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6.
Verfolger im Nacken

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London – Freitag, 26. April 1715

Der zu Boden geschlagene Edmond Halley zuckte unter dem Schuss zusammen, in der festen Überzeugung, im nächsten Moment jenen Schmerz zu spüren, der einem unausweichlichen Tod vorausging. Doch er fühlte weder den Treffer noch Wunde oder Blut, das sich warm und verräterisch auf ihm ausbreitete. Stattdessen erklangen Rufe.

»Stehenbleiben! Im Namen des Gesetzes, bleiben Sie stehen!«

Schatten im fahlen Licht der Laterne. Wasser, das aus Pfützen spritzte. Schritte, die sich schnell entfernten. Von wie vielen Personen konnte Edmond nicht ausmachen. Die Geräusche vermischten sich in seinem Kopf zu einem chaotischen Missklang.

Zusammengekrümmt, die Augen geschlossen lag er da und wartete auf den nächsten Schlag. Doch es kam keiner. Ohne noch ein Gefühl für die Zeit zu haben, öffnete er die Lider. Doch die Welt zeigte sich schief und dunkel wie ein Höllenloch.

Verzweifelt suchte er nach einem Anker, einem Haltepunkt für seinen Verstand. Wo war seine Kladde? Nachdem er sie trotz des vernebelten Blicks kaum einen Meter entfernt auszumachen glaubte, streckte er einen Arm aus, um sie zu sich zu ziehen. Doch der Abstand war zu groß. Mühsam robbte er auf der Seite liegend vorwärts. Näher und immer näher heran, bis seine Fingerspitzen das durchweichte Leder berührten.

In dem Moment erklangen erneut Schritte. Zügig kamen sie heran. Edmond kniff die Augen zusammen, um sich totzustellen und weiteren Schlägen zu entgehen. Blind vernahm er, wie das Klacken der Schuhsohlen langsamer wurde und schließlich nah bei ihm verstummte. Jemand stand zwischen ihm und der Laterne und warf seinen Schatten. Edmond konnte die Präsenz des Fremden fast schon körperlich spüren, als er sich über ihn beugte.

»Mister? Hören Sie mich?« Eine Hand griff nach Edmonds immer noch ausgestrecktem Arm und rüttelte ihn leicht. »Mein Name ist Constable Donald Leonard Johnson. Können Sie mich verstehen?«

Edmond schlug die Augen auf und wollte antworten. Doch es kam nur ein unartikulierter Laut aus seiner Kehle. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Scharfer Schmerz brannte in seiner Magengrube und strahlte bis hoch in die Brust aus.

»Halley«, brachte er schließlich immer noch atemlos hervor. »Ich heiße Edmond Halley.«

»Halley, der Astronom und Mathematiker?« Die Stimme des Constable klang überrascht und fast schon ehrerbietig. Offensichtlich gab es doch noch Männer in London, die die Wissenschaft dem Aberglauben vorzogen.

»Genau der«, gab Edmond zurück. Ein Hustenanfall trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch soweit er in seinem Schockzustand beurteilen konnte, war er ohne größere körperliche Schäden davongekommen. Lediglich der Schmerz in Leibesmitte erschwerte ihm das Atmen.

Als er endlich saß, zog er sich mit zusammengebissenen Zähnen das Hemd aus der Hose nach oben. Im trüben Licht sah seine Bauchdecke rot, mit einem ins Violette gehenden Schimmer aus. Bei einer massiven Einblutung hätte sich das Bindegewebe wohl schon dunkelschwarz verfärbt.

»Benötigen Sie einen Arzt?«, fragte Johnson.

Edmond winkte ab und streckte ihm anschließend seine Hand entgegen. »Helfen Sie mir lieber auf. Aber langsam.«

Der Constable packte zu und zog Edmond vorsichtig auf die Beine. »Eigentlich war ich auf dem Nachhauseweg und hatte von der Straßenecke Pendelton verdächtige Geräusche gehört.«

»Das war mein Glück«, stellte Edmond immer noch etwas gepresst fest. Vorsichtig richtete er sich in seiner Gänze auf und atmete sacht einmal durch. Dann sah er sich erneut nach seiner Kladde um.

»Leider sind mir die Burschen entwischt. Nach meinem Warnschuss haben die sich sofort davongemacht. Heutzutage ist man nirgends mehr sicher vor diesen Räuberbanden«, merkte Johnson an und hob für Edmond die Tasche auf.

»Oder vor religiösen Fanatikern«, fügte Edmond hinzu.

Der Constable nickte andeutungsweise. Da er Edmond am Namen erkannt hatte, konnte er sich den Rest gewiss denken. »Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte Johnson nach einer Pause.

Edmond strich seine Kleidung notdürftig glatt. Was würde Isaac ihm raten? Es auf sich beruhen lassen? Keinen weiteren Staub aufwirbeln? Oder in die Offensive gehen? Den Gegnern die Stirn bieten?

Kämpferisch geht der Stier zugrunde, hieß es in einem der Gedichtbände, die sie gemeinsam gelesen hatten. Edmond wollte ein Stier sein. Für die Sache, für die Wissenschaft und für das Ego. Ob das klug war, würde sich später herausstellen.

»Das will ich«, antwortete Edmond ernst.

Der Constable sah wenig erfreut aus. Kein Wunder. Er war ja nicht einmal im Dienst. Wahrscheinlich hielt ihn die ganze Sache vom Abendessen mit der Familie ab. Aber darauf konnte Edmond jetzt keine Rücksicht nehmen. Es gab Kämpfe, die man durch Schweigen und Stillhalten gewann. Durch seine Ausdauer und bloße Anwesenheit. Aber dieser hier brauchte Standfestigkeit und laute Widerworte.

»Ja, ich will Anzeige erstatten«, wiederholte Edmond mit fester Stimme und erhobener Hand. »Das hier war mehr als nur eine Lappalie. Es ging ihnen nicht darum, mir ein paar Schillinge aus der Tasche zu rauben. Sie wollten mich verletzen, ja vielleicht sogar umbringen!«

Constable Donald Leonard Johnson nickte knapp und kramte in seiner Manteltasche. »Natürlich, Sir. Das ist Ihr gutes Recht.«

Edmond verfolgte, wie der Wachmann nun in seiner Innentasche herumsuchte, doch er schien nicht fündig zu werden. Stattdessen ließ er die Hände sinken und sah Edmond das erste Mal direkt an. »In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit und Ihres Zustandes, werden wir die Befragung besser morgen früh durchführen. Wäre Ihnen acht Uhr genehm?«

»Nichts zu schreiben dabei?«, fragte Edmond und drückte die Kladde dabei an seine Brust.

»So ist es«, gab der Constable zu.

»Kann passieren«, kommentierte Edmond und hob müde lächelnd einen Mundwinkel. Ihm gefiel Johnsons Art, nicht um den heißen Brei herum zu reden. Kein langes Geschwafel oder anbiederndes Gerede, um ja nichts Falsches zu sagen oder um sich aus der Verantwortung zu ziehen.

»Acht Uhr also«, erbat der Constable nochmals die Bestätigung. »Ist das hier Ihre Wohnadresse?« Er deutete auf die Eingangstür des Hauses.

»Ich wohne mit meiner Familie in Islington. Dies hier ist nur mein Arbeitsdomizil. Erster Stock. Meine Vermieterin, Mistress Delainy, wird Ihnen aufmachen und den Weg weisen«, sagte Edmond.

Trotz seines von Wut gespeisten Tatendrangs war er genau genommen froh, die Befragungsprozedur nicht noch heute Abend durchstehen zu müssen. Denn mit der wiedergewonnenen Klarheit wurden auch die Schmerzen immer deutlicher spürbar.

Das schien auch Johnson zu bemerken. Er drehte sich zum Gehen, zögerte und wandte sich nochmals um. »Wirklich alles in Ordnung, Sir? Ich kann Sie noch bis zur Schwelle begleiten. Es ist keine Schande, etwas wacklig auf den Beinen zu sein, nach so einer Attacke. Das kann selbst den stärksten Mann aus dem Tritt bringen.«

Edmond besah ihn sich genauer. Der Constable hatte klare helle Augen, die selbst im Halbdunkel der Straßenlaternen blau schimmerten. Der Nasenrücken war ein wenig schief. Vielleicht die Folge eines Kampfes oder anderweitigen Scharmützels im Dienst. Er war mittleren Alters, soweit sich das sagen ließ. Doch seine Haut war die eines Jugendlichen. Kaum Spuren eines Bartes. Und das, obwohl der Tag gewiss lang gewesen war und man in seinem Beruf gewiss keinen gesteigerten Wert darauf legte, sich zum Fünf-Uhr-Tee noch frisch rasiert zu zeigen.

Er war keiner dieser Schnösel, die zu sehr in ihr eigenes Spiegelbild verliebt waren. Einer, der sich unbequemen Situationen stellte, anstatt aus Bequemlichkeit wegzusehen oder gar die Hand aufzuhalten. Das war in diesen Zeiten nicht selbstverständlich. Schließlich wurden die Constables mehr schlecht als recht bezahlt.

Edmond beschloss, Donald Leonard Johnson zu mögen. Daher lächelte er ehrlich und schüttelte dann den Kopf. »Danke, Constable. Sie haben bereits genug getan. Mehr, als ich erwarten durfte. Ich danke Ihnen und wünsche einen guten Heimweg. Wir sehen uns morgen. Tee oder Kaffee?«

»Selbstverständlich Tee. Mit viel Milch«, erwiderte Johnson und deutete einen Salut an.

Nachdem Edmond sich ins Haus geschleppt hatte, fing ihn Mistress Delainy im Treppenaufgang ab. »Wer waren diese Männer?«, polterte sie in gewohnt forscher Art. War es denn wirklich zu viel verlangt, erst einmal nach seinem Befinden zu fragen?

»Irgendwelche Diebe und Rumtreiber«, antwortete Edmond, weil er keine Energie mehr hatte, sich näher zu erklären.

»Das sah mir aber eher nach etwas Persönlichem aus!«, insistierte die Hausherrin unnachgiebig.

Edmond stöhnte innerlich auf. Aber er musste sich zusammenreißen. Seine Professur machte ihn nicht gerade reich. Und mit der Hetze, die ihn in den letzten Wochen ungut in den Mittelpunkt rückte, würde er in nächster Zeit wohl kaum eine andere Bleibe finden. Vor allem nicht in so einer Lage. Das Arbeitszimmer war sein Rückzugsort und der einzige Platz, an dem er sein konnte, wie er wirklich war.

»Der Constable war ja da und wird die Angelegenheit klären«, versuchte er die zu erwartende Diskussion abzukürzen.

»Dass mir das nicht noch einmal vorkommt. Nicht vor meinem Haus«, sagte Mistress Delainy mit pikiert hochgerecktem Kinn.

»Natürlich, Madam.« Edmond Halley verbeugte sich schicksalsergeben vor der Matriarchin des Hauses und schickte sich an, die Treppe zu seinem Zimmer hinauf zu gehen.

»Und bluten Sie mir ja nicht die Möbel voll! Sowas geht nie wieder raus aus den Stoffen!«, rief Mistress Delainy ihm hinterher.

Edmond verzichtete auf eine Antwort, sperrte oben angekommen die Tür hinter sich zu und schleppte sich zum Bett, wo er sich angezogen in die Kissen sinken ließ.

Der nächste Morgen brachte Schmerzen und weitere blaue Flecken mit sich. Nicht nur auf seiner Bauchdecke, sondern auch am Rücken, den Schultern, der Brust und den Oberarmen. Er würde etwas Laudanum zu sich nehmen müssen, um sich auf den Beinen halten zu können. Immerhin war sein Gesicht verschont geblieben.

Punkt acht Uhr erschien Constable Donald Leonard Johnson zusammen mit Mistress Delainy, die ihnen wie erwartet Tee servierte. Mit einem extra Kännchen Milch für den Constable und etwas englischem Toast mit Butter und Honig.

»Nur zu, setzen Sie sich«, sagte Edmond und bot ihm den Sessel an, den er an den Arbeitstisch herangerückt hatte. Er war genau genommen keinen Besuch gewohnt. Nicht nur, weil seine Vermieterin es nicht gern sah, sondern weil er selbst seine Privatsphäre zu schätzen wusste. Selbst Isaac war erst ein einziges Mal hier gewesen, um ihn zu einem Konzertbesuch abzuholen. Eine Ausnahme, ihm zuliebe. Weil sein Freund neugierig gewesen war, wie er ohne Frau und Kinder hauste. Aber das war eine andere Geschichte, die hier nicht hergehörte.

Auch Edmond nahm Platz und schenkte Tee ein, während sich der Constable den Hut, den er heute dabeihatte, abzog und in Ermangelung eines Ablageplatzes schließlich auf das Fenstersims deponierte.

Johnson ließ sich Zeit, goss sich Milch ein und rührte um. Dann erst zückte er eine kleine, in Leder gebundene Kladde aus der Tasche des über die Stuhllehne geschlagenen Mantels und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Lassen Sie uns ganz von vorn beginnen.«

Edmond gab ihm Name, Anschrift, Berufsstand. Danach berichtete er, wo er den Abend verbracht und wie er heimgekommen war, bevor ihn die Schläger überfallen hatten.

»Haben die Angreifer etwas zu Ihnen gesagt?«, fragte Johnson.

»Sie meinen neben all den wüsten Beschimpfungen?«, erwiderte Edmond. Er fühlte die Wut zurückkehren, wie sie in seinem schmerzenden Magen brodelte und ihm die Kehle hinaufkriechen wollte.

»Sie äußerten die Vermutung, dass es sich …« Johnson leckte sich die Oberlippe. »… dass der Überfall mit Ihrer Arbeit zusammenhängen könnte.«

Offenbar war der Constable im Dienst nicht mehr so geradeheraus wie am Abend zuvor.

»Sie meinen, ob ich glaube, dass meine Vorausberechnung der Sonnenfinsternis etwas damit zu tun hat? Ja, ganz sicher. Sie doch auch.«

Johnson straffte sich und griff nach der Teetasse. »In der Tat. Also hat offenbar die Gemeinschaft Christi Sanguis et Aqua ihre Drohungen wahrgemacht.«

Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung. Da war er also wieder, der Mann ohne Schnörkel.

»Sekte. Diese fanatisch religiöse Vereinigung ist eine Ansammlung von Sektierern der schlimmsten Sorte«, bestätigte Edmond und trank von seinem Tee. Schwarz, stark und ohne irgendeine Süße, die seiner Meinung nach nur in Kuchen oder Obst gehörte.

»Haben Sie irgendwelche Beweise für diese Anschuldigung?«, fragte der Constable ruhig und routiniert. Keinerlei Anflug von Zweifel oder Unglaube in der Stimme. Er machte einfach nur seine Arbeit.

»Ich erhielt einen Drohbrief just am gestrigen Morgen«, gab Edmond ebenso sachlich zurück und nippte erneut an seiner Tasse. »Zwar nicht unterzeichnet, doch die Symbolik würde wohl selbst ein Hausmädchen verstehen. Nicht dass ich eines hätte, um das zu demonstrieren.« Er lächelte angedeutet.

Der Constable hob flüchtig die Mundwinkel. »Kann ich ihn sehen?«

Edmond legt ihm den Brief auf den noch leeren Teller. »Essen Sie etwas. Der Honig ist wirklich vorzüglich.«

Johnson griff nach dem Dokument und studierte es eingehend. »Ihnen ist klar, dass Sie außerhalb der Stadt sicherer aufgehoben wären, bis … nun, bis diese Angelegenheit vorüber ist?«

»Sie denken, auf dem Land gibt es keine Scheiterhaufen, die für mich bereitstehen? Dann sind Sie wohl ein Stadtkind«, konterte Edmond und diesmal konnte er die Spitze in seiner Bemerkung nicht gänzlich unterdrücken.

Er war die Dummheit der Menschen so leid. Dieser Samen des Fanatismus, der überall spross, wenn man den Bornierten etwas Neues und für sie Unbegreifliches präsentierte. Egal, wie sehr es mit Daten und Fakten belegbar war. Der Mob wollte am Ende jemand brennen sehen. Aus reiner Lust an der Jagd und dem Schauspiel.

»Es ist Sommer. Sie könnten an die Küste fahren«, schlug Johnson vor. »Nur für ein paar Tage.«

»Und diese eine Sonnenfinsternis, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekomme, irgendwo zwischen Schafen auf der Weide bewundern? Dafür bin ich nicht Wissenschaftler geworden.«

»Um zu sterben oder sich totschlagen zu lassen, aber gewiss auch nicht.«

Edmond lächelte gequält. »Touché.«

Vielleicht würde ihm die Royal Society in dieser Angelegenheit zur Seite stehen. Immerhin kam es auch ihr zugute, wenn die Mitglieder Ruhm und Ehre einheimsten. Warum sollten sie also nicht auch ihren Anteil daran tragen, wenn jemand jenen nach dem Leben trachtete, die die Basis dieser exklusiven Gesellschaft bildeten?

Zugegeben, Edmond war kein großer Fisch im Becken der Wissenschaftler, Professoren und Doktoranden. Er war weder adlig noch ein zum Ritter geschlagener Gentleman. Mit seinen Entdeckungen hatte es bisher nur für einige weniger bedeutende Orden gereicht. Eher pro forma verliehen denn für besonders Herausragendes. Genau das hatte die Entdeckung zur Berechnung der Planetenbahnen ja ändern sollen!

Doch stattdessen hatte er nun die Hexenjäger und Fanatiker am Hals. Und er fürchtete, dass die hochgestellten Würdenträger wenig Lust haben würden, die Royal Society in das gleiche Licht zu rücken. Auch wenn zumindest ihnen klar war, dass Edmonds Berechnungen sicher nicht die Ausgeburt des Teufels waren.

Der Constable schien an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, dass er nicht gewillt war, auf Reisen zu gehen. »Es ist mir in diesen Zeiten nicht möglich, Ihnen eine Leibgarde zu stellen. Das müssen Sie verstehen«, versuchte er es auf anderem Wege.

»Weil ich ja nur ein kleiner Sternengucker bin, nicht wahr?«, ergänzte Edmond und stellte die Tasse etwas zu kraftvoll auf dem Unterteller ab.

»Bitte, Sir. Halten Sie mich nicht für parteiisch oder gar politisch. Das bin ich nicht. Und nebenbei bemerkt, finde ich es außerordentlich spannend, was Sie an unserem Himmel abzulesen vermögen. Aber am Ende bin ich nur ein einfacher Parish Constable ohne höhere Befugnisse.«

Mit unzufriedener Miene griff Johnson nun doch noch nach einem Toast und schmierte sich Butter darauf. »Aber vielleicht könnte ich die Route der Patrouillen für die nächsten Tage ändern lassen. Damit sie öfter an ihrem Haus vorbeigehen«, sagte er, nachdem er den Toast zusammengeklappt und einmal davon abgebissen hatte.

»Das ist mehr als ich erwartet habe«, entgegnete Edmond ehrlich gerührt und beugte sich vor. »Ernsthaft, Constable Johnson. Ich weiß Ihre Haltung wirklich zu schätzen.«

»Und ich Ihren Mut für die Sache«, erwiderte der Constable.

Einen Moment lang sahen sich die Männer unbewegt an. Auge in Auge. Kein Kräftemessen, sondern die Offenbarung von Gefühlen, die man in ihren jeweiligen Positionen nicht zu zeigen hatte. In dieser Gesellschaft war kein Platz für solcherlei Weichheit und Mitgefühl. Und doch fand man diese seltene Art von Menschlichkeit und Seelenanmut, wenn man nur den eigenen Blick dafür öffnete. Wenn man den Kern eines Wesens anerkannte und nicht nur seine Hülle.

Schließlich rückte der Constable den Sessel ein Stück zurück und griff nach seinem Hut. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, was die Ermittlungen angeht. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen, dass wir die Kerle stellen werden, da Sie keinen genauer beschreiben konnten.«

Ein paar kräftige Gestalten, die sich im Dunklen anschlichen. Dazu mit ungehobelten Umgangsformen. Ja, da kamen viele in London in Frage.

»Das Prinzip zählt hier mehr als der Erfolg«, antwortete Edmond und erhob sich ebenfalls.

Zum Abschied schüttelten sich die Männer die Hand. »Passen Sie auf sich auf, Mr Halley.«

Am Nachmittag entschied Edmond, dass er trotz des Vorfalls zur üblichen Tee-Versammlung der Royal Society gehen würde, um die Stimmung unter seinen Kollegen auszuloten.

Er wollte gerade Richtung Park abbiegen, als ihm eine schlanke Gestalt in grauer Kutte auffiel, die zwischen den ersten Bäumen stand. Die Kapuze war nach unten gezogen, das Gesicht nicht auszumachen. Die Person hielt die Hände in den weit fallenden Ärmeln verborgen. Ganz so, wie es die Mönche und Prediger gern taten.

Edmond presste die Lippen aufeinander und blieb stehen. Die Gestalt blicke direkt in seine Richtung. Unbewegt, wie ein grauer, drohender Schatten zwischen den reichbehängten Kastanienbäumen.

Panik stieg in Edmond auf. Bilder des vergangenen Abends flackerten vor seinem inneren Auge. Er glaubte, den Schmerz erneut in seiner Magengrube zu spüren. Es ist helllichter Tag, ermahnte er sich. Niemand wird es wagen, dich jetzt anzugreifen, wo alle es sehen können. Der Mann ist nur ein ganz normaler Geistlicher. Er sieht nur zufällig in meine Richtung. Mehr nicht.

Doch sein Körper wollte ihm nicht recht glauben, die Beine nicht gehorchen, als er versuchte weiterzugehen. Nicht, wenn er diese Richtung einschlagen wollte. Sollte er umkehren? Fliehen? Vor einem Hirngespinst?

Nein. Auf keinen Fall wollte er sich der Angst beugen. Er würde einfach den Umweg über die Straße wählen, statt den angenehmeren Weg durch den Park. Dann würde sich zeigen, dass er sich etwas einbildete.

Mit einem kurzen verlegenen Blick in den Himmel drehte Edmond sich nach links und marschierte möglichst unbekümmert den Fußweg entlang. Weg vom Eingang des Parks. Weg von seinem potentiellen Attentäter.

Er hatte bereits eine Straße hinter sich gelassen, als er Schritte zu hören meinte. Auffällig hektische Schritte. Solche, die ihn verfolgten. Edmond spannte die Kiefer an. Hirngespinste waren das. Angstgestalten. Reine Phantasie! Aber so gewaltig, dass sie sein Herz rasen ließen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, seinen Atem wurde zusehends kürzer und abgehackter.

Näher und immer näher schienen die Schritte zu kommen. Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster. Trugen Mönche Lederschuhe? Seine Logik versuchte durch das Wirrwarr seiner Gefühle emporzusteigen, dagegen anzukämpfen. Ohne Erfolg.

Edmond glaubte, den Atem seines Verfolgers bereits im Nacken zu spüren. Doch immer noch wagte er nicht, sich umzudrehen. Bloß nicht stehenbleiben. Ja nicht innehalten. So wenig wie möglich Angriffsfläche bieten. In der Menge verschwinden. Ja, er musste sich verstecken. Zwischen den Menschen. Irgendwo. In einem der Läden.

Edmond blickte hektisch die schmalen Eingänge der Geschäfte entlang. Beim Schuster war zu wenig los. In der Parfümerie für Damen würde er zu sehr auffallen. Als nächstes kamen mehrere kleine Fensterausschnitte aus Bleikristall in Sicht, die Auslagen eines Hofschneiders, der auch die Fertigung von Kleidung für den vermögenden eleganten Herrn anbot. Braune und weiße Allonge-Perücken, Justaucorps in Samt und Seide mit breiten Ärmelaufschlägen mit Spitzenbesatz, Westen, Culottes und Jabots.

Kurzerhand trat Edmond ein.

»Guten Tag, Sir«, wünschte ein hagerer Mann in adrettem Justaucorps. In der angrenzenden, offen einsehbaren Schneiderei wurde fleißig gewerkelt.

»Guten Tag«, sagte Edmond und merkte, dass in seiner Stimme etwas Gehetztes lag. Also atmete er gezwungen einmal durch und trat hin zu den Auslagen für weiße Spitzenhalstücher.

»Was kann ich für Sie tun? Wünschen Sie etwas zu Ihrem aktuellen Kleider-Ensemble?« Der Mann, der wohl für den Verkauf zuständig war, klang höflich-reserviert und deutete auf die verschiedenen Auslagen ringsum.

Edmond konnte nicht anders, er blickte über die Schulter hin zum Eingang. Und tatsächlich, auf der anderen Seite einer Scheibe stand jemand und schaute herein. Edmond konnte ihn zwischen zwei Perückenständern nicht genau erkennen.

Was jetzt? Seine innere Stimme schrie ihn an, sich zu verstecken. Sich zu verkriechen und den Atem anzuhalten, bis die Gefahr vorüber war. Sein Verstand protestierte. Hier in der Öffentlichkeit? Vor Zeugen? Unmöglich.

Doch die Angst quoll in ihm über. »Einen Rock. Ich benötige einen festlichen Rock für eine Festrede«, stammelte Edmond und stürmte weiter zum rückwärtig gelegenen Regal mit den Stoffen, aus denen maßgefertigte Kleider wurden.

Im Vorbeigehen sah er, dass der Verkäufer die Augenbrauen hob und den Blick an Edmond entlang wandern ließ. Abschätzend, wen er da vor sich hatte. Doch Edmond war es egal. Er deutete auf einige Stoffe. »Haben Sie wohl irgendwo einen Spiegel, vor dem ich mir ein paar Tücher hinhalten kann, ob mir die Farben und Muster überhaupt stehen? Und das ungestört, ich meine … ohne, dass mir jeder dabei zusieht?«

»Gewiss doch, Sir, dafür haben wir ein kleines Séparée«, sagte der Mann indigniert. Ihm war deutlich anzumerken, dass er Edmond für keineswegs zahlungskräftig genug hielt, war aber zu sehr Gentleman, um ihn sofort hinauszukomplimentieren. Er suchte Edmond ein paar Reststoffe heraus, die für diesen Zweck gedacht waren, und führte ihn in ein kleines, durch Vorhänge von Geschäft und Schneiderei getrenntes Abteil mit einem halbhohen Spiegel.

Das Herz hämmerte in seiner Brust. Und weiter? Allzu lange konnte er sich nicht aufhalten, bis er hinausgeworfen wurde.

Um seinen Atem zu beruhigen, dachte er an die Berechnungsformeln des Längenproblems, über das er in seinem Vortrag gesprochen hatte.

Eine Männerstimme erklang im Eingang. Ein scharfer, herrischer Bariton. Doch zu weit weg, um das Gesagte klar verstehen zu können. Edmond ging rückwärts, bis er sich im Vorhang verwickelte. Wie dumm er doch war. Hier drinnen saß er in der Falle!

Erneut waren Schritte zu hören. Jemand blieb auf der anderen Seite des Vorhangs stehen. Edmond konnte elegante Schuhspitzen durch den Spalt zwischen Vorhang und Boden sehen.

Doch bevor der Vorhang beiseite geschlagen werden konnte, hörte Edmond ein leises Poltern, gefolgt von einem Stolpern und Fluchen, und die Schuhspitzen verschwanden. »Verzeihung, das tut mir wirklich leid. So ein Missgeschick aber auch.«

Die neue Stimme war zu Edmonds Überraschung weiblich und gehörte ganz offensichtlich einer Französin, die bemüht war, gutes Englisch zu sprechen. Sehr ungewöhnlich für eine Nichtadlige.

Der Mann mit der Baritonstimme beschimpfte sie. »Was hat ein ungeschicktes Weibsbild hier überhaupt verloren?«

»Oh, das tut mir sehr leid, was für ein Unglück«, stammelte die Frau in fast schon übertrieben bedauerndem Tonfall. »Ich muss den edlen Herrn übersehen haben, als ich nach meinem Mann Ausschau gehalten habe. Ist er hier?«

Edmond blinzelte.

»Das kommt wohl darauf an, wer Ihr werter Herr Gemahl ist«, antwortete der Verkaufsmann hörbar pikiert.

»Er sagte, er wolle hier hereinschauen!«, gab die Französin ein wenig näselnd zurück. »Er hat einen furchtbaren Geschmack. Daher muss ich ihm bei der Auswahl helfen.«

»Madam, wir sind ein anständiges Geschäft! Ich weiß nicht, was für verlotterte Sitten in Frankreich Einzug gehalten haben, doch hier sind Sie als Frau fehl am Platze und ich muss Sie augenblicklich bitten zu gehen!«

»Sie haben ihn also nicht gesehen?«, wiederholte die Frau.

»Sie gehen jetzt!«, forderte der Gentleman sie erneut auf.

Der Mann mit dem Bariton pflichtete bei. »Sind wir hier in einer Hafenbar, dass verdorbenes Weibsvolk einfach reinmarschieren kann?«

Ein Schotte, da war sich Edmond sicher. Es lag an der Betonung der harten Konsonanten.

Unter Protest wurde die Frau aus dem Geschäft gedrängt, und der Schotte verschwand ebenfalls unter Flüchen.

Edmond wischte sich fahrig über das Gesicht, löste sich aus dem Vorhang und stürmte an dem Verkaufsmann vorbei, warf ihm die Stoffe in den Arm. »Gefällt mir alles nicht!«, rief er und rannte hinaus auf die Straße.

Im Moment war niemand in der Nähe. Hoffentlich versteckten sich der unheimliche Schotte und die seltsame Französin nicht irgendwo, um die Verfolgung wiederaufzunehmen. Immer noch wie betäubt, schlug Edmond erneut den Weg zur Royal Society ein. Eher ein Reflex, denn im Grunde war ihm viel mehr danach, sich in sein Bett zu verkriechen und die Welt dort draußen Welt sein zu lassen.

»Sir! Warten Sie!«, rief hinter ihm ein Junge. »Mister Halley! Bitte, Sir!«

Edmond zog die Brauen zusammen, blieb stehen und drehte sich um. Ein Junge mit schmuddligen Hosen kam ihm keuchend nach. Er hielt einen Ausschnitt des Zeitungsartikels in Händen, der vor einer Woche über Edmond und seine Berechnung der Sonnenfinsternis gedruckt worden war.

Vorgewarnt musterte er den Jungen mit prüfendem Blick. Doch der Knirps musste erstmal wieder zu Atem kommen. Schnaufend stand er vornübergebeugt da, während sich sein Rücken im schnellen Rhythmus hob und senkte.

»Was willst du, Junge?«, fragte Edmond barsch.

»Eine Nachricht, Sir. Ich soll eine Nachricht überbringen.«

Edmond schwante nichts Gutes.

»Die Lady hat mir den Artikel gegeben, damit ich Sie erkenne, Sir«, erklärte der Junge, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

»Welche Lady?«, fragte Edmond misstrauisch.

»Mistress Delainy. Weil es doch diesen Aufruhr gab und der Constable kommen musste. Sie sagte, ich soll Sie suchen.« Damit streckte er Edmond einen kleinen gefalteten Brief entgegen.

Es war tatsächlich Mistress Delainys Handschrift, das konnte Edmond sofort an den weiten Bögen der Anfangsbuchstaben erkennen.

Geehrter Mister Halley,

bitte kommen Sie umgehend nach Hause.

Es ist etwas Furchtbares geschehen!

Gezeichnet

Mistress Delainy

Das klang ernst, wenn auch ziemlich vage. »Seit wann suchst du mich?«, fragte Edmond.

»Ist schon ein Weilchen her, Sir. Hab mich aber wirklich beeilt, weil die Lady so aufgelöst schien. War erst im Park, weil’s hieß, da könnt ich Sie abfangen. Aber damit war’s nichts. Da bin ich hier entlang und zack, sind Sie mir ins Auge gesprungen. Ich hab nämlich gute Augen«, erklärte der Junge eifrig.

Edmond wusste, wieso. Er griff in die Hosentasche und reichte dem kleinen Boten eine Münze für seine Bemühungen. Dann eilte er den Weg zurück. Alles Weitere war vorerst nebensächlich.

Elfenzeit 6: Zeiterbe

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