Читать книгу Elfenzeit 5: Trugwandel - Uschi Zietsch - Страница 13
5.
Der Getreue: Versuchungen
ОглавлениеZuerst durchstöberte der Getreue das Schlafgemach von Bandorchu, um einen Ansatzpunkt zu finden, wonach er suchen musste.
Nach einer Weile fiel ihm auf, dass etwas fehlte. Das Hündchen. Erstaunt fand er die leeren Ketten, doch von dem Menschen mit der gestohlenen Zeit keine Spur mehr. Wie war das denn möglich? Sollte der Gefangene etwa …
Der Verhüllte ließ erneut den Aurenseher kommen, der ihm präzise beschrieb, wie Bandorchus Hündchen zuerst die Seele entrissen wurde und wie es sich dann befreit hatte. Seine Spur führte anschließend zur verbotenen Kammer.
»Du kannst gehen«, sagte der Getreue. »Die restlichen Spuren werde ich finden, nun, nachdem ich weiß, wo ich suchen muss.« Unbemerkt hatte er dem Aurenseher magische Energie abgezapft und machte sich diese zunutze, um den Entflohenen weiter zu verfolgen. Der Aurenseher war viel zu schwach, um sich darüber zu beschweren, er musste von zwei Helfern hinausgeschleift werden. So schnell war er nicht wieder zu gebrauchen.
Das Hündchen hatte die Tür geöffnet und war dann zielstrebig zum Portal gegangen … und hindurch.
Verblüfft trat der Getreue ein Stück auf den Weg zwischen den Welten, und tatsächlich, da waren die Fußspuren, und das letzte geflüsterte Wort des Mannes hing noch in der Sphäre: Cagliostro. Der Getreue konnte es deutlich wahrnehmen, wenngleich die dafür benötigte gestohlene Energie rasch erlosch.
Zuerst zornerfüllt, lachte der Getreue plötzlich. »Arme Menschen!«, rief er aus. »Ich möchte nicht an eurer Stelle sein, wenn dieser wahnsinnige Untote euch heimsucht!« Das war tatsächlich überraschend: Ein echter menschlicher Zauberer, und untot dazu! So etwas war zum letzten Mal vor … mindestens fünfzehnhundert Jahren vorgekommen. Vielleicht war es geschehen, während der Getreue den Stab gesetzt und der magische Schock alle Welten erschüttert hatte. Jedenfalls war Cagliostro frei, und wie es aussah, hatte er die Menschenwelt unbeschadet erreicht und sich umgehend aus dem Staub gemacht. Nun gut, sollte er sein Unwesen treiben, auf die eine oder andere Weise könnte er sich später noch als nützlich erweisen. Bis dahin sollte er seinen Spaß haben.
Nach weiteren intensiven Bemühungen fand der Getreue heraus, dass die Königin sich hierher zurückzogen hatte, nachdem sie zuletzt Cagliostros Seele getrunken hatte, und dann geschah alles gleichzeitig. Das einzelne Geschehnis war kaum zu erkennen, genau wie der Aurenseher das erste Mal berichtet hatte. Sie hatte das Portal geöffnet … aber warum hatte sie dann nicht auf ihn gewartet? Warum war sie gegangen? Oder war es ihre Absicht gewesen? Aber weshalb sollte sie sich vor ihrem Vertrauten und Liebhaber verbergen wollen, der ihr den Weg zur Macht bereitete und ihr treu ergeben war? Er verstand es einfach nicht. Doch jetzt war es gewiss: Er hatte keine Möglichkeit, sie zu finden. Er hätte sich all die Wege durch die Menschenwelt sparen können, sie war durch das Portal gegangen, aber nie auf der anderen Seite angekommen.
Verdammt! Der Getreue schlug gegen die Wand, riss ein Loch hinein, dann stürmte er durch das Schlafgemach auf den Gang hinaus, bog gleich bei der ersten Möglichkeit nach rechts ab und rannte die Treppe hinunter, die zum Verlies führte.
Diese Treppe ging mitten durch die Felsen, die Basis des Schlosses. Gebildet aus Elfen, die sich selbst aufgegeben hatten und versteinert waren, denn das Schattenland bot keine natürlichen Felsen. Das Stöhnen und Seufzen rings um ihn beruhigte den aufgebrachten Getreuen etwas. Diese Versteinerten hatten nichts anderes verdient, es war genau das, was tief in ihnen verborgen lag. Statt zu jammern sollten sie vielmehr dankbar sein, dass sie das Fundament für dieses einzigartige Bauwerk bilden durften, das die Dunkle Königin aus dem Nichts erschaffen hatte. Auch die Versteinerten waren nicht mehr dem erbarmungslosen Licht, den schwarzen Wolken und dem Spiegelboden ausgesetzt. Sie konnten sich ungestört ihrem Leid hingeben, in dem sie sich so gern suhlten. Freie Wahl.
Das Gestein war porös, schrundig und kantig. Ab und zu konnte man das Abbild des ursprünglichen Geschöpfes darin erkennen, wie es anklagend herausblickte. Es wurde immer dunkler, je tiefer der Getreue hinabstieg, die steinerne Treppe wand sich in engen Biegungen. Schließlich erreichte er den Kerker durch einen von Fackeln erhellten Gang, der feucht und muffig roch. Knorrige, verkrümmte, verstümmelte Hände, Pfoten und Tentakel streckten sich durch die Gitter, als er an den Verliesen vorbeiging, Gefangene flehten um Vergebung und Befreiung. Doch der Mann ohne Schatten suchte ein bestimmtes Ziel, am Ende des Gangs, in einer Ausbuchtung, ohne Gitter.
Dort hing in eisenverstärkten Ketten, alle vier Gliedmaßen gespannt, Alebin.
Der Kopf des Elfen hing nach unten, die verklebten, strähnigen Haare hingen wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Der halbnackte Körper war zerschunden von Peitschen, Stockhieben, Brandwunden und Messerstichen. Er atmete kaum. Doch als er den Getreuen nahen fühlte, hob Alebin langsam den Kopf, die Haare fielen zur Seite und gaben den Blick auf sein eingefallenes Gesicht frei. Schorf, noch nicht ganz verheilte Blutergüsse und Schnittwunden hatten Alebin gezeichnet, doch in seine hellen Augen kehrte augenblicklich das Leben zurück.
»Du brennst«, stellte er schadenfroh fest. »Machst es wohl nicht mehr lange.«
»Lange genug, um dir ausdauernde Pein zu bereiten«, knurrte der Getreue und schlug mit der Faust zu.
Die ohnehin geschwollene Oberlippe platzte auf, Blut floss aus der frischen Wunde, und Alebin spuckte einen der letzten Zähne aus, die ihm noch verblieben waren.
»Oh, sind wir heute etwa schlecht gelaunt?«
Eines musste man diesem Mann lassen: Er hatte Mumm. Kein einziges Mal hatte er darum gebettelt, dass die Folter enden sollte. Gewiss erholte er sich jedes Mal wieder. Das Tabu verhinderte, dass er starb. Er gesundete, egal was der Getreue ihm antat. Damit bot er sozusagen endlose Möglichkeiten, immer neue Variationen des Schmerzes an ihm auszuprobieren.
Doch heute war der Getreue nicht zu Experimenten aufgelegt, er wollte einfach nur jemandem Qualen zufügen, um seine Wut und Frustration abzureagieren. Er griff zur Peitsche und schlug damit auf Alebin ein, bis dessen Körper nur noch ein blutiger Klumpen Fleisch war. Der Elf brüllte seinen Schmerz hinaus, aber er flehte nach wie vor nicht um Gnade. Hass und Bosheit in ihm waren stärker als alles andere, unüberwindlich. Er konnte nicht gebrochen werden, niemals.
Irgendwann, als der Getreue sich etwas beruhigt hatte, bewegte er die Lippen und stieß durch platzende Blutbläschen hervor: »Sag mal, was hast du eigentlich gegen mich? Das nimmt ja nie ein Ende!«
»Du hast Rhiannon getötet und damit einen Königsmord begangen«, grollte der Getreue. »Du hast meine Befehle missachtet und Hochverrat an der Königin verübt. Und nicht nur an ihr, du hast dein ganzes Volk verraten …«
»Das ist alles?«, tat Alebin erstaunt. »Ich meine, ich wusste ja schon immer, was für ein sadistischer Miesepeter du bist, aber dass du deswegen einen Dauerausraster kriegst, ist schon ein wenig übertrieben, findest du nicht?« Sein Kopf ruckte zur Seite, als der Getreue ihm den zweiten Fausthieb versetzte – mit gebremster Kraft, sonst hätte er ihm das Genick wie einen trockenen Zweig gebrochen.
»Es ist schlimmer als alles«, zischte der Getreue.
»Das glaube ich nicht. Du bist doch sonst immer recht kontrolliert, und wenn es dich nach körperlicher Verausgabung gelüstet, hast du ganz andere, viel bessere Möglichkeiten, dich zu entfalten … oh, aber warte mal, da wir beim Thema sind – da fällt mir was ein, was ich ja noch getan habe: Ich habe Nadja Oreso gevögelt. Und wie ich das getan habe!« Er schrie gleichzeitig lachend auf, als der Schlag diesmal von der anderen Seite kam und ihm die Nase zum wiederholten Mal brach. Sein magerer Körper wurde von Gelächter geschüttelt, als er sah, dass er den Getreuen außer Fassung gebracht hatte.
»Darum geht es hier doch wirklich, oder? Ja, Leidenschaft, die einzig wahre Herrscherin, die stets im Verborgenen lauert, sie ist allen Lebewesen zueigen, ohne Ausnahme«, kicherte der Geschundene. »Wir alle sind ihr unterworfen und ausgeliefert, selbst du. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Mich hat das Mischblut rangelassen – nicht dich!«
Der Getreue hielt inne, die Faust erhoben. »Was?«
»Mann, wirklich jeder weiß, was du von ihr willst! Aber du wirst es nie kriegen … doch tröste dich, du kannst noch in den Genuss aus zweiter Hand kommen. Soll ich es dir erzählen? Oder warte, ich kann dir helfen, wie du bei ihr landen kannst. Ich weiß genau, was sie will …«
Der Hieb saß diesmal mitten im Gesicht und brachte Alebin für eine Weile zum Verstummen. Der Getreue wischte das Blut vom Handschuh ab, säuberte die Peitsche und hängte sie ordentlich auf. Er hatte sich wieder in der Gewalt. In Alebin war fast kein Leben mehr, der Boden schwamm in Blut. Warum verlangte er auch immer wieder danach, forderte es heraus …
»Du wirst ihr nie mehr nahekommen«, sagte er ruhig. »Genieße die Erinnerung und sei dir bewusst, dass sie auf deinen Leichnam spucken wird.« Er wandte sich scheinbar zum Gehen, hielt jedoch in der halben Drehung inne. »Ach, und eines sollst du erfahren: Nicht dein Samen ist auf fruchtbaren Boden gefallen.«
Alebin blinzelte und hörte auf zu kichern. »Woher willst du das wissen?«
»Jeder weiß es inzwischen, denn Odin selbst hat es gemeinhin offenbart: Dafydd ist der Vater, und das Kind steht unter dem Schutz des Throns der Crain. Es ist der Sohn des Frühlingszwielichts, und solange er in Nadja Oresos Leib heranwächst, ist auch sie geschützt. Du wirst deine Drecksklauen nie wieder an sie legen.«
Für einen Moment war Alebin zutiefst betroffen, und der kleine Finger seiner linken Hand versteinerte, als er an sich selbst zu zweifeln begann. Doch er fing sich schnell wieder.
»Und wenn schon!«, rief er, und mit einem hellen Ping zerbarst der steinerne Auswuchs, und ein noch sehr roh glänzender, frischer, fleischiger kleiner Finger zeigte sich darunter. »Ich bin Darby O’Gill, der rote Schotte. Ich überlebe euch alle! Und wenn ich erst mit euch fertig bin, gehören die Welten mir!«
»Nicht einmal in deinen kühnsten Träumen«, versetzte der Getreue und war sicher, dass Alebin endgültig übergeschnappt war. Er hatte die Qualen nicht mehr ertragen und war dem Wahnsinn anheimgefallen. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zurück, hielt aber inne, als Alebin ihm etwas hinterherrief.
»Eines noch zu deiner Königin, du großer Fährtensucher!«
»Fasse dich kurz.«
»Och, wieso denn? Ich bekomme so selten Besuch in letzter Zeit.«
»Wenn du mich nur aufhalten willst …«
»Nein, ich meine damit, dass ich sehr viel Zeit zum Nachdenken habe. Ich habe natürlich die Aufregung oben mitbekommen, wie du sie alle herumgescheucht hast, um die Königin zu suchen.«
»Komm auf den Punkt!«, mahnte der Getreue und wandte sich ihm zu. »Sonst ist heute noch deine Zunge dran.«
Alebin kicherte wieder. »Du bist wirklich ein Schlaukopf. Denkst immer nur in bestimmten Bahnen, ganz ähnlich wie die Menschen. Das ist zwar besser als bei den meisten Elfen, die überhaupt nicht denken. Trotzdem bist du beschränkt. Ich sage dir das, weil es mir ein Vergnügen ist, dich zu belehren, und weil ich gern wissen will, wie es weitergeht – wie du dieses Problem knacken wirst.«
»Ich gehe jetzt«, behauptete der Getreue, aber natürlich würde er sich anhören, was Alebin ihm zu sagen hatte. Er konnte gar nicht beleidigt werden, da er weder Stolz noch Ehre besaß. Er war der, der er war, nicht mehr, nicht weniger, und dementsprechend handelte er. Wenn er selbst nicht auf eine Lösung kam, so nahm er den Rat anderer an. Angesichts der jetzigen Situation war dies offenbar der letzte Weg, der ihm blieb. Er wusste nicht mehr weiter.
»Hast du schon mal daran gedacht«, fuhr Alebin nach einer Pause vergnügt fort und drehte jedes Wort zuerst genießerisch im blutigen Mund, bevor er es als Klang hinausblies, »dass Bandorchu sich nicht horizontal, sondern vertikal bewegt hat?«
Der Getreue stand wie zur Salzsäule erstarrt, und er fühlte sich, als habe ihn ein Blitzschlag entzwei gespalten. Dann drehte er sich wortlos um und ging nach oben. Alebins Gelächter schallte ihm hinterher.
Der Getreue taumelte in Bandorchus Schlafgemach, schloss mit letzter Kraft die Tür zum verbotenen Raum und sank dann schwach aufs Bett. Kurzzeitig schwanden ihm die Sinne, und er hatte Mühe, seine Gedanken beisammen zu halten. Was war nur mit ihm los? Hatte er die kaum wiedergewonnenen Kräfte nun zu sehr verausgabt? Wieso gelang es ihm nicht, die brennende Aura im Zaum zu halten? Ging es … etwas schon aufs Ende zu?
Das durfte nicht sein. Nicht jetzt, so kurz vor dem Ziel!
Hatte er etwas übersehen? Wirkte etwa immer noch ein Fluch Morganas in ihm nach, den er nicht bemerkt hatte? Hatte die Skylla ihm mehr entrissen, als er angenommen hatte?
Hilflos suchte er Zuflucht in der Geisterwelt, doch sie war ihm versperrt, er hatte selbst dafür nicht mehr genug Kraft. Irgendetwas blockierte ihn völlig. Im Augenblick war er wahrscheinlich nicht einmal in der Lage, durch das Portal in die Menschenwelt zu gehen.
Denk nach, ermahnte er sich. Denk nach, denk nach!
Die Lösung war nahe, das spürte er, aber er wusste nicht, ob er sie festhalten konnte.
Denk nach!
Der Meidling hatte es gesagt: Er hatte immer in der falschen Richtung gesucht. Das musste es sein!
Vertikal.
Bandorchu ist in der Vergangenheit gelandet!
Der Getreue sprang auf. Was war nur los mit ihm? Verlor er den Verstand? Seine Aura brannte heller denn je. Er musste handeln, sofort!
Da schlug der Blitz in ihn ein.
*
Gofannon wollte nicht mehr warten. Einst war er der Königin freiwillig ins Exil gefolgt, weil er sich den Platz an ihrer Seite erhoffte. Deshalb hatte er jetzt den Schwur geleistet, denn eine andere Zukunft hatte er nicht. Er war ein Gott, der mit einem Boon belegt war. Jedes Mal, wenn er in die Menschenwelt ging, fand er sich in einem Attentäter wieder und musste dessen blutiges Werk vollenden. Befreit werden konnte er nur, wenn sein unfreiwilliger Wirt starb. Das wäre ein paar Mal schon beinahe schiefgegangen – dachte er etwa an diesen Guy Fawkes, der die Sache mit dem Parlament abblasen wollte, nachdem er aufgeflogen war. Es hatte Gofannon eine Menge Mühe gekostet, den Mann dazu zu bringen, trotzdem an seinem Plan festzuhalten und dafür gehängt zu werden. Danach war er frei und konnte ins Schattenland zurück, zu seiner geliebten Königin.
Ja, Götter konnten im Gegensatz zu den Elfen lieben, doch selten schmerzte es so sehr wie bei Gofannon, wenn die Zuneigung unerfüllt blieb. Darüber waren Götter normalerweise erhaben, auch er. Bis Fanmór den dicklichen alten Gott seines Schutzes beraubt hatte, und seither litt er Qualen, sobald er Bandorchu erblickte, oder wenn ihr Name fiel, oder wenn er, was mehrmals am Tage vorkam, an sie dachte.
Ebenso leidenschaftlich allerdings brannte sein Hass auf den Getreuen in ihm, der Gofannon den ihm zustehenden Platz weggenommen hatte.
Und nun war die Königin fort und der Getreue hatte alle anderen hereingelegt und einen Schwur leisten lassen, der sie in Sklaverei band, bis ans Ende aller Tage – oder bis die Königin sie daraus entließ. Gofannon hatte den Getreuen sofort durchschaut, doch er hatte nichts dagegen unternommen, dazu hatte er keinerlei Grund. Die Geschicke der Elfen waren nicht sein Metier, seine Göttlichkeit hatte sich auf anderen Ebenen bewegt. Die Elfen waren selbst für sich verantwortlich, und er … nun, er hatte mitgemacht, weil er die Königin nicht verlassen wollte. Er würde weiterhin ausharren und auf seine Stunde warten, die eines Tages kommen sollte. Eines Tages würde der Widerstand der Königin weichen, und sie würde ihm endlich ihre Aufmerksamkeit schenken, und zwar auf liebevolle Weise. Sie würde ihm sein Versagen vergeben, dass er damals im Krieg Fanmór nicht töten konnte, und seinen Fluch mit einem Obán von ihm nehmen. Dazu war Bandorchu in der Lage, dessen war der Gott gewiss. Und dann würde er ihr Vertrauter werden; na schön, vielleicht nicht an ihrer Seite, doch nah dabei. Er hatte genug Ideen, wie sie ihre Herrschaft über die Menschen ausüben würde. An der Anderswelt war Gofannon nicht interessiert. Dort mochte der Getreue an ihrer Seite bleiben und sie beschützen.
Gofannon nahm den letzten Gedanken sofort wieder zurück. Was für eine idiotische Vorstellung. Der Getreue war ja nicht einmal jetzt in der Lage gewesen, sie zu beschützen. Bandorchu war spurlos verschwunden und ihr Liebhaber hatte keine Idee, sie zu finden. Abgesehen davon, dass er wie ein Dämon unter dem Volk der Verbannten wütete, trug er nichts Produktives bei.
Jetzt zeigte sich, dass der dicke Gott schon von Anfang an das Richtige vermutet hatte: Dieser Mann, der sich geheimnistuerisch verhüllte, war völlig unfähig. Ein Versager, Blender, der es geschickt verstand, Angst und Schrecken zu verbreiten, in Wirklichkeit aber so harmlos war wie eine Nacktschnecke. Und wahrscheinlich auch genauso aussah. Tricks waren es, nichts weiter, und nun kam die Wahrheit endlich ans Licht, nachdem nach und nach alles rundherum zusammenbrach. Offensichtlich hatte seine Fassade nur so lange Bestand, wie die Königin ihre schützende Hand über ihn hielt. Ohne sie war er – ein Nichts, der Lächerlichkeit preisgegeben.
Gofannon würde nicht mehr länger warten. Nun nahm er die Sache selbst in die Hand, würde durch das Portal in die Menschenwelt gehen, Fluch hin oder her, und dort nach Bandorchu suchen.
Entschlossen machte er sich auf den Weg zu Bandorchus Gemach; der Weg dorthin war ihm vertraut, auch wenn er bisher nie weiter als bis zur Tür gekommen war. Niemand vertrat ihm den Weg, die Wachen hatten ihren Platz schon lange verlassen, und auch sonst hielt sich keiner hier auf, nicht einmal eine Zofe. Sie wagten sich nicht mehr hierher.
Geduckt schlich der dicke Gott den Gang entlang, jederzeit auf Entdeckung gefasst, und legte sich eine Ausrede zurecht, was er hier zu suchen hatte. Für einen Moment stutzte er, als er die Tür zu Bandorchus Schlafgemach zum ersten Mal unverschlossen fand. In der Tat, nichts war mehr so wie früher. Solange die Königin hier gewesen war, hatte es diese Nachlässigkeit in der Disziplin nicht gegeben.
Forsch, mit geraden Schultern, schritt Gofannon aus, jetzt gab es kein Zurück mehr. Er ließ sich nicht aufhalten. War er ein Gott oder nicht? Es wurde Zeit, dass er sich daran erinnerte!
Behutsam schob er die Tür weiter auf – und blieb erstarrt stehen, als er einen großen dunklen Haufen vor dem Bett liegen sah. Gofannons verfluchtes, von jeglichem Schutz verlassenes Herz raste. War das dieser Mensch, den sie alle »Hündchen« nannten, aus Venedig?
Nein, dieser Körper war viel zu groß, und außerdem lagen auf der anderen Seite des Bettes die leeren Ketten.
Moment … Was?
Gofannons Schrecken wandelte sich in Verblüffung. Der Mensch war fort? Wie ging das zu? War er etwa zusammen mit der Königin verschwunden? Hatte sie ihn mitgenommen? Aber nein, das war unmöglich. Kein Mensch könnte jemals solche Bedeutung erlangen. Da musste etwas anderes passiert sein … vermutlich war er beseitigt worden, auch wenn es keine Blutspuren gab. Aber sicherlich hatte ihn jemand fortgebracht und dann das Werk weitab neugieriger Augen vollendet.
Aber was hatte dann dieser dunkle Haufen zu bedeuten, der …
Oh.
Gofannons Herzschlag sprengte ihm beinah die Brust. Er ist es!
Der Getreue. Lag dort vor dem Bett, hilflos, bewusstlos auf dem Boden. Die kalte Aura hatte ihn völlig verlassen, jetzt schien sie eher … ja, zu brennen? Konnte das sein? Aber wie wäre sein Zustand sonst zu erklären?
Grimmiger Hass, Hohn, wilde Freude spiegelten sich auf dem zerfurchten Gesicht des Gottes. Endlich! Sein Rivale war geschlagen, vernichtet, am Ende seiner Kräfte. Wie auch immer das geschehen sein mochte, jetzt hatte Gofannons große Stunde geschlagen. Er würde sich des verhassten Nebenbuhlers ein für alle Mal entledigen. Diese unglaubliche Gunst des Schicksals würde er nutzen! Gofannon schickte ein Dankgebet zuerst an sich selbst, dann an die Nornen, die ihn erhört und ihm einen hübschen Faden gesponnen hatten. Anschließend huschte er auf den Gang zurück, um eines der Schwerter zu holen, die dort an prächtig verzierten Schilden befestigt waren. Eine schöne, dennoch tödliche Dekoration. Das war die beste Strategie – Kopf ab, und der Fall war erledigt. Selbst den Mächtigsten und Göttern gelang es äußerst selten, diesen Vorgang rückgängig zu machen. Abgesehen vom Grünen Ritter, der das Kopfabschlagen zu seiner persönlichen Tugend der Wiederauferstehung erkoren hatte, bekam das niemandem gut.
Natürlich hätte Gofannon gern längere Rache genommen und wäre mit dem Getreuen so verfahren, wie der mit Alebin umging. Nicht etwa, um auch Alebin zu rächen – ganz im Gegenteil, dieser Meidling hatte nichts Besseres verdient. Aber die Folter hatte Esprit, das hatte Gofannon beim heimlichen Bespitzeln schnell erkannt, denn in solchen Dingen war er Spezialist. Es gab eine Menge, was Gofannon dem Rivalen antun wollte, doch er würde diesen Fehler zur Befriedigung eigener Gelüste nicht begehen. Solange der Getreue bewusstlos war, musste der Gott zuschlagen, ohne Zaudern und Zögern. Dann wäre eine große Last von seinen Schultern genommen, und er konnte das Ruder übernehmen. Oh ja, das gefiel ihm.
Der alte Gott umfasste den Schwertgriff mit beiden Händen und näherte sich langsam dem Bewusstlosen. Vorsicht war geboten, er war ja kein Narr. Wer wusste schon, ob der Getreue nicht von einem Schutzbann umgeben war …
Aber nein. Die Ohnmacht hatte ihn völlig überrascht. So, wie er dalag, ließ es keinen anderen Schluss zu. Kein Schutzbann, keine Gegenwehr.
Gleich war dieser Buhmann Geschichte und Gofannon ein Held. Das ganze Schloss würde ihm zu Füßen liegen, weil er es von dem Herrn der Schrecken befreit hatte. Das würde dem Gott ungeahnte, neue Kräfte verleihen …
Der Getreue lag auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür. Gofannon musste ihn umrunden, um den richtigen Ansatz für den Schwerthieb zu finden. Besser wäre es gewesen, wenn der Kapuzenmantel ihn nicht mehr umhüllen würde, aber es musste eben so gehen.
Ah. Da war der Kopf, immer noch bedeckt, als wäre die Kapuze mit dem Haupt verwachsen. Das eiskalte Glühen der Augen war erloschen. Ganz still und ruhig lag der Finstere da, wie leblos, bot keine Gefahr mehr. Fast friedlich.
Näher heran. Der Gott wog das Gewicht in Händen und rechnete aus, wo genau er ansetzen musste, wo die Klinge die größte Schlagkraft hatte. Er hatte nur einen einzigen Hieb, und der musste sofort den Kopf vom Hals trennen. Schnell und sauber, darin kannte er sich aus.
Das Schwert war gut und scharf. Es konnte nichts schiefgehen. Gofannon nahm Maß und hob die Arme.
Jetzt.
In diesem Augenblick schoss eine schwarz behandschuhte Hand von unten her auf ihn zu.
Gofannon stieß ein quiekendes Geräusch aus, als eisenharte Finger sich um seine Kehle schlossen und zudrückten. Im nächsten Augenblick wurde er von den Beinen gerissen und landete unsanft auf dem Rücken, das Schwert fiel ihm aus den Händen. Wie ein gefangenes Tier zappelte er im Griff des Verhüllten, der sich aufrichtete und über ihn beugte.
Unmöglich. Wie kann er …
Doch er war wach und lebendig, und trotz der brennenden Aura immer noch stark, viel zu kraftvoll für den dicklichen Gott.
»Du kommst mir gerade recht«, zischte der Getreue mit der vertraut heiseren, aus dem Totenreich hallenden Stimme. »Deine göttliche Aura brachte mich im rechten Moment wieder zu mir.«
»N-nein …«, keuchte Gofannon halb erstickt. Vergeblich setzte er sich zur Wehr, kratzte und riss an der Hand, die ihn immer noch gnadenlos im Griff hielt. Seine kurzen Beine traten wild um sich, fanden aber kein Ziel. »D-das ist u-ungerecht …«
»Ich habe dir so viel gegeben, es wird Zeit, dass ich etwas zurückbekomme«, sagte der Getreue höhnisch.
»Du? Du hast mir gar nichts …«
»Alter Narr, was glaubst du, weswegen du noch am Leben bist? Davon werde ich dir jetzt ein bisschen nehmen. Doch sei unbesorgt, ich werde dich nicht töten, denn ich brauche dich noch.«
»Wag es nicht«, quietschte der Gott verzweifelt. »Das ist Blasphemie …«
»Ich stehe weit über dir in der Hierarchie.« Der Finstere lachte rau. »Dummer kleiner Gott. Und nun hör auf, dich zu wehren, sonst tut es nur weh. Mir ist das gleich, aber für dich dürfte es einen Unterschied machen.«
Gofannon gab allerdings keineswegs auf, schlug um sich und wand sich, unternahm alles, um sich zu befreien. Er schrie jämmerlich auf, als der Verhüllte ungerührt seinen Kopf dicht zu ihm herab senkte und die göttliche Lebenskraft in einem dicken weißen Faden aus ihm saugte. Die Schreie des Gottes erstarben bald, und er spürte tiefe Bewusstlosigkeit nahen, während der Getreue immer noch mehr Energie aus ihm zog.
*
Im selben Maße, wie die Lebenskraft in ihn floss, erlosch das Feuer in der finsteren Aura und wohltuende Kälte breitete sich aus. Als es genug war, ließ der Getreue den mittlerweile geschrumpften und verhutzelten Gott fallen und sank mit einem tiefen Seufzer an den Bettrand zurück, der ihm willig Stütze gab.
Während Sand aus dem alten Stundenglas am Kopfende des Bettes rann, ließ der Getreue die neu gewonnene Kraft durch seinen Körper strömen und fühlte dankbar, wie er sich erholte, wie alles in ihm abkühlte und seine Gedanken sich klärten.
Er konnte sich kaum erinnern, was geschehen war. Plötzlich war das Feuer in ihm hell aufgelodert, dann waren ihm die Sinne geschwunden, und er war erst wieder zu sich gekommen, als er Gofannon bei sich spürte. Der Getreue hatte keine Erklärung für seinen Zustand, doch er wusste, dass ihm die Zeit schneller zwischen den Fingern zerrann als der Sand dort hinten. Er musste zusehen, dass er sich mehr Zeit verschaffte, doch zuerst sollte er herausfinden, in welche Zeitlinie seine Königin gestürzt war.
Langsam stand er auf, streckte sich und ging auf den verbotenen Raum zu. Er brauchte die Tür nicht zu öffnen, um die Zeitlinie zu finden. Nun, nachdem er wusste, wonach er suchen musste, konnte er seine magischen Fühler ausstrecken, Mauern waren kein Hindernis mehr.
Es fiel ihm immer noch schwer, sich zu konzentrieren, aber er würde jetzt nicht locker lassen. Notfalls zapfte er dem Gott doch noch die Lebenskraft bis zur Neige ab, es würde sich schon Ersatz für ihn finden. Und wenn die Königin von Tonnen Blei und Eisen umgeben wäre, nun, da er endlich den richtigen Pfad gefunden hatte, konnte ihn nichts mehr daran hindern, sie zu finden. Die Elfen ahnten ja nicht, dass Bandorchu mit den Welten mehr verbunden war, als sie jemals in der Lage waren zu verstehen.
Und dann … schlug der zweite Blitz in ihn ein. Der Getreue erstarrte. Dann fiel er um wie ein gefällter Baum.