit zu tun, falls ihr das annehmen wolltet, mein Spezialgebiet war Venedig – und Jahrtausende später.«

»Also haftet etwas Mystisches diesem Ort an?«, fragte Rian.

Fabio und Grog hoben die Schultern. »Es muss wohl so sein.«

»Ganz sicher«, bestätigte Nadja. »Ihr werdet es feststellen, wenn wir morgen hingehen. Obwohl es heutzutage ein fürchterlicher Touristenrummel ist, vor der EU-Umstellung und den EU-Fördergeldern muss es anders gewesen sein, erhabener, weil man es besser auf sich einwirken lassen konnte.«

»Fabio, hast du eine Vorstellung, wo dieses Zeitgrab genau liegt?«, fragte David.

»Ich hoffe, wir entdecken es, wenn wir drin sind«, antwortete der Venezianer.

»Was genau ist denn nun dieses Zeitgrab?«, wollte Pirx wissen.

»Ein Portal zur Vergangenheit«, erklärte Grog. »Auch … für die Toten, die dann zu Wiedergängern würden.«

»Das klingt nicht gut«, murmelte Nadja.

»Gar nicht gut«, stimmte David zu.

»Und passt genau zum Getreuen«, stellte Rian fest.

»Möglicherweise öffnet das Grab sich auch vorwärts in der Zeit«, setzte Fabio noch einen drauf. »Ich möchte sogar darauf wetten, dass der Getreue genau das versuchen wird.«

Daraufhin herrschte nachdenkliches Schweigen. Schließlich sagte David: »Also gut, dann lasst uns mal Kräfte sammeln.« Damit stand er auf und ging an die Theke. Kurz darauf hatte er schon die Seite gewechselt und gab die ersten Drinks aus, die umgehend reißenden Absatz fanden. In die Augen des Barmanns trat ein zunehmend stärker werdendes Leuchten.

Pirx und Grog waren schon bei den Musikern, und auch Rian ging nach nebenan; kurz darauf klang ihre glockenreine Stimme herüber und lockte noch mehr Zuhörer an. Fabio ging mit grüblerischem Gesicht an die Theke, und Nadja saß auf einmal allein am Tisch. Achselzuckend widmete sie sich ihrem Cider und beobachtete die Leute, legte die Hand an den Bauch und erzählte ihrem Kind, was ihr auffiel. Es schien aufmerksam zuzuhören, denn es rührte sich ausnahmsweise einmal nicht, trotz der Musik.

Die Stimmung im Pub wurde zusehends gelöster und heiterer, aber das war für Nadja nichts Neues. Die Zwillinge verbreiteten überall Leben und Frohsinn, wo sie auftraten.

Die junge Frau sah kurz auf, als ein Mann sich über ihren Tisch beugte. Er musste sich ziemlich nah zu ihr neigen, damit sie ihn verstehen konnte, denn es war recht laut. Der Mann mochte um die Sechzig sein und war nicht weiter auffällig. Er trug eine Schiebermütze, Jeans und Streifenhemd, seine Finger waren gelb von Nikotin, die Gesichtshaut großporig und wettergegerbt. »Er gefällt dir«, sagte er und wies mit dem Daumen auf David, der hinter der Theke die Regale entlangtanzte, Flaschen durch die Luft wirbeln ließ und lachte, wobei seine Augen verräterisch violett im Schummerlicht aufblitzten.

»Natürlich, er ist …«, begann sie, doch der Mann hob die Hand.

»Ich weiß, was er ist, und seine Schwester. Dass die beiden blutsverwandt sind, ist nicht zu übersehen. Bei dem Weißhaarigen bin ich mir nicht sicher, aber du passt nicht hinein.«

»Inwiefern?«, wollte sie leicht gereizt wissen.

»Ich meine, du solltest auf deine Seele aufpassen, und darauf, wohin du gehst.«

»Danke für den guten Rat, aber ich kann tatsächlich schon selbst auf mich aufpassen.«

Das sollte eine deutliche Abfuhr sein, aber der Mann setzte sich jetzt erst recht zu ihr.

»Dann verrat mir doch mal, was ihr hier macht.«

»Ich wüsste nicht, wieso dich das was angeht.«

»Was hier in meinem Land passiert, geht mich sehr wohl was an, Kleine, und ich lasse mich nicht für dumm verkaufen.«

In Nadjas bernsteinfarbene Augen trat ein spöttisches Funkeln. »Würde mir nicht im Traum einfallen.«

Der Mann musterte sie aus unstet wirkenden blauen Augen. »Gehört ihr zu den anderen?«

Nadja wurde hellhörig. »Welche anderen?«

»Aha, also doch. Es gibt mehr von der Sorte deiner Freunde hier. Sie treiben sich in der Nähe von Newgrange herum, als ob sie auf der Suche wären. Sind das eure Freunde oder Feinde?«

Nadja hatte nicht die geringste Ahnung, worauf der Mann hinauswollte. »Feinde«, antwortete sie ruhig. »Zumindest nehme ich das an. Was hast du mit Newgrange zu tun?«

»Ich kümmere mich dort um die Elektrik.«

»Und wieso kannst du meine Freunde erkennen?«

Er hob die Schultern. »Manche von uns können das. Hab’s wohl von meiner Mutter gelernt, die sich viel mit diesen Dingen beschäftigt hat und hellsehen konnte. Sie sagte vor gut einem Jahr voraus, dass im Jahr der Zeitenwende jemand hierher kommen würde. Sie gab eine Beschreibung, die auf euch zutreffen könnte.«

Nadjas Herz fing an, schneller zu schlagen. Hatte Fabio etwa recht? Vor allem das Wort »Zeitenwende« beunruhigte sie, damit konnte der Verlust der Unsterblichkeit der Elfen gemeint sein. Ein besonderer kalendarischer Wechsel stand nicht an. »Was genau willst du von mir?«

»Nichts weiter«, sagte der Ire. »War bloß neugierig. Zumindest weiß ich jetzt, dass meine alte Mutter nicht verrückt ist. Damit hab ich gute Chancen, meinst du nicht?« Er tippte sich an die Schläfe und grinste. Seine Zähne waren nur noch braune Stumpen.

Nadja war völlig verwirrt, dabei sollte sie es besser wissen. Es war nicht ihre erste Unterhaltung mit schrulligen Iren, die zu einsam waren und ein bisschen zu viel ins Pintglas schauten. Erleichtert sah sie, dass Fabio ihren Tisch ansteuerte.

Er legte dem uneingeladenen Tischgast die Hand auf die Schulter und sagte: »Hi, Bob. Marsha braucht dich hinten, sieh mal nach ihr.« Sein Griff verstärkte sich, und er zog den etwa Gleichaltrigen mühelos vom Hocker hoch und schob ihn nachdrücklich Richtung Theke. Ohne etwas zu erwidern, ging Bob weiter.

Fabio setzte sich. »Alles in Ordnung?«

»Er erkennt Elfen.«

»Sicher doch. Seine Mutter hat während ihrer Schwangerschaft versehentlich ein falsches Gartentor geöffnet, seither ist sie ein wenig seltsam, und ihr Sohn ebenso.«

Nadja lachte leise. »Du hast also gleich alles mitbekommen und dich kundig gemacht.«

»Ich lasse dich nie aus den Augen, wie du weißt.« Fabio drehte sich leicht und winkte einem anderen Mann zu, der ebenfalls weißhaarig war und gleich näherkam. »Seamus, das ist meine Tochter Nadja. Nadja, das ist Seamus.«

»Freut mich.« Der Händedruck des Iren war kräftig, genauso wie seine Statur, und listige Schlauheit funkelte aus seinen Augen. »Ich hoffe, Bob hat dich nicht zu sehr erschreckt. Das macht er gern bei Fremden, ist sein höchstes Vergnügen.«

Nadja schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich erlebe das nicht zum ersten Mal.«

»Seamus hat ein Cottage, das er ab morgen an uns vermietet«, erklärte Fabio den Grund der Bekanntschaft. »Es liegt ziemlich nah an Newgrange, quasi nur ein Katzensprung entfernt.«

»Das Haus gehört meinem Sohn, aber er wohnt und arbeitet in Dublin und kommt nur selten her«, sagte Seamus. »Ich vermiete es ab und zu an Leute, die mir zusagen. So wie ihr.« Er grinste. »Marsha macht heute wahrscheinlich den Umsatz des Jahres. Ihr seid ja eine lustige Gesellschaft.« Er hielt Fabio die Hand hin. »Also sind wir uns einig?«

»Wir sind uns einig«, sagte Fabio und schlug ein.

Seamus stand auf und nickte Nadja zu. »Hat mich gefreut.« Er ging zur Theke zurück, wo David gerade laut im Chor mitsang und vier Drinks auf einmal mixte, während die weibliche Kundschaft heftig mit Euroscheinen wedelte.

»Bob hat gesagt, dass noch andere hier sind«, sagte Nadja zu Fabio, kaum dass sie unter sich waren, und berichtete von dem seltsamen Gespräch.

Fabio legte die Stirn in Falten. »Also ist der Getreue noch nicht unmittelbar am Werk, aber zumindest treiben sich seine Helfer hier herum. Ich nehme an, dass die Öffnung des Zeitgrabs eine Menge Vorbereitung in Anspruch nimmt, selbst für ihn. So etwas ist eine sehr machtvolle, gefährliche Angelegenheit, die wohldosiert eingesetzt werden muss, sonst verliert er schnell die Kontrolle. Das kann von Glück für uns sein, dass wir ihm rechtzeitig ins Handwerk pfuschen. Wenigstens diesmal!«

»Dann werden wir morgen also Newgrange unter die Lupe nehmen und das Cottage beziehen, um dort Pläne zu schmieden«, schlussfolgerte Nadja.

»Ganz recht.«

»Hoffentlich gibt es in dem Haus genug Zimmer, denn noch einmal nehme ich nicht mit dir vorlieb.«

Er grinste. »Es hat deren drei. Und wir werden jetzt aufbrechen.«

Das war Nadja sehr recht, denn David war inzwischen etwas zu sehr von jungen Damen umlagert, fand sie. Kurz überlegte sie, dann blitzte Schalk in ihren Augen auf. Sie stand auf, brachte die Kleidung in den richtigen Sitz und schritt dann mit wiegenden Hüften und strahlendem Lächeln auf die Theke zu. Demonstrativ zeigte sie ihren leicht gewölbten Bauch unter dem hautengen T-Shirt, der bei ihrer schlanken, straffen Figur nur eine Deutung zulassen konnte. Die Menschen wichen ihr unwillkürlich, unbewusst aus, mit leicht verdutzten, aber nicht ablehnenden Gesichtern. Als ihr Blick sich mit Davids kreuzte, schien er für einen Moment flüchtig darüber hinweggehen zu wollen und mit dem Mixen fortzufahren. Doch dann ließ er die Hände sinken, die Augen unverwandt auf sie gerichtet. Ein verklärtes Lächeln erhellte seine Züge, und Nadja sah ein sanftes Glühen im Zentrum seiner Brust, knapp über dem Herzen. Dies galt allein ihr.

Enttäuschung malte sich auf den Gesichtern der Mädchen und jungen Frauen ringsum, die anhand der Miene erkannten, dass sie verloren hatten. Ab diesem Moment waren sie für den attraktiven neuen Barmann gar nicht mehr existent.

»Es ist spät«, sagte Nadja sanft. Die Polizeistunde schlug ohnehin gleich. Immerhin besaß der Pub eine Konzession bis Mitternacht, und vermutlich ging es danach hinter geschlossenen Türen weiterhin hoch her. Doch nicht für sie.

Um sie herum herrschte immer noch Stille. Nadja spürte Fabios Präsenz im Rücken, als er sich langsam näherte und weitere Menschen zum Abrücken brachte.

»Dann … wollen wir mal«, sagte David, der nicht mehr so recht zu sich zu finden schien, denn seine Bewegungen waren immer noch leicht fahrig. Er nickte dem Barmann und Marsha zu. »Ab jetzt übernehmt ihr wieder.« Damit verließ er unter Beifall seinen Platz hinter der Theke. Aus dem Nebenraum kam gerade Rian, mit den unsichtbaren Kobolden im Gefolge, und unter lauten Verabschiedungsrufen verließen sie alle den Pub und fanden sich in einer milden Nacht voller Sternglitzer und Vollmond wieder. Es war angenehm still, nur gelegentliche ferne Autogeräusche, und auf den Weiden wanderten grasende Pferde und Kühe, schwache Silhouetten im Mond- und Straßenlicht. Und das mitten im geschäftigen Europa.

»Hier gefällt’s mir«, stellte Pirx fest und tanzte die Straße entlang. »Es ist fast wie daheim, und die Menschen verstehen echt was von Musik!«

Auch der alte Grogoch wirkte bedeutend munterer als sonst und erzählte, dass er ähnliche Abende in den Schwarzbergen erlebt habe. Rian und Fabio gingen untergehakt und sangen von der steinigen Straße nach Dublin. David hatte den Arm um Nadjas Taille gelegt, halb an ihren leicht vorgewölbten Bauch, und wanderte still mit ihr dahin, sein Gesicht völlig entspannt und friedlich.

Das ist es, was wir brauchen, dachte Nadja. Zuversicht, Hoffnung.

Elfenzeit 5: Trugwandel

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