Читать книгу Elfenzeit 5: Trugwandel - Uschi Zietsch - Страница 12
4.
Nadja: Der Plan
ОглавлениеSeamus hatte Fabio bereits den Schlüssel zum Cottage gegeben, sodass sie nach dem Frühstück gleich umziehen konnten. Mrs O’Sullivan tischte reichhaltig auf, da blieben keine Wünsche offen, und Nadja und Rian gaben heimlich den beiden Kobolden etwas ab. Ihre Einlage im Pub gestern hatte sich schon herumgesprochen, und die Wirtin fragte sie lachend darüber aus. Sie bedauerte die Abreise der kleinen Gesellschaft und wünschte alles Gute.
Also fuhren sie als erstes zum Einkaufen, da sie sich von nun an wieder selbst versorgen mussten – was bedeutete, dass Grog sich um alles kümmerte –, und dann fanden sie tatsächlich in unmittelbarer Sichtweite von Newgrange, mit dem besten Panoramablick, das weiße, reetgedeckte Cottage mit der knallroten Tür und roten Fensterrahmen. Innen bot es allen erdenklichen modernen Komfort im ländlichen Baustil, geschmackvoll mit viel Holz, Rauputz und Polstermöbeln. Die Haustür führte unmittelbar in den Ess- und Wohnraum mit großem Kamin, daneben lag eine kleine Küche, dann Vorratskammer, Bad und die drei Schlafzimmer. Eines davon hatte eine eigene Dusche, das David und Nadja bekamen, die weiteren Zimmer nahmen Rian und Fabio. Die Kobolde hatten ausreichend Platz auf der Couch vor dem Kamin. Es gab auch einen Fernseher mit Streamingdiensten.
Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, und das Thermometer kletterte auf zwanzig Grad. Der Zaun von Newgrange lag etwa zwei Kilometer entfernt und konnte praktisch zu Fuß erreicht werden. Um zum Visitor Centre zu kommen, brauchten sie allerdings das Auto, weil sie das Gelände fünf Kilometer umfahren mussten. Vor Jahrzehnten war man direkt vor den Tumulus gefahren, doch das war längst nicht mehr möglich. Das Besucherzentrum lag auf der anderen Seite des Boyne, von dort aus mussten die Freunde über die Fußgängerbrücke gehen und am Parkplatz auf den Bus warten, der entsprechend dem farbigen Punkt auf ihren Shirts – Grün zur Abfahrt, Gelb zur Rückfahrt – zur Führung fahren würde. Man hatte sich genau an die vorgegebenen Zeiten zu halten, sonst müsse das Gelände wegen Überfüllung geschlossen werden. In der Hochsaison fanden sich bis zu dreitausend Besucher pro Tag ein. Weiter zu Fuß zu gehen, war nicht erlaubt.
Das Besucherzentrum war recht groß und innen von der Aufteilung teilweise dem Hügelgrab nachempfunden, und es ging lebhaft zu. Touristen aus allen Ländern drängelten sich an der Information und der Kasse und wollten so schnell wie möglich eine Führung. Nadja konnte mit ihrem Presseausweis eine Führung in zwei Stunden ergattern, andere hatten eine bedeutend längere Wartezeit – falls es überhaupt noch an diesem Tag klappte. David war erbost über die vergeudeten Stunden und wollte seinen Elfenzauber einsetzen, aber Nadja hielt ihn zurück: Sie konnten sich in aller Ruhe ein wenig auf dem Gelände umsehen und Fotos machen. Außerdem liebte sie es, durch irische Touristenshops zu stromern und nach Sachen zu suchen, die niemand brauchte, aber unwiderstehlich waren. Und natürlich Kladden und Stifte, schon allein in Erinnerung an Robert. Sie hätte ja an einen Abstecher auf die nah gelegene Isle of Man gedacht, aber ihr Freund war inzwischen abgereist, um einige Schauplätze seines Buches aufzusuchen und den Kapiteln den letzten Schliff zu geben.
Trotz Davids Ungeduld schlenderten sie anschließend gemütlich über die Brücke und schauten sich auf dem Gelände um. Nadja machte Aufnahmen mit ihrem Handy; dann hatte sie eine Idee.
»Pirx, Grog – könnt ihr Gegenstände auch unsichtbar werden lassen, die ihr bei euch tragt?«
»Wenn sie nicht zu groß sind, klar«, antwortete der Pixie.
»Gut. Einer von euch wird mit Fabios Handy fotografieren, der andere mit meinem Handy filmen. Es ist nämlich verboten, innen Bilder zu machen.«
»Hoffentlich kann ich das«, murmelte Grog.
»Ich zeige es euch, ist gar nicht schwer«, versicherte Nadja.
»Und wie willst du das mit der Belichtung machen?«, fragte Rian.
»Wir stellen auf Nachtmodus und schalten den Blitz aus. Versuchen können wir es ja. Grog, du übernimmst das Filmen, denn wir brauchen eine ruhige Hand.«
»Aber ich …«, setzte Pirx an und hüpfte mit ausgestreckten Ärmchen auf und ab, um ihr Smartphone zu ergattern.
»Siehst du?«, sagte Nadja. »Du bist ein Zappelphilipp, das geht nicht. Du verwackelst den gesamten Film. Lieber ein paar Wackelfotos, das meiste kann die Kamerafunktion ausgleichen.«
»Fotos machen sowieso mehr Spaß«, maulte der Pixie.
Der Wartebereich war als Park angelegt, mit einem Teich voller Seerosen, auf deren Blättern Teichhühner herumstaksten. Bisher fiel den Freunden nichts Sonderbares auf; wenn die Helfer des Getreuen hier irgendwo waren, so zeigten sie sich nicht.
Schließlich konnten sie mit allen anderen aus ihrer Gruppe in den Bus einsteigen und wurden den knappen Kilometer an den Megalithbau herangekarrt, wo der Guide schon wartete. Das Gebiet rings um den Tumulus war sanft hügelig und mit typisch irischem knallgrünem Gras bewachsen, das wie englischer Rasen kurz gehalten wurde. Vereinzelt standen Menhire herum, und ein großes Informationsschild mit schwarz-weiß Fotos von Ausgrabungen war aufgestellt. In etwa zweihundert Metern Entfernung begann ein Heckenzaun, hinter dem Schafe grasten, und dahinter öffnete sich bewaldetes Weideland, wie nahezu überall in Parzellen mit Stein- und Heckenzäunen aufgeteilt.
Die Zwillinge betrachteten den uralten Bau staunend, und auch Fabio zeigte sich beeindruckt. »Mal was anderes als Venedig, nicht wahr?«, flüsterte Nadja ihm schmunzelnd zu.
Pirx und Grog waren schon unterwegs, um die Aufnahmen zu machen, bevor der Tumulus voller drängelnder Menschen war.
»Was ist das?«, fragte David und deutete auf ein kleines Nebengebäude ganz aus Stein, rund und mit einem niedrigen, schnabelartigen Anbau.
»Man vermutet, dass es sich um ein Observatorium handelte, misst ihm aber keine besondere Bedeutung bei«, antwortete Nadja. »Man kann hineingehen, findet aber nur Hinterlassenschaften der Touristen, mit den üblichen Herzchen, Zoten und dergleichen, und jede Menge Abfall.«
David näherte sich ein Stück und schloss halb die Augen. Er streckte den linken Arm aus. »Sie sind dort …«, wisperte er. »Sie haben einen Bann darum gelegt, dass niemand Lust verspürt, dorthin zu gehen.«
Rian kam an seine Seite. »Auch er?«
»Ich kann ihn nicht spüren. Du?«
»Nein. Seine Präsenz kann man aber nicht übersehen. Wahrscheinlich ist er nicht da …«
»Aber wo steckt er dann?«, brummte Fabio. »Wozu diese Zeitverzögerung? Oder bereitet er sich anderswo vor?« Er sah sich kritisch um. »Wisst ihr, was hier fehlt?«
Die Zwillinge sahen ihn ratlos an, aber Nadja begriff sofort. »Es verläuft keine Ley-Linie!«
»Aber trotzdem kann man Magie spüren …«
Fabio nickte. »Nun wäre es doch besser gewesen, Julia wäre mitgekommen. Dieser Grabhügel hat Verbindung zur Geisterwelt! Damit ist das Zeitgrab umso bedeutungsvoller …«
»Die Führung fängt an«, unterbrach Nadja. »Kommt.«
Sie folgten der Gruppe an dem imposanten, wunderschön verzierten Eingangsstein vorbei über die Brückenstiege ins Innere. Der von Menhiren gesäumte Gang war sehr schmal, und die Trockenheit darin war sofort auffällig. Eine matte Beleuchtung sorgte für entsprechendes Schattenspiel, ein Vorankommen war fast nur geduckt und im Gänsemarsch möglich.
»Gefällt mir«, murmelte David.
»Entspricht irgendwie dem Stil unseres Vaters«, wisperte Rian. »Aber ob er eine besondere Verbindung zur Geisterwelt hat, weiß ich nicht.«
»Was wissen wir denn schon über Fanmór.«
Nadja zischte leise, weil die Führerin vorn zu reden anfing, und sie hörten aufmerksam zu.
»Der gesamte Grabhügel erstreckt sich über eine Fläche von etwa einem halben Hektar und ist damit der größte bekannte Megalithbau. Er ist elf Meter hoch, sein Durchmesser zählt bis zu fünfundachtzig Meter. Einstmals wurde er von siebenundneunzig Steinen eingefasst, von denen heute nur noch wenige erhalten sind. Der eindrucksvollste steht vorn am Eingang.« Der Rest deckte sich mit dem, was Nadja schon erzählt hatte, und sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Strömungen innerhalb des Tumulus und tasteten das knochentrockene, kunstvoll aufgeschichtete Gestein ab. In der Hauptkammer verteilten sich die Besucher. Ab und zu blitzte die Stirnlampe der Führerin zwischen den hin- und herschwankenden Leibern hindurch. Nacheinander betrachtete Nadja die drei Ausbuchtungen, die effektvoll ausgeleuchtet waren. Mit ein wenig Verbiegung konnte sie weitere Steinmuster ausmachen, sowie Rückstände von Rauchentwicklung. Der Altar in der Mitte war kaum mehr als solcher erkennbar, auf dem die Leichname wohl verbrannt worden waren. Es konnte sich nur um hochgestellte Persönlichkeiten gehandelt haben, und Nadja hätte darüber gern ein wenig spekuliert und fantasiert. Leider hatte ihr Vater hierzu keine Erzählung, allerdings war er bei weitem nicht so alt wie dieses Bauwerk. Und warum kreuzförmig, dachte sie bei sich. Drei Kammern …
Denk an die Trinität, wisperte es in ihr, eine ferne Stimme. Dunkel erinnerte sie sich, was Morgana zu ihr gesagt hatte, doch dann war es auch schon wieder verschwunden. Sie konnte nichts damit anfangen, nur ein weiteres Rätsel mehr. Im Moment mochte das keine Rolle spielen.
Behutsam tastete sie die Steine ab, blickte zu dem Kraggewölbe hoch. Der Winkel sei derselbe wie bei den Pyramiden, erklärte die Führerin, deswegen wäre hier drin der Alterungsprozess genauso verlangsamt. Ein mehr als achtzig Tonnen schwerer Stein verschloss die Decke, der seit dem Aufsetzen niemals wieder bewegt worden war. Wie ist er überhaupt dort hinaufgekommen?, fragte sich Nadja. Hatte Fanmór ihn auf seine Schultern geladen und ein weiterer Riese ihn aufgesetzt?
Der Stein fühlte sich durch die Trockenheit unwirklich an. Der Getreue konnte nicht hier gewesen sein, seine Kälte hätte sich sofort niedergeschlagen und die erste Feuchtigkeit seit fünftausend Jahren verursacht. Vielleicht hatte er den Gang aus genau diesem Grund noch nicht betreten, um seine Anwesenheit nicht vorzeitig zu verraten, und tüftelte an einem Plan. Oder sammelte seine Kräfte.
Wie es aussah, hatten sie noch Zeit. Die Zwillinge flüsterten miteinander, schüttelten die Köpfe und hoben die Schultern. Sie spürten also nichts Besonderes und hatten keine Ahnung, in welcher Kammer sich das Zeitgrab befand. Ihr Vater stupste sie sacht an, neigte sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Das Portal zur Geisterwelt ist geschlossen – und zwar so gut, dass ich es nicht finden kann. Das muss schon vor langer Zeit geschehen sein.«
»Wahrscheinlich, als auch das Zeitgrab versiegelt wurde«, raunte Nadja zurück. »Warum haben sie es überhaupt angelegt, wenn es so gefährlich ist?«
»Viele Dinge der Anderswelt gibt es genau aus diesem Grund, Nadja. Weil sie möglich sind, und weil irgendwann irgendjemand darauf Anspruch erhebt und die Magie nutzen will.«
»Sehr … äh … logisch.«
»Niemand behauptet, dass die Magie logisch im menschlichen Sinne wäre. Sie folgt eigenen Gesetzen. Vielleicht war das Zeitgrab gar nicht beabsichtigt gewesen, sondern wurde versehentlich geöffnet und konnte rechtzeitig versiegelt werden.«
»Nicht vernichtet?«
»Solche Dinge kann man nicht vernichten, genauso wenig wie die Knotenpunkte. Sie sind Bestandteil der materiellen wie spirituellen Erdsphäre.«
Nadja konnte jedenfalls nichts Ungewöhnliches feststellen – außer, wie faszinierend dieser erhabene Ort war, und wie einzigartig. Erneut ließ sie die besondere Stimmung auf sich einwirken. Newgrange gehörte zu ihren absoluten Favoriten der mystischen Wunderbauten. Wie gern hätte sie gewusst, wer hier einst gelebt und das Monument erbaut hatte – und für wen.
Nun bat die Führerin, sich ruhig zu verhalten und nicht in Panik zu geraten, da sie gleich das Licht ausschalten würde. Alle wandten den Blick den Gang zurück, nach Osten. Dann wurde es stockdunkel, aber nur für einen kurzen Moment. Ein Licht, das den Sonnenstand bei Wintersonnenwende simulierte, wurde eingeschaltet und schickte durch die obere Luke beim Eingang einen dünnen Lichtstrahl, der die rund zwanzig Meter den Gang hindurch zielsicher auf den Altar der Hauptkammer traf. Hauchfeiner Staub tanzte im Licht, doch nur für dreißig Sekunden, dann versiegte der Strahl, und die normale Beleuchtung kehrte zurück.
Als Nadja sich in diesem sekundenkurzen Moment, bevor der Schein erlosch und die Beleuchtung wieder anging, umdrehte, sah sie die Augen der Elfen wie Amethyste leuchten, und einen schwach glühenden Punkt auf Davids Brust. Ihre Körper waren von einer dünnen, schimmernden Aura umgeben. Schmale, hohe, perfekt gezeichnete Silhouetten von ätherischer Schönheit. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, zum Teil aus Ergriffenheit, zum Teil aus Schrecken, wie deutlich ihre Freunde als Fremdwesen erkennbar waren. Noch immer musste es hier eine magische Strömung geben, auch wenn sie nicht ersichtlich war, sonst wäre es niemals möglich gewesen, die Elfen gegen ihren Willen zu offenbaren. Wahrscheinlich war es ihnen nicht einmal bewusst. Doch der Spuk war sofort wieder vorbei, sobald der Strahl ausgeschaltet war. Und das war nur eine simulierte Sonne gewesen! Wie hätten die beiden wohl im echten Sonnenlicht ausgesehen?
»Gehen wir«, sagte Fabio leise und ergriff ihre Hand. »Schnell.«
»Hast du es auch gesehen?«, fragte sie, während er sie durch den Gang voranschob.
»Natürlich habe ich es gesehen, ein Feuerwerk hätte nicht offensichtlicher sein können. Vermutlich war ich auch nicht ganz unsichtbar. Immerhin wissen wir jetzt eines: Außer uns war kein weiterer Elf hier anwesend, ich habe mich genau umgesehen. Und ich denke, ich kenne jetzt das Problem des Getreuen, und ich habe eine Idee, wie wir ihn aufhalten.«
Draußen brach Nadja als Erstes der Schweiß aus, als sie in die warme, feuchte Luft kam. Vorhin musste es einen Regenschauer gegeben haben, denn Wege und Gras glitzerten nass, doch die Verursacher dafür waren bereits geflohen, kein Wölkchen trübte mehr den blauen Himmel. Im Ganggrab war es kühl und so trocken gewesen, dass man sich anschließend hier draußen vorkam wie in den Tropen.
Pirx und Grog warteten an der Seite und verhielten sich erstaunlich still. Nacheinander strömten die Leute an Nadja und Fabio vorbei und gingen munter schwatzend zum bereits wartenden Bus. Ein paar blieben noch einmal stehen und knipsten letzte Fotos. Nadja beobachtete einen Mann, der auf das Observatorium zusteuerte, dann abrupt verharrte, ein wenig verwirrt um sich blickte und wieder umkehrte. Er schoss nicht einmal ein Bild. Der Bann wirkte gut.
Den Wortfetzen der anderen Besucher entnahm Nadja nichts Besonderes, sie unterhielten sich über das Grabmal, die Sache mit dem Licht, und dergleichen. Nur ein oder zwei schienen das Aufleuchten der Elfen ungewöhnlich empfunden zu haben, aber ihre Begleiter schoben es auf Lichteffekte in der Kleidung und winkten ab. Damit war es schon erledigt. Nadja war erleichtert; wenngleich sie vermutete, dass sie ohne ihr Vorwissen genauso reagiert hätte. Wenn man nicht mit der Nase draufgestoßen wurde, übersah man die Magie um sich herum, weil sie als nicht existent angesehen wurde. Erst, wenn man von der anderen Welt wusste, nahm man sie auch wahr.
Schließlich trafen Rian und David ein, ungewöhnlich blass um die Nase und vor allem ungewöhnlich schweigsam.
Nadja sagte nichts, denn sie mussten mit dem Bus zurück. Sie machte noch ein paar touristische Abschiedsfotos mit ihren Freunden und dem Vater, weil sich das so gehörte, und stieg dann ein.
Als sie auf dem Parkplatz ankamen, ging es schon auf Mittag zu, und es wurde Zeit fürs Essen. Nadja war halb verhungert und bat, während sie sich in den Rover quetschten, um einen Zwischenhalt in einem Inn. »In Ordnung«, sagte Fabio, der wieder das Steuer übernahm. »Ich kann auch was vertragen.«
Als die Türen geschlossen waren und der Motor lief, drehte Nadja, die vorn neben ihrem Vater saß, sich um. »Was ist da drin passiert, und zwar mit euch allen?«
Betreten blickten die Elfen irgendwohin, nur nicht zu ihr.
»Raus mit der Sprache!«, verlangte sie nachdrücklich. Sie sah David fest an, dem nichts anderes übrigblieb, als zu antworten.
»Es ist dieses verdammte Licht«, murmelte er. »Wir haben … was wir gesehen haben …« Das war schon alles. Er wollte nicht darüber reden, und die anderen ebenfalls nicht.
Nadja sah Fabio bittend an. »Papa?«
»Schon gut, Fiorellina«, brummte er. »Es ist … eine sehr intime Sache, die Wahrheit zu sehen. Darüber kann man nicht so einfach sprechen. Nicht nur, weil es peinlich ist, sondern … eben intim. Noch schlimmer, als wenn du im Traum nackt oder nur mit Unterhose bekleidet auf die Bühne gehst, um vor tausend schick gekleideten und bedeutenden Leuten eine Rede zu halten oder einen Preis entgegenzunehmen.«
»Oh«, machte sie. »Ich verstehe … glaube ich. Tut mir leid.« Sie drehte sich wieder nach vorn und entschloss sich, darüber hinwegzugehen und so zu tun, als wäre alles wie immer. Es war sowieso wichtiger, nach einem Inn oder wenigstens Pub Ausschau zu halten. Kurz darauf entdeckte Fabio das Red Parrot Inn an einer Straßenkreuzung und fuhr auf den gut besetzten Parkplatz – das war schon mal kein schlechtes Zeichen.
Während des Essens wurden die Elfen zusehends munterer und hatten ihren Schock bald überwunden. Rian flirtete mit dem hübschen Kellner, und Fabio erzählte einen Schwank aus seiner Jugend. Satt und zufrieden kehrten sie ins Cottage zurück und machten sich an die Auswertung der Fotos und Filmaufnahmen. Nadja werkelte eine Weile an ihrem Notebook, bis sie alles übertragen und so zusammengestellt hatte, dass sie an den Fernseher anschließen und die »Show« starten konnte. Fehlte nur noch die Titelei, meinte sie.
Pirx und Grog waren ein wenig nervös, aber die Aufnahmen waren weitgehend gelungen; reines Anfängerglück, wie David bemerkte.
Aufmerksam sahen sie alles an, zuerst ohne Kommentare, dann noch einmal, mit Stop-and-Go. Und noch einmal. Schließlich in Zeitlupe.
Nadja staunte, was die Digitaltechnik alles herausholte. Tatsächlich konnte sie, was ihr früher nie aufgefallen wäre, Schlieren feststellen, die sich in bestimmten, sehr gleichmäßigen Sinuswellen durch den Gang zogen. Ab und zu gab es kleine Lichtblitze, die bei genauem Hinsehen an diesen Stellen unmöglich Reflexionen waren. All dies hätte sie sonst für Unschärfe und Fehleinstellungen gehalten.
»Ich habe gar nichts gespürt …«, stellte sie fest. »Aber dieses ganze Bauwerk ist ja nur so aufgeladen! Kein Wunder, dass euch das mitgenommen hat.«
Inzwischen konnten die Elfen schon wieder darüber lachen.
»Es war eine ganz neue Erfahrung«, gestand Rian. »Mit der Geisterwelt war ich noch nie so in Berührung, und David auch nicht. Wir sind zwar damals durch den Ursumpf zu dir gegangen, aber das war etwas anderes.«
Diesen Weg kannte Nadja, und es schüttelte sie noch einmal im Nachhinein.
Nun war die Hauptkammer an der Reihe, Bild für Bild genau betrachtet zu werden. »Da!«, rief Fabio plötzlich, deutete aufgeregt und sprang auf. »Da ist es!« Er ging an den Bildschirm und tippte mit der Fingerkuppe auf die mittlere Grabbucht hinter dem Altar. Und tatsächlich, als er es nachzeichnete, wurden hauchfein leuchtende Linien sichtbar, die wie normale Lichtreflexe aussahen. Doch ein ähnliches Muster fand sich auch auf dem Altar und noch einmal an der Wand dahinter. »Ich hatte Recht! Sie haben gewusst, was sie geöffnet hatten, und haben es aktiv versiegelt. Dann haben sie die Energie aus diesem Ort für sich bezogen und ihre Höchsten hier begraben, bis sie irgendwann das Land verließen … aus welchem Grund auch immer.«
Das Volk hatte keine weiteren Spuren hinterlassen, es war auf einmal da gewesen und wieder verschwunden, ohne dass nur annähernd darüber zu spekulieren war, wie es ausgesehen und gelebt hatte. Eine rätselhafte Hochkultur mehr …
»Vielleicht gab es einen Krieg«, vermutete Nadja.
»Es gab immer einen Krieg«, versetzte ihr Vater. »Wahrscheinlich kam es damals zum ersten Bruch der Welten, und nur das Siegel zeugt noch vom ehemaligen Bund.«
Rian ging in die Küche, holte Chips und Schokolade. »Also schön, darüber können wir lange philosophieren. Aber konzentrieren wir uns jetzt lieber auf das, weswegen wir hier sind. Deine scharfen Augen haben uns dem Ziel einen Schritt näher gebracht, alter Mann.« Sie zwinkerte. »Was jetzt?«
Fabio zog die linke Augenbraue hoch und schien zu überlegen, was er ihr antworten sollte, dann fiel sein Blick auf den Ehering an seiner Hand, und er schluckte es hinunter.
»Der Getreue hat mit dem Wahrheitseffekt genauso zu kämpfen wie … äh, wir«, setzte er an. »Er kann nicht einfach reingehen, Magie einsetzen und das Siegel aufbrechen. Die Erbauer damals haben genau gewusst, was sie taten. Auch ohne den Lichtstrahl kann es jeder spüren, wie er sich entblößt und alles … hmmm, egal.« Er stopfte sich eilig eine Handvoll Chips in den Mund.
»Das wiederum spricht dafür, dass nur die Menschen daran beteiligt waren«, meinte David. »Fanmór hätte das niemals so zugelassen.«
»Und da hätte er ausnahmsweise mal recht gehabt!«, piepste Pirx.
Grog nickte bedächtig. »Zum Glück waren wir vor eurer Gruppe drin. Wir wären voll aufgeflogen.«
»Doch es gereicht uns jetzt zum Vorteil, weil es unseren Feind aufhält und uns Zeit gibt, eine Falle zu bauen«, fuhr Fabio fort. »Ich nehme an, er hat seine Helfer auch schon hineingeschickt, die ihm vielleicht ebenso Aufnahmen gemacht haben, damit er sein Ziel avisieren kann. Der Getreue ist kein Elf, aber durchaus den Gesetzen der Anderswelt unterworfen. Trotz seiner Verbindung zur Geisterwelt kann nicht einmal er den Offenbarungszauber einfach umgehen. Vermutlich würde sogar Morgana hier scheitern. Wer auch immer die Idee damals hatte, er war ein Genie. Nicht zuletzt deshalb ist das Zeitgrab so lange unberührt geblieben. Unser ungeliebter Freund wird sich jetzt eine Strategie zurechtlegen, wie er hineingeht, das Siegel bricht und dann den Öffnungszauber wirkt. Es muss schnell gehen, denn andernfalls kann es ihm passieren, dass ihm alle Kräfte abgesaugt werden. Und genau da setzen wir an.«
Pirx’ Augen leuchteten auf. »Könnte ihn das umbringen? Vernichten? Auflösen?«
»Schon möglich. Zumindest würde es ihn für eine ganze Weile außer Gefecht setzen, und seine geschätzte Königin müsste ohne ihn auskommen. Das wäre dann Fanmórs Gelegenheit, zuzuschlagen.« Fabio hatte sich ganz in das Thema hineingefunden, und Nadja dachte bei sich, wie dankbar der Herrscher der Crain sein sollte, dass dieser menschgewordene Elf immer noch zur Unterstützung bereit war, nach allem, was man ihm angetan hatte.
Die Elfen sahen ihn gespannt an, und auch Nadja war neugierig, was ihr Vater sich hatte einfallen lassen.
Fabio musterte sie der Reihe nach und seufzte dann. »Aber Kinder, das ist doch völlig offensichtlich!«
Der alte Grogoch grinste plötzlich breit, und die Spitze seiner Kartoffelnase zitterte. »Wenn ein Effekt gut funktioniert – verstärke ihn!«
»Richtig, mein kluger haariger Freund«, schmunzelte Fabio. »Wir werden morgen nach Dublin fahren und Spiegel kaufen, die in Eisen gefasst sind. In Antiquitätenläden und Galerien dürfte das kein Problem sein, und wenn doch, werden wir uns eben Nägel und Eisendrähte besorgen und die Spiegelfassungen damit präparieren. Es soll ja kein Kunstwerk werden, sondern eine Waffe. In jedem Fall kriegen wir in Blei gefasste antike Spiegel, und das ist schon mal eine gute Basis.«
Nadja begriff. »Du willst die Spiegel in der Kammer aufstellen, denn sie verstärken den Wahrheitszauber und brechen zugleich die Magie!«
»Huuu!« Pirx schüttelte es. »Das ist ein garstiger Plan! Verachtenswert! So was kann nur einem Menschen einfallen!« Seine schwarze Knopfnase kräuselte sich vor Ekel. »Könnte klappen! Aber wer soll das machen?«
»Nadja und ich«, antwortete Fabio. »Und ihr werdet euch derweil draußen zusammentun und einen Elfenzauber wirken, der die Augen täuscht, sobald Menschen die Kammer betreten, und die Spiegel für sie quasi unsichtbar macht. Außerdem könntet ihr eine weitere Sperre aufbauen. Alles, was den Getreuen Zeit und Kraft kostet, ist von Vorteil.«
»Teuflisch«, befand David. »Du bist dem Getreuen ein ebenbürtiger Gegenspieler und schon fast so grausam wie er.« Er zog sein Kurzschwert, das er immer in einer magischen Falte verborgen am Körper trug. »Ich ziehe den offenen, ehrlichen Kampf vor.«
Rian stieß ihn lachend in die Seite. »Natürlich würde nie ein Elf auf so einen Plan kommen, der in der Tat abscheulich ist. Dein Heroismus und Edelmut in Ehren, Bruder, aber genau das ist es doch, womit der Getreue rechnet.« Ihre Augen funkelten, als sie Fabio bewundernd ansah. »Aber damit nicht, nie im Leben.«
»Danke für die Blumen, aber ich bin da nicht so ganz sicher«, erwiderte der Venezianer. »Nach meiner Aktion mit dem Haus auf Sizilien wird er vorsichtiger geworden sein. Deswegen werden wir in die Sperre beim Eingang eine kleine Falle einbauen. Ihr erinnert euch sicher noch an eure Kinderstreiche, mit denen ihr Brückenzoll erheben wolltet und dergleichen mehr. Setzt so einen ein, das wird ihn erst mal aus dem Konzept bringen und ablenken.« Er nickte Nadja zu. »Was macht einen guten Zauberer aus?«
»Die Fähigkeit zur Ablenkung«, sagte sie. »Ja, ich glaube auch, das könnte funktionieren.«