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7.
Ainfar: Das Ziel

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»Ich sollte dem Herrn Bericht erstatten«, überlegte Melemida und strich sich mit den Zweigfingern über die Borke. »Er hält sich jetzt schon sehr lange in Bandorchus Gemächern auf. Ich glaube nicht, dass er so schnell hier wieder erscheinen wird.«

»Besser du als ich«, meinte Ainfar. Er hatte die Larve eines harmlosen Tierelfen angenommen, ein wenig haarig, mit dem Ansatz eines Geweihs, doch nicht eindeutig zuzuordnen. Dennoch traute er dem Frieden nicht so ganz, er sollte es nicht herausfordern.

Andererseits musste er Regiatus unbedingt eine Nachricht zukommen lassen. Zwar hatte er keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Es hatte einmal geklappt, aber ein zweites Mal? Gewiss, bei aller Klugheit und Planung waren weder die Königin noch der Getreue bisher darauf gekommen, dass sie einen Spion in den eigenen Reihen hatten. Sie konzentrierten sich immer nur auf ihre Vorgehensweise und versetzten sich, viel zu überzeugt von sich selbst, nie in die Lage des Gegners.

Genau damit hatten die Cerviden-Brüder gerechnet: Wer nahm schon an, dass jemand freiwillig ins Schattenland ginge, um die Dunkle Königin zu belauschen, wenn dies doch angeblich das Ende des Weges darstellte, aus dem bisher noch nie jemand zurückgekehrt war? Wer würde sich die lebenslange Verbannung ins Reich der Schrecken antun, nachdem die Königin als besiegt galt und zum Exil verurteilt wurde?

Als hätten wir es geahnt, dachte der Tiermann. Ich, verbesserte er sich. Regiatus konnte dafür überhaupt kein Verständnis aufbringen. Ich weiß selbst nicht, was mich dazu trieb – doch wie sehr hatte ich Recht. Und nun zahlt es sich aus.

Ainfar dachte niemals darüber nach, was geworden wäre, wenn Bandorchu das Schloss nicht hätte aufbauen können, und alles weitere. Das waren hinfällige Spekulationen und dem gesunden Elfenverstand nicht zuträglich.

»Denkst du, mein weiblicher Charme könnte ihn friedlicher stimmen?«, knarrte die Dryade lachend.

»In jedem Fall«, erwiderte Ainfar. »Und schließlich hat er dich beauftragt. An mich wird er sich vermutlich nicht mehr erinnern.« Glücklicherweise, fügte er in Gedanken hinzu.

»Ich bringe schließlich keine schlechten Nachrichten.«

»Oh nein, gewiss nicht.«

»Also, dann gehe ich mal.«

»Soll ich mitkommen?«

»Ich … schaffe das.« Melemida richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf und rauschte davon.

Ainfar wartete neben dem Thron, als Eledula die Antilopenfrau sich zu ihm gesellte.

»Ich habe dir noch nicht gedankt.«

»Wofür?«

»Dass du mir den Mund zugehalten hast, als alle den Schwur leisteten.«

Ainfar lachte leise. »Ach so, das.«

»Wie konntest du ihm widerstehen?«, fuhr sie fort.

Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich kann Pathos nicht ausstehen, und noch weniger, wenn er vom Getreuen kommt.«

Da musste sie auch lachen. Zärtlich strich sie über sein wolliges Haar. »Du bist … so anders. Ich weiß nie, wer du bist, selbst wenn du dich mir in deiner bevorzugten Gestalt zeigst.«

»Ich will nur, dass du frei bist, Eledula. Du hast mit all dem hier nichts zu tun. Du sollst gehen, wohin du willst.«

»Und … du?«

»Ich habe noch eine Pflicht«, antwortete er. »Wahrscheinlich werde ich die Soldaten anführen. Ich weiß daher nicht, ob wir zusammen gehen können. Wenn nicht, suche den Cerviden Regiatus auf. Du wirst ihn leicht erkennen. Sag ihm, ich hätte dich geschickt und bitte für dich um Asyl bei den Crains. Er wird dich aufnehmen wie eine Schwester.«

Sie musterte ihn prüfend aus goldgesprenkelten Augen. »Weil du … sein Bruder bist?«, wisperte sie, dicht an seinem Ohr.

Er legte den Finger an ihre Lippen, dann nahm er ihn fort und drückte stattdessen seinen Mund darauf. Sie erwiderte den Kuss willig.

»Sei unbesorgt«, flüsterte sie, als er sie wieder freigab. »Wie du sagtest, dies hier ist nicht mein Kampf, und ich schulde dir viel zu viel, nicht zuletzt, dass du mich vor der Falle bewahrt hast. Meine Treue gilt dir.«

Er nickte stumm, und sie verließ ihn.

Ainfar ließ den Blick durch den Thronsaal schweifen, der nach wie vor vollbesetzt war, doch die meisten Elfen wirkten jetzt bedeutend lebhafter und optimistischer als vor dem Eid. Sie vertrauten darauf, dass die Königin sie hier herausholen würde; schließlich hatte sie dieses Schloss gebaut. Ihr war einfach alles möglich.

Auch draußen hatten sich die meisten Elfen in den Trümmern einigermaßen eingerichtet, teilweise richteten sie gemeinsam wieder Mauern auf und deckten sie ab, um den Schutz vor den Wolken zu erweitern. Die Ordnung war zurückgekehrt. Nur wenige Elfen hatten gänzlich aufgegeben und waren versteinert.

*

Melemida raschelte den Gang entlang, ihr Wurzelgeflecht erzeugte schleifende, kratzende Geräusche auf dem blinden Boden. Die Königin würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie das Schloss in diesem Zustand vorfand. Aber es war nicht zu ändern, im Moment konnten sie nichts tun.

Die Tür zu Bandorchus Gemach war offen. Vorsichtig lugte die Dryade hinein und entdeckte den kleinen dicken, wie hieß er doch gleich … ja, richtig, Gofannon. Ein Gott sollte er mal gewesen sein. Jetzt hing er nur noch triefäugig an Bandorchus Rockzipfel und flehte um Erhörung.

So dick sah er allerdings gar nicht mehr aus, sondern eher eingefallen. Er musste gestürzt sein, denn er richtete sich gerade ächzend auf, versuchte auf die Beine zu kommen und sackte schwach hin.

Melemida sah ein Schwert zwischen ihm und … dem Getreuen liegen, der in sich zusammengesunken vor der Tür zum verbotenen Raum lag! In der Dryade zog sich alles zusammen und vor Schrecken verlor sie eine Handvoll Blätter.

»Was hast du getan, Wahnsinniger?«, herrschte sie den Gott an, der aus trüben Augen zu ihr hochblickte. Er sah ganz und gar nicht gut aus, wirklich.

»Ich, nichts«, antwortete er mit kränklicher Stimme. »Frag lieber, was er mir angetan hat!« Anklagend wies er auf den Getreuen.

»Ist er tot?«

»Ich hoffe es.« Gofannon bemerkte den Blick der Dryade zum Schwert und fügte schnell hinzu: »Wenn, dann nicht durch meine Hand.«

»Was ist dann mit ihm geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Er muss erneut das Bewusstsein verloren haben. Ich habe ihn das erste Mal so vor dem Bett gefunden.«

Melemidas Zweige knarrten. »Und versucht, ihn zu erschlagen.«

»Na ja … also gut, schön, ich geb’s zu«, knurrte der Gott.

Die Dryade knarzte vor Empörung. »Einen Wehrlosen, selbst wenn er der Getreue ist – das ist eines Gottes unwürdig! Du bist verachtenswert.«

»Damit könnte ich problemlos leben, aber da ich keinen Erfolg hatte, kannst du mir gar nichts nachsagen, du vertrocknete alte Borke.« Gofannon schaffte es endlich, auf die Beine zu kommen, dann schwankte er in armseligem Stolz nach draußen und war weg.

Die Dryade näherte sich vorsichtig dem leblos wirkenden Getreuen, vergewisserte sich ängstlich, dass die Kapuze immer noch übers Haupt gezogen war, und stupste ihn dann scheu an. »Herr? Gebieter? Was ist mit Euch? Kommt zu Euch, ich habe Nachrichten.« Sie beugte sich tiefer über ihn, versuchte ihn mit ihren Astarmen aufzusetzen.

Da regte er sich plötzlich, als ein wenig von ihrer Aura auf ihn überglitt, und seine Hände schossen nach oben.

*

Schließlich wurde Ainfar unruhig. Melemida blieb zu lange fort, da stimmte etwas nicht. Er gab einem der wartenden Soldaten den Befehl, die Aufsicht zu übernehmen, und ging hinter dem Thron vorbei auf den Gang, der direkt zu Bandorchus Gemächern führte.

Lange war er nicht mehr hier gewesen, und er war beunruhigt, dass eine Falle aufgestellt sein könnte, die ihn betraf. Schließlich hatten sie seiner nie habhaft werden können, nachdem er geflohen war, und auch seine Rückkehr nicht mitbekommen. Sein Bild war in den Köpfen der Elfen inzwischen erloschen, sie erinnerten sich nicht mehr an ihn. Nachdem er ins Schattenland hinaus geflohen war, hatte Bandorchu die Verfolgung abgeblasen und ihn seinem Schicksal überlassen. Was nicht bedeuten musste, dass sie nicht trotzdem rachsüchtig auf seine Rückkehr wartete und ihm eine Falle stellte.

Doch die Sorge war unbegründet.

Vielleicht … vielleicht hatte auch ein weiteres Mal Gwynbaen die Vorherrschaft errungen und dafür gesorgt, dass Ainfar fortan unbehelligt blieb. Immer noch gab es Hoffnung. Und genau deswegen würde er weiterkämpfen.

Unbehelligt erreichte Ainfar das Schlafgemach der Königin, und wehmütige Erinnerung regte sich in ihm. Einmal nur wieder bei ihr sein … ihre Hand auf sich fühlen … ihren Duft einatmen …

Aber nein, er hatte jetzt Eledula. Sie war die passende Gefährtin, Verwandte noch dazu. Beim Baum konnten sie sich ein neues Leben aufbauen, wenn das hier vorüber war. Wer wusste schon, vielleicht würden sie sogar eine Familie gründen, bevor alles endete, und ein Vermächtnis hinterlassen. Es wurde Zeit, an den Frieden und eine neue Zukunft zu denken.

Ach, verdammt. Ainfar hatte sich zu sehr von seinen Gedanken ablenken lassen, daher traf es ihn unvorbereitet und wie ein Schock.

Vor dem Bett lag Melemida, nicht mehr als eine ausgetrocknete Hülle, völlig leer, zusammengesunken, die Borke zusammengeschnurrt und rissig. Kein Blatt war mehr an ihr, viele zarte Zweige gebrochen.

Vor der offenen Tür zum verbotenen Raum stand der Getreue, mit dem Rücken zu Ainfar. Seine breiten Schultern verdeckten die Sicht auf das Zimmer dahinter, nur der eine oder andere Lichtstrahl konnte sich an ihm vorbeistehlen.

»Was ist geschehen?«, rief Ainfar betroffen und in aufkeimendem Zorn. Dieses Ende hatte die Dryade nicht verdient, die stets so treu und liebevoll für ihre Königin gesorgt hatte!

»Ich weiß, die Königin wird zornig sein«, erklang die tiefe, leicht abwesende Stimme des Getreuen. »Doch ich hatte keine Wahl, ich brauchte ihre Lebenskraft.« Er wandte sich Ainfar halb zu, und weitere Lichtstrahlen schossen an ihm vorbei ins Gemach, stachen dem Tiermann in die empfindlichen Augen. Das Portal, dachte er.

»Schicke mir noch ein Dutzend Diener, die leicht entbehrlich sind«, befahl er. »Ich brauche mehr. Erst dann habe ich genug Kraft, um den Weg zu öffnen.«

»Ich soll Euch Elfen schicken, damit Ihr sie tötet?«, stieß Ainfar empört hervor.

»Es ist notwendig, denn wenn ich nicht mehr bestehe, bleibt deine Königin für immer verloren. Ist das dein Ziel?« Eiskalt glitzernde Augen richteten sich auf den Tiermann.

Ainfar erschauerte bis ins Mark. »Nein«, sagte er leise. Weil Gwynbaen immer noch in Bandorchu existiert, und sie vertraut mir, dass ich sie befreie! Wir haben einen Pakt …

»Dann tu, was ich dir befehle.«

»Ich … kann das nicht.«

»Ein Elf mit Skrupeln.« Die Stimme des Getreuen klang amüsiert. »So tief ist das Volk inzwischen gesunken.«

»Dieses Land hier ist der Boden des Abgrunds, tiefer geht es nicht mehr«, erwiderte Ainfar mit bebender Stimme. »Ich mag verurteilt und verbannt sein, aber ich habe meine Ehre nicht aufgegeben!«

»Das ist mein Vorteil euch gegenüber, ich habe gar keine Ehre.« Der Getreue schwieg kurz, senkte leicht den Kopf, um nachzudenken. »Also gut«, sagte er dann. »Gib einer Zofe den Befehl, Dienerschaft herzuschicken, die saubermachen soll. Dann hat keiner von euch die Wahl getroffen. Kannst du damit leben?«

»Ich muss es wohl.«

»Gewiss. Sonst ist es damit nämlich vorbei, mein Freund. Wir verstehen uns?«

Ainfar schluckte. »Ja, Herr.« Er wandte sich zum Gehen, doch der Getreue hob die Hand.

»Ich war noch nicht zu Ende. Sobald ich mich ausreichend gestärkt habe, werde ich in die Menschenwelt zurückkehren und alles vorbereiten, einen neuen Ausgang zu schaffen, durch den ihr dann gehen werdet, sobald ich euch rufe. Halte deine Soldaten ständig auf Abruf bereit. Wie viele hast du?«

»Derzeit fünfzig, Gebieter.«

»Die genügen vorerst. Aber weitere sollen in Bereitschaft bleiben, es kann unter Umständen schnell gehen.«

Erregung stieg in Ainfar auf. »Dann … werden wir das Schattenland bald verlassen?«

Der Getreue nickte. »Sehr bald.«

»Und … wohin werden wir gehen?«

»Nach Irland«, lautete die Antwort. »Ich werde das Zeitgrab in Newgrange öffnen, um von dort aus die in der Zeit verschollene Königin zurück zu holen.«

Ainfar verschlug es für einen Moment die Sprache. Aber dann begriff er die Zusammenhänge, die Rätsel klärten sich. »Verstehe. Ich werde alles vorbereiten.« Selbstverständlich musste die Königin in diese Zeit zurückgeholt werden! Nicht auszudenken, wenn sie in der Vergangenheit blieb … alles würde sich verändern, der Krieg um Crain völlig anders verlaufen … das wäre eine Katastrophe! Damit war er ausnahmsweise einmal einer Meinung mit dem Verhüllten. Manchmal musste man sich mit dem Feind verbünden oder ihn zumindest unterstützen, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Vielleicht war dies dann endlich die Gelegenheit, eine Nachricht an Regiatus abzusetzen – auch wenn Ainfar immer noch keine Ahnung hatte, was er dazu benutzen sollte.

Ainfar, noch halbwegs unter Schock über Melemidas Tod stehend, kehrte in den Thronsaal zurück und gab die Befehle des Getreuen weiter. Eine Zofe – nicht Eledula – erhielt den Auftrag, mindestens ein Dutzend Diener zu Bandorchus Gemach zu schicken. Alles Weitere verdrängte der Tiermann, er konnte sowieso nichts dagegen machen. Der Tod des Getreuen wäre angesichts der derzeitigen Situation kaum dienlich, und auch Ainfar hatte noch einiges zu erledigen, bevor er nach Annuyn gehen musste.

Anschließend suchte er fünfzig Soldaten aus und postierte sie beim Thron, fünfzig weitere hielt er in Bereitschaft. Die übrigen, die noch kämpfen konnten, verdienten die Bezeichnung »Soldat« nicht und sollten erst nachfolgen, wenn es soweit war.

Aufbruchstimmung machte sich breit. Ainfar fragte sich, wie die Verbannten sich ihr künftiges Leben denn vorstellten? Einen fortdauernden Krieg, bis sie alt wurden und starben? Aber vermutlich war ihnen im Moment alles egal, Hauptsache, sie entkamen endlich der Verbannung. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Schließlich konnte er selbst es kaum mehr erwarten, das Schattenland zu verlassen.

Aber nun hieß es warten. Der Getreue hatte sich nicht geäußert, wie schnell und vor allem auf welche Weise er den Weg in die Freiheit ermöglichen würde, und wie sie es erfahren sollten. Da die Reise so kurz bevorstand, wurde der Tiermann ungeduldig. Vor allem aus Sorge, dass im letzten Moment noch etwas schiefging und er hier gefangen bliebe.

Ainfar tigerte nervös auf und ab, kurz davor, sich zu verwandeln. Die anderen Elfen waren ebenfalls unruhig, bezähmten sich aber. Sie waren längst daran gewöhnt, auszuharren und nicht zu sehr aufzufallen. Kurz kreuzten sich Ainfars Blicke mit Eledulas, die zusammen mit den anderen Zofen in einer Nische mit bequemen Sitzgelegenheiten wartete. Der Tiermann nickte der Antilopenfrau kurz zu, dann drehte er sich um, verschwand durch die schweren Vorhänge und betrat den Gang hinter dem Thron.

Es war geisterhaft still. Kein Geräusch, niemand zu sehen. Ainfar ging gelassen weiter. Er hoffte, dass der Getreue sein grausiges Werk inzwischen vollendet hatte und es endlich vorwärts ging. Viel Zeit blieb dem Tiermann nicht mehr, um Regiatus vorzuwarnen.

Als er am Treppenabgang vorbeikam, hörte er leisen Gesang von weit unten heraufschallen. Ainfar wusste wie jeder Elf, hier ging es zu den Kerkern hinunter. Normalerweise ging man an dieser Treppe sehr schnell vorbei und achtete möglichst auf nichts. Doch dieser Stimme konnte er sich nicht verschließen. Dafür kannte er sie viel zu gut.

»Ich bin so alleiiin, alle haben mich vergessen, das kann doch gar nicht seiiin, wo ich doch geschworen hab, mich zu bessern …«

Als gäbe es hier unten weder Schmerz noch Schrecken, trällerte jemand ein fröhliches Liedchen. Text und Reim waren grauenvoll und die Melodie nicht viel besser. Das konnte wirklich nur einer sein. Und Ainfar hatte nicht einmal gewusst, dass er hier war!

Als der Tiermann in den Kerkergang abbog, gab es sofort Aufruhr in den Verliesen. »Herr, gnädiger, gütiger Herr, lasst mich frei, ich bin unschuldig!« – »Lasst den doch reden, er ist ein stinkender Lügner, aber ich, bitte, guter Herr, ich habe die Freiheit viel mehr verdient!« – »Hört nicht auf die, edler Herr, sie wollen euch nur ermorden! Doch ich will Euer Diener sein, auf ewig, wenn Ihr mich befreit!«

Von allen Seiten drangen Stimmen auf ihn ein, und viele unterschiedliche Gliedmaßen streckten sich flehend aus der Dunkelheit durch die Gitterstäbe. Ainfar hielt sich die Ohren zu, er konnte es kaum ertragen. So viel Jammer und Leid waren selbst für einen Elfen zu viel. Der Weg durch den fackelbeleuchteten Gang wurde zum Pfad durch die Endlosigkeit. Der Tiermann ermahnte sich, nicht darauf zu achten, er hatte nur ein Ziel; nämlich den Verursacher des Liedes zu finden, und dabei durfte er nicht auffallen. Um keinen Preis.

Doch schließlich hielt er es nicht mehr aus. Bei der nächstbesten Tür verharrte er, prüfte Schloss und Magie, fand beides recht einfach, und knackte es. Mit einem heftigen Ruck riss er die Gittertür auf und sagte: »Komm heraus, du bist frei!«

In der Dunkelheit, die seine Augen nicht durchdringen konnten, gab es ein platzendes Geräusch, gefolgt von einem … Kichern?

Ainfar fuhr zurück, als ein nur handspannenlanges, geflügeltes Wesen in Augenhöhe herausschwirrte und sich vor Lachen ausschüttete.

»Ein … ein Irrwicht … aber wie …«, stieß der Tiermann bleich hervor.

Rings um ihn zogen sich die Gliedmaßen plötzlich zurück, und überall erklangen die platzenden Geräusche und das Kichern. Scharen von Irrwichten strömten durch die Gitterstäbe heraus und flatterten schnatternd und sich gegenseitig schubsend davon, die Treppe hinauf.

Ainfar schüttelte den Kopf, zwickte sich in den Arm, ob er träumte, und konnte es nicht fassen. Aus der Tiefe des Gangs, von wo das Lied erklungen war, erschall nun Gelächter. Ainfar wandte sich um und sah im flackernden Fackellicht eine Silhouette am anderen Ende, die in Ketten hing. Ein schlecht angenagelter, nicht angepasster Schatten hing in Fetzen von den Füßen herab. Die Fackeln zeichneten mit Feuerfingern ein Hirschgeweih über dem Kopf des Gefangenen an die Wand.

»Du bist echt«, sagte der Tiermann und ging auf den Häftling zu.

»Brüderchen!«, rief Alebin begeistert. »Ich bin gerührt, dich zu sehen! Dich hätte ich hier zuletzt erwartet, Nesthäkchen!«

»Ich dich ebenso wenig«, gestand Ainfar. Er wies auf die leeren Kerker. »Was hat das alles zu bedeuten? War es immer nur Lug und Trug, was wir da oben hörten?«

»Wer weiß?« Alebin kicherte wie ein Irrer. Sein nur noch von Fetzen bedeckter Körper war zerschunden, aber im Heilungsprozess. »Seit ich hier unten bin, gab es niemanden sonst. Ich habe selbst eine halbe Ewigkeit gebraucht, bis ich die Irrwichte erkannte. Du kannst dir mein Staunen vorstellen! Natürlich habe ich meinen Foltermeister gefragt, was das zu bedeuten hat. Er lachte nur hämisch, wie du dir denken kannst, und meinte, er wollte das Verlies ganz für mich reservieren, alles andere sei unwichtig geworden.«

»Verdammt …« Ainfar ballte die Hände zu Fäusten. »Das … glaube ich einfach nicht!«

»Glaub, was du willst, kleiner Bruder, du wirst keine Antwort erhalten. Wir werden nie herausfinden, wer er ist, auch wenn ich schon nahe dran bin. Doch ich denke, den letzten Schritt wird er mir vorenthalten …« Alebin gackerte.

»Er gibt dir doch nur, was du willst, Alebin, und du hast nichts Besseres verdient, für all die Lügen, Intrigen, Schandtaten, die du schon begangen hast«, erwiderte Ainfar wutentbrannt. »Deinetwegen fand meine Mutter den Tod …«

»He, das war ein Unfall!«

»Und was war das mit unserem Vater?«

»Ach, das nimmt er mir doch längst nicht mehr übel …«

Ainfar hatte nicht übel Lust, nach der Peitsche zu greifen und das Lachen aus seinem Halbbruder zu prügeln. Uralter, lange unterdrückter Hass wallte in ihm hoch und verlangte nach Rache.

»Warum bist du hier?«

»Ach, nichts weiter«, antwortete Alebin wegwerfend. »Ich habe die Königin verraten, Rhiannon umgebracht, und …«

»Du hast was?«

»Ein bedauerlicher Unfall, ganz ehrlich! Eigentlich wollte ich ihren Bruder erwischen.«

Ainfar hatte Mühe, Fassung zu bewahren. »Du wolltest … die Zwillinge … die Erben der Crain …« Er konnte für einen Augenblick nicht weitersprechen, dann schrie er: »Warum hat der Getreue dich nicht getötet?«

Alebin fand seine Schandtaten offenbar komisch, denn er lachte schon wieder. »Er selbst hat mich zum Tabu erklärt. Solange er das nicht aufhebt, kann ich nicht sterben, nicht mal durch ihn. Ich glaube, er will mich gar nicht töten, das Foltern macht ihm viel mehr Spaß.«

Der Tiermann war wie erschlagen. Er hätte sich am liebsten hingesetzt, aber hier gab es natürlich keine Sitzgelegenheiten. Hilflos irrte sein Blick umher, glitt über die Felsmauern, die feucht von unzähligen Elfentränen waren, blieb wieder am Bruder hängen.

»Warum hast du das alles getan?«, flüsterte er.

»Das ist eine lange Geschichte, aber ich gebe sie dir in Kurzform. Ob es das Warum klärt, überlasse ich dir, es erklärt jedenfalls das Was und Wie.« Alebin plauderte munter drauflos, als säßen sie in irgendeinem Wirtshaus bei Whisky und Anekdoten. Als Darby O’Gill in prächtiger Erscheinung war Alebin ein hervorragender Unterhalter und Trinker, weithin bekannt und vor allem bei den Frauen beliebt. Alebin hatte den älteren Bruder dafür als Jüngling bewundert.

Als er mit seiner Erzählung am Ende war, wollte nun der Schotte Antworten: »Und wie kommt es, dass du hier bist, du anständiger kleiner Bruder, Augapfel unseres hochgeschätzten Vaters?«

»Deinetwegen, Meidling«, gab Ainfar prompt Auskunft. »Um die Schande von unserer Familie wieder abzuwaschen.«

»Und dafür gehst du ausgerechnet hierher?« Alebin brach erneut in schallendes Gelächter aus. »Was für ein entzückender naiver Idiot du doch bist!«

»Falls du es vergessen haben solltest – du hängst hier in Ketten, nicht ich. Und ausnahmsweise einmal muss ich dem Getreuen Anerkennung zollen. Du bist genau am richtigen Ort und erhältst die dir angemessene Strafe.« Ainfar wandte sich zum Gehen.

»Bruder, warte – äh … bitte«, sagte Alebin schnell. »Ich bin hier abgeschnitten von allem. Sag mir, was in der letzten Zeit geschehen ist!«

»Warum sollte ich das tun?«

»Du hast Recht. Warum sollte mich das interessieren. Leb wohl!«

Ainfar wusste, er sollte jetzt gehen. Doch so einfach war das nicht, sie waren durch Blutsbande aneinandergebunden. Also gab er nach und berichtete, und Alebin hörte aufmerksam zu, obwohl Ainfar sich während der Erzählung des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass er bereits über alles Bescheid wusste. Möglicherweise wollte er nur die Einsamkeit noch ein wenig hinauszögern.

»Also trifft meine Annahme zu!«, sagte Alebin nach dem Abschluss triumphierend, und in seine Augen kehrte das Leben zurück.

»Was meinst du damit?«, fragte Ainfar erstaunt.

»Ich habe unseren finsteren Freund auf die Lösung gebracht.« Alebin schmunzelte, und für einen Moment schimmerte Darby O’Gill in ihm durch. »Ich dachte mir, dass sie in die Zeit gestürzt ist.«

Ainfar legte die haarige Stirn in Falten. Sein Bruder war früher schon zu außergewöhnlichen Schlussfolgerungen fähig gewesen. »Hast du auch eine Idee, wie es dazu kommen konnte?«

»Na, das ist einfach«, brummte Alebin. »Die Königin war zu ungeduldig. Sie ging, noch während alles im Schwanken war. Die Grenzen haben sich verschoben, und zwar in alle Richtungen. Es war ein Schritt zu früh, der auf den verkehrten Weg führte. Und was hat der Getreue jetzt vor?«

Es spielte keine Rolle mehr. »Er will das Zeitgrab in Newgrange öffnen.«

»Bravo! Das könnte klappen. Allerdings bezweifle ich, dass er dazu überhaupt in der Lage ist. Hast du ihn dir in letzter Zeit mal angeschaut?«

»Ja, die Sache am Ätna hat ihn ziemlich fertig gemacht.« Ainfar dachte an die Leichen, die jetzt wahrscheinlich dort oben herumlagen, und es schüttelte ihn.

»Ach was, davon hat er sich längst erholt«, widersprach Alebin. »Er ist so am Ende, dass er auch darauf nicht von selbst gekommen ist. Unser sonst so überaus scharfsinniger Freund befindet sich in einer teuflischen Spirale, der Auflösung schon näher als dem Leben, und kann nicht mehr richtig denken.«

»Aber warum denn?«, hakte Ainfar nach.

Alebin bereitete es Vergnügen, derart überlegen zu sein, und er kostete es leidlich aus. Er schlug selbst aus der schlimmsten Lage noch das Beste für sich. »Deswegen bin ich ja drauf gekommen, was passiert ist. Bandorchu ist es.«

Ainfar hob die Schultern. »Ich verstehe nicht …«

»Die beiden sind voneinander abhängig und aufeinander angewiesen. Seit sie durch die Zeit getrennt sind, geht es mit dem Getreuen bergab.« Alebins zerschundener Mund verzerrte sich zu einem bösen Grinsen. »Und mit ihr vermutlich auch, was ich stark hoffen will, da ich nicht mehr durch Eid an sie gebunden bin.«

»Das ist doch absurd.« Ainfar schüttelte abwehrend den Kopf. »Nie und nimmer!«

»Ich sagte es schon zu Beginn: Glaub, was du willst. Du wirst es sehen: Ihm wird es solange schlecht gehen, wie Bandorchu von ihm getrennt ist. Wenn er sich nicht beeilt, zerreißt das Band für immer, und er kann sie nicht mehr zurückholen. Das bedeutet dann auch sein Ende. Ich würde jede Wette darauf eingehen, dass ich Recht habe, kleiner Bruder.« Er lachte schrill. »Das wäre doch die Gelegenheit, diesen ganzen Kram hier zu übernehmen, denkst du nicht?«

Ainfar dachte schweigend nach. Was, wenn Alebin tatsächlich Recht hatte? Dann musste er unbedingt verhindern, dass der Getreue das Zeitgrab öffnete! Denn alles würde sich dadurch wie von selbst erledigen: Die Zeitlinie würde gewahrt bleiben, wenn Bandorchu in der Vergangenheit starb, und der Krieg wäre beendet. »Also gut, dann weiß ich, was ich zu tun habe.«

»Ganz allein?«, fragte Alebin lauernd.

Ainfar zögerte. »Nun, ich müsste Regiatus sofort die Nachricht zukommen lassen …«

»… aber du weißt nicht, wie.« Alebin lachte leise, nun völlig bei der Sache. »Siehst du, deswegen hast du deinen großen Bruder hier unten besucht. Ich reise immer mit nützlichen Utensilien, die man nicht unbedingt gleich bei mir findet. Wenn ich dir etwas gebe, das Regiatus die Botschaft bringt, lässt du mich dann frei?«

»Darauf also willst du hinaus.«

»Das ist doch selbstverständlich, findest du nicht?«

Allerdings, das musste Ainfar zugeben. Ein Handel. Ein Tausch. »Aber welche Garantie bekomme ich, dass meine Botschaft auch ankommt?«

»Ich bin kein Freund der Königin oder ihres Liebhabers – und der Beweis liegt darin, dass ich hier in Ketten hänge. Genügt dir das? Ich will hier raus.«

»Und was hast du mir anzubieten?«

»Erst deine Einwilligung!«

»Du traust mir nicht?«

»Niemandem, kleiner Bruder, das macht mich so erfolgreich. Ich mache dir folgendes Angebot: Weil wir das Blut desselben Vaters in den Adern haben, werde ich dich nicht verraten, ich schwöre es dir. Dies ist ein Handel unter Brüdern: Ich gebe dir einen Träger für die Botschaft, und du lässt mich frei. Keine weiteren Bedingungen.«

Das bedeutete aber auch, dass Ainfar später Fanmór dazu verhelfen konnte, Gericht über den Bruder zu halten. Ainfar wäre nicht mehr an diesen Handel gebunden, da er beendet war, sobald alle Bedingungen erfüllt waren. Und der Gerechtigkeit würde Genüge getan.

Ainfar seufzte. »Also gut. Weil du mein Bruder bist und ich dein Blut nicht an Händen haben will.« Davon trug er heute schon genug, es musste nicht noch mehr dazu kommen.

»Brav. Jetzt komm her und greif mir ins linke Ohr.«

»Das ist ekelhaft.«

»Allerdings, denn ich habe meine Ohren sehr lange nicht mehr geputzt. Nun mach.«

Ainfar konnte sich kaum überwinden, schon allein, dass er so nahe an Alebin herantreten musste, das blutverkrustete Haar wegschieben, um dann zuerst mit einem, dann nach entsprechender magischer Weitung mit zwei Fingern in das Ohr des Bruders zu greifen. Er fühlte Klebriges und Glibbriges, irgendetwas floss heraus, das sich in stinkenden Qualm verwandelte, und Ainfar war nahe daran, sich zu übergeben. Doch schließlich umfassten seine Finger etwas Festes, Warmes, das sich leicht bewegte. Hastig griff er zu und zog die Hand zurück.

Staunend blickte er auf einen weißen Fliegenden Ohrwurm, nicht länger als ein Daumennagel, der sich zwischen den Fingerkuppen wand und vibrierend mit den schillernden Flügeln schlug. »Du bist …«

»… ein echter Teufelskerl, ich weiß, ich weiß.« Alebin grinste. »Na? Überzeugt?«

»Aber wie bringe ich ihn durch das Portal?«

»Keine Sorge, es wird offen sein. Es magisch zu sichern, kostet den Getreuen momentan zu viele Kräfte. Außerdem ist er wahrscheinlich gerade in der Menschenwelt, um seine beiden verblödeten Helfer zu instruieren. Ich habe schon lange keine Geräusche von oben mehr gehört.«

»Dann muss ich mich beeilen.« Ainfar war schon auf dem Sprung, als Alebin schnell einwarf:

»Aber vorher darf ich dich erinnern …«

»Ja. Ich habe es nicht vergessen.« Ainfar prüfte die Ketten. Die Manschetten waren innen mit Eisen ausgelegt, damit der Gefangene sich nicht auf magischem Wege befreite. Die Aufhängung in vier Richtungen tat das Übrige, dass er sich nicht rühren konnte. Ansonsten war weiter kein Geheimnis dabei.

Der Tiermann suchte eine Weile nach dem Schlüssel, fand ihn endlich in einen Felsen eingelassen, und schloss die Manschetten auf – sprach allerdings einen Bann darüber, der sie trotzdem noch zusammenhielt.

»Was soll das?«, rief Alebin empört.

»Eine kleine Absicherung, Bruder«, erwiderte Ainfar. »Sobald der Ohrwurm sicher am Ziel angekommen ist, öffnen sich die Ketten von selbst, und du bist frei. Solange musst du dich gedulden.«

»Ich muss ohnehin noch ein wenig heilen, und hier unten habe ich die beste Ruhe dazu. Mein Folterknecht hat derzeit anderes zu tun, als sich um mich zu kümmern.« Alebin grinste anerkennend. »Gute List, kleiner Bruder, ich bin beeindruckt. Du hast dich enorm entwickelt.«

»Ich hatte einen … guten Lehrmeister.«

»Recht getan. Und nun spute dich, damit ich endlich freikomme.«

Ainfar rannte die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Unterwegs flüsterte er dem Fliegenden Ohrwurm die Botschaft ein. Auf dem Gang angekommen, sicherte er hastig nach allen Richtungen und huschte dann weiter zu Bandorchus Gemächern. Bevor er nach links zur Tür abbog, sah er kurz in der Dämmerung am Ende des Gangs einen großen, unförmigen Haufen liegen, und musste schlucken. Immerhin hatte der Getreue die bedauernswerten Opfer nicht überall verstreut herumliegen lassen.

Und wie Alebin vorausgesagt hatte, war der Mann ohne Schatten nicht anwesend. Woher er das nur immer alles wusste … vielleicht hatten es ihm die Felsen geflüstert. Als Darby O’Gill war er unwiderstehlich, von eleganter Zunge. Egal, in welchem Zustand er sich jetzt befand, er verfügte immer noch über außergewöhnliche Fähigkeiten. Möglicherweise hatte er den Felsen etwas eingeflüstert, das sie dazu brachte, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Vorsichtig probierte Ainfar, die verbotene Tür zu öffnen – und fand sie unverschlossen vor. Als er genauer hinsah erkannte er, dass sich schon vor ihm jemand daran versucht und das Schloss gründlich zerstört hatte, samt Bann. Umso besser.

Auf der gegenüberliegenden Seite strahlte das Portal in gleißendem Licht. Ainfar gab dem Fliegenden Ohrwurm letzte Instruktionen, bevor er ihn losließ. Das kleine Botentier schwirrte ins Licht hinein. Kurze Zeit später flog ein blau leuchtender Funken herein, der gleich darauf verglühte. Das verabredete Zeichen.

Ainfars Herz schlug ihm bis zum Hals. Es hatte geklappt! Der kleine Wurm war durchgekommen und auf dem Weg zu Regiatus in der Anderswelt.

Für einen kurzen Moment war der Tiermann der Versuchung nahe, ebenfalls zu gehen. Doch seine Aufgabe war noch nicht beendet.

Langsam ging er in das Schlafgemach zurück und setzte sich dort an die Bettkante. Alebin dürfte inzwischen frei sein, aber sicherlich den günstigsten Moment abwarten, bis er verschwand. Jetzt war das Risiko zu groß, dass er dem Getreuen über den Weg lief. Es war Ainfar gleich. Er hoffte, den Bruder nie wiederzusehen.

Ainfar rieb sich das Gesicht. Er war sehr müde. Doch das war erst der Anfang.

Er musste kurz eingenickt sein und fuhr hoch, als er das Nahen einer eisigen Aura fühlte. Bald darauf öffnete sich die verbotene Tür, und der Getreue kam herein. Er schien wieder halbwegs bei Kräften, nachdem er so vielen Elfen die Lebenskraft abgesaugt hatte, doch seine Aura flackerte leicht, und seine Bewegungen waren keineswegs so wuchtig wie sonst.

»Es ist alles vorbereitet«, sagte er zu Ainfar. Mit keinem Wort erwähnte er seinen Missmut, dass der Elf niederen Rangs sich auf dem königlichen Bett niedergelassen hatte, wenn auch nur bescheiden am Rand. Ebenso wenig interessierte er sich für seinen Namen. »Hol die fünfzig, und die anderen sollen auf Abruf warten. Teile den übrigen mit, dass sie bald das Schattenland verlassen dürfen, sobald ich das Zeichen gebe.«

Der Tiermann schaute auf. »Alle?«

»Gewiss. Das Portal bleibt offen und von dieser Seite aus für jeden frei passierbar. Die Zeit wird diesen Ort zerstören, damit er nie wieder missbraucht werden kann. Er hat ohnehin seinen Sinn verloren.« Der Getreue schüttelte den Kopf. »Und da nennt ihr mich grausam.«

»So einfach ist das nicht, Herr …«

»Manchmal ist es das, Elfenmann. Manchmal durchaus.«

Ainfar dachte an Alebin, der nun ganz legal gehen konnte. Das musste der Getreue doch wissen. Warum tat er das? Oder hatte er ihn schon vergessen in Hinblick auf das, was er jetzt zu tun hatte?

»Ich muss zurück. Erledige, was ich dir aufgetragen habe. Cor und der Kau nehmen euch auf der anderen Seite in Empfang und werden euch an einen sicheren Ort bringen. Dort wartet ihr auf euren Einsatz.«

»Wie Ihr wünscht, Herr.« Ainfar stand auf, verneigte sich und ging in den Thronsaal zurück.

Er hielt eine Ansprache an die wartenden Elfen mit dem Auftrag, seine Worte hinauszutragen und überall im Schattenland zu verbreiten: von nun an existierte das Reich der Schmerzen und des Schreckens nicht mehr. Nur noch kurze Zeit, dann durften alle, die dazu in der Lage waren, das Land ohne Wiederkehr verlassen.

Ja, manchmal bereitete das Schicksal seltsame Wege. Ausgerechnet Ainfar trat nun als Verkünder im Auftrag des Getreuen auf. Es dauerte eine Weile, bis die Elfen das Gesagte verinnerlicht und die Tragweite erfasst hatten. Ainfar sah Tränen in den Augen Eledulas, und nicht nur in ihren. Für einen Augenblick war er gerührt und ergriffen. Was für ein wunderbarer Moment in dieser Zeit des Niedergangs. Eine sanfte Berührung vor dem grausamen Ende. Doch … es war gut so. Sollten sie sich alle darauf besinnen, wer sie waren, und um die Zukunft als unsterbliches Volk der Anderswelt kämpfen.

Deswegen war Ainfar hier, hatte all das auf sich genommen – für genau diesen Moment, und weitere sollten folgen. Er war zutiefst befriedigt und nickte Eledula aufmunternd zu. Dann richtete er den Blick wieder auf die Aufgabe.

Die fünfzig Soldaten im Gefolge, machte Ainfar sich ein letztes Mal auf den Weg zum Portal.

Noch einmal war er ergriffen, Freude durchströmte ihn wie ein warmer Sonnenstrahl, als er als Erster auf das gleißende Licht zuging, darin eintauchte, den Weg in die Freiheit entlangschritt und die Menschenwelt am anderen Ende greifbar nahe vor sich sah.

Elfenzeit 5: Trugwandel

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