Читать книгу Elfenzeit 6: Zeiterbe - Uschi Zietsch - Страница 15
7.
Nimues See
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Rian belud ihren Frühstücksteller mit allem, was das Hotel-Büfett zu bieten hatte. Dampfende Croissants, knackig frisches Baguette mit einem großen Stück Butter und dazu Ei, Aufschnitt und eine Handvoll Beeren, die sie oben drüberstreute.
»Willst du den ganzen Ort durchfüttern?«, scherzte David.
»Ich sorge nur vor«, entgegnete Rian mit breitem Grinsen und setzte eine Erdbeere obenauf.
Ihr Bruder versuchte gute Laune zu verbreiten, doch sie sah die dunklen Ränder unter seinen Augen. Er wirkte mitgenommen. Ausgelaugt. Nadjas Entführung und seine Hilflosigkeit in dieser ganzen Angelegenheit setzten ihm sichtlich zu.
Aber es war, wie die Blaue Dame und auch Fabio es gesagt hatten. Sie mussten zusammenbleiben, sich gegenseitig unterstützen. Wenn die Herrin vom See nach einem verlangte, dann hatte man sich einzufinden. Und zwar auf schnellstem Wege. Oder, zumindest ohne größere Zwischenstopps. So lauteten die elfischen Regeln. Egal, ob sie in der Anderswelt bei den Sidhe Crain waren oder hier in der Menschenwelt.
Rian war versucht, David gut zuzureden. Aber sie wusste, es würde alles nur noch schlimmer machen. Schließlich hatte er jetzt ein Stück Seele und damit auch ein ganz neues Repertoire an Gefühlen, die sich wie Wildpferde gebärdeten, wenn man die falsche Bewegung machte.
Stattdessen genoss Rian ihr Mahl, holte sich ein weiteres Glas Orangensaft und blickte durch die Fensterfront hinaus auf die noch vom Morgentau feuchte Terrasse. Durch den gestrigen Regen war es vergleichsweise kühl für die Jahreszeit. Der Himmel spannte sich in einem klaren Blau über den Ort. Es würde ein schöner Tag werden. Viel zu schön, um ihn damit zu verbringen, in ein mystisches Schloss unter Wasser zu hinabzusteigen. Aber genau das war ihr Ziel.
»Wie wäre es, wenn wir uns auf Fahrrädern auf den Weg zum See machen?«, schlug Rian erneut vor. Pierre hatte schließlich erwähnt, dass es einen Verleih gleich um die Ecke gab.
David verzog das Gesicht, trank von seinem Kaffee und bequemte sich erst nach einer Weile zu einer Antwort. »Willst du nassgeschwitzt vor Nimue treten?«
»Ach was. Wir nehmen einfach diese elektronischen Dinger. Die, mit denen das Fahren nicht so anstrengend ist. Das wird wie Rollerfahren in Italien. Wind im Haar, Sonne im Gesicht und die Welt lächelt einem zu.«
Ihr Bruder verdrehte die Augen. »Wenn es sein muss. Aber du organisiert die Dinger.«
»Abgemacht!« Rian sprang auf, griff sich am Büfett noch einen Apfel für zwischendurch und winkte ihrem Bruder. »Komm endlich, dir wird schon kein Zacken aus dem Krönchen fallen, wenn du mal in die Pedale trittst. Wir haben einen Ausflug vor uns.«
Brocéliande Bike Tour war kaum zweihundert Schritte entfernt. Eher eine Lagerhalle als ein Laden. Dafür aber mit genug Rädern, um auch ohne Reservierung zwei passende für unwegsames Gelände herauszusuchen.
»Mit den dicken Profilen ist es zwar anstrengender zu fahren, aber dafür halten sie die vielen kleinen Kanten aus, die sich in die Reifen drücken, wenn ihr über die Schiefersteinwege fahrt«, erklärte Serge.
Ein junger, dunkelhäutiger Kerl mit wundervoll schwarzer Wuschelmähne. Seine Augen funkelten wie zwei geschliffene Tigeraugen-Gemmen. Die Blicke, die er Rian zuwarf und die Stimmlage machten deutlich, dass er durch und durch Franzose war.
Rian nutzte die Gelegenheit und ließ sich von ihm auf der kleinen Faltkarte aus dem Hotel die beste Strecke beschreiben, die sie zum See führen würde. Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit einer App auf dem Smartphone, aber die Elfenprinzessin winkte ab.
»Wenn es schnell gehen soll, dann könnt ihr an der D773 entlang nach Norden fahren. Immer geradeaus, bis kurz vor La Loriette. Nach der kleinen Siedlung rechts ab zwischen den Feldern entlang. Der See de Comper und das Chateau mit dem Artus-Zentrum sind ausgeschildert.« Serge malte die Strecke mit seinem Finger nach und tippte dann ans obere Ende des Sees. »Da gibt es auch Souvenirs oder Führungen durch das Schloss. Ich würde euch ja selbst rumführen, wenn ich Zeit hätte. Gesehen und gehört hab ich das alles schon tausend mal.«
»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach David ihn sichtlich ungeduldig. »Komm, Rian. Der Tag wartet nicht.«
Der Tag vielleicht nicht, aber Nimue, dachte Rian und setzte ein bedauerndes Gesicht auf. »Danke dir. Au revoir.« Dann warf sie ihm eine Kusshand zu und schwang sich in den Sattel.
Ein bisschen in die Pedale treten, um in Schwung zu kommen, dann schaltete sie den Motor dazu und es ging rasant raus aus dem Lagerhaus und rein ins nächste Abenteuer.
Sie brauchten kaum zwanzig Minuten, bis sie von der Hauptstraße abbiegen mussten. Wenige Augenblicke später tauchte der See zu ihrer Rechten auf. Selbst durch die zahlreichen Bäume ringsum konnte Rian die eigenwillig schimmernde Oberfläche erkennen.
Dem Rat folgend, fuhren sie bis ganz hoch zur Nordspitze. Dort war zwar mit den meisten Touristen zu rechnen, aber der Beschreibung nach würden sie von dort am besten Zugang zum See erhalten. Außerdem würde es weniger auffallen, wenn sie die Fahrräder am Schloss abstellten, statt mitten im Gestrüpp oder gar zwischen den Bäumen im Wäldchen.
Überraschenderweise glich das Chateau auf den ersten Blick eher einer wehrhaften Feste. Von weiteren Besuchern war noch keine Spur zu sehen. Auch sonst lief ihnen niemand entgegen, um etwas zu verkaufen oder sie zu einer Führung hinein zu lotsen.
»Ganz schön ruhig hier. Bist du sicher, dass wir richtig sind?«, fragte David, während er mit elegantem Beinschwung von seinem Fahrrad stieg.
Rian zuckte mit den Schultern, ließ das Rad ausrollen, bis sie in einem kleinen Hof ankam. Dort lehnte sie ihr Rad an die verwitterte Steinmauer und kramte die Karte aus der engen Hosentasche. »Das ist die Stelle, die der Verleiher uns markiert hat.«
Im Grunde war es völlig egal, ob das hier ein Publikumsmagnet war oder nicht. Sie brauchten keine Führung. Zumindest keine, die sich so einfach buchen ließ. Vielleicht war David das kleine Problem noch nicht aufgefallen, ihr aber schon. Die Blaue Dame hatte ihnen gesagt, wohin sie kommen sollten, aber nicht, wie sie das tun konnten. Denn natürlich gab es keinen offensichtlichen Pfad zu Nimues Palast. Und auch kein sichtbares Gebäude. Das alles lag unter Wasser. Magisch geschützt und seit Jahrhunderten im See verborgen.
»Lass uns am Ufer entlanggehen und die ungestörte Zeit ausnutzen«, schlug Rian vor.
Ihr Bruder gab einen leidlich begeisterten Laut von sich, stellte sein Fahrrad ebenfalls ab und marschierte ohne weitere Worte voraus, einen schmalen Trampelpfad entlang. Die Bäume standen auf der westlichen Seite in einer losen Doppelreihe, während es am östlichen Ufer weite Freiflächen und eine kleine Einmündung gab. Genau darauf steuerte ihr Bruder instinktsicher zu.
Der Nachteil des Geländes war, dass sie keinerlei Deckung hatten. Was auch immer sie versuchen würden, um den Durchgang in Nimues Welt zu öffnen, jeder ankommende Tourist würde sie dabei beobachten können.
Doch Rian hatte sich zu früh Sorgen gemacht, denn ihr Bruder lief an der Stelle vorbei, weiter über das teils sandige, teils grasbewachsene Ufer, bis sie eine spitz zulaufende Bucht fanden, die tief genug in den angrenzenden Wald reichte, dass sie vor den Blicken anreisender Gäste des Chateaus geschützt waren.
Soweit, so gut, dachte Rian.
David blieb weiterhin wortkarg. Statt mit ihr zu reden, suchte er das Wasser ab. Aber da war nichts. Kein Schloss. Kein Weg. Nicht einmal Enten oder auch nur eine einzige Wellenbewegung.
Je länger Rian auf den See blickte, umso mehr bekam sie Zweifel, ob er wirklich aus Wasser bestand. Die Oberfläche wirkte zu glatt. Zu homogen. Sie glänzte beinahe metallisch und doch gab es kaum Reflexionen der Umgebung darin. Als würde das Licht und alles, was es mit sich trug, darin absorbiert und in flüssiges Quecksilber umgewandelt.
An diesem Ort lag unverkennbar Magie in der Luft. Alte Magie. Elementarkräfte. Archaische Zaubernetze, die alles überlagerten. Im See. In der Erde. In den Bäumen. Selbst die Insekten und Vögel hatten an diesem Ort den Hauch der Anderswelt an sich.
Nur mit Mühe konnte sie den Blick losreißen. Ihr Bruder hingegen wirkte weitgehend unbeeindruckt. Statt zu glotzen, bewegte er seine Hände und versuchte es mit dem klassischen elfischen Öffnungszauber. Einfach so, aufs Geratewohl auf den See gesendet. Doch die Welt blieb, wie sie war. Verschlossen.
Nachdem David erfolglos einige weitere Zauber gewirkt hatte, versuchte Rian ihr Glück. Sie sammelte Energie, bis violetter Nebel um ihre Hände waberte. Dann rief sie nach den Geistern des Wassers, der Erde und der Luft. Doch nichts davon brachte sie ans Ziel.
»O Herrin, Ihr habt nach uns verlangt! Dann lasst uns auch ein!«, rief David und warf eine Handvoll Uferkiesel auf die makellose Wasseroberfläche.
Ein mehrstimmiges Blubb ertönte, als die Steine eintauchten. Doch etwas fehlte. Die Ringe!, erkannte Rian. Die Kiesel verursachten keinerlei Wellen, die sich ansonsten üblicherweise in größer werdenden Kreisen vom Zentrum des Eintauchens ausbreiteten.
Vielleicht stimmte ihr erster Eindruck. Vielleicht war der See gar keiner, sondern ein einziges großes Trugbild. So wie es in manchen Legenden über das Heim der Herrin vom See gesagt wurde. Angeblich hatte Merlin selbst diesen Ort erschaffen. Eine perfekte Illusion, so hieß es, mit allerlei magischen Barrieren versehen, um allein den Bewohnern den Zutritt oder das Verlassen zu ermöglichen.
Doch bereits seit Jahrhunderten hatte niemand Nimue mehr gesehen. Niemand hatte Einlass erhalten und die Herrin vom See tatsächlich gesprochen. Sie war eine Fee von unerforschlicher Macht, und wie Morgana den Elementargeistern zugehörig.
»Du solltest vielleicht höflich darum bitten!«, ermahnte Rian ihren Bruder.
Doch sie fühlte, dass die Ermahnung zu spät gekommen war. Ihre Gedanken verlangsamten sich, wie von Watte gebremst. Über dem Wasserspiegel zog Nebel auf. Wie weiße Flammen, die in den sonst klaren Himmel emporstiegen. Flackernd und züngelnd, sich gegenseitig verschlingend.
»Ich werde so müde, David«, murmelte Rian. Ihre Lider wollten sich schließen. Waren so unglaublich schwer.
»Bleib wach! Das ist der Ort!«, hörte sie ihren Bruder rufen. Doch der Sinn seiner Worte wollte sich ihr nicht mehr erschließen. Ein wohlig warmes Dunkel breitete sich um sie aus, umfing sie, hob sie auf und bettete sie in einen wunderbaren Schlaf.
Jemand schüttelte sie. Sie fühlte Kiesel gegen ihr Gesicht drücken. »Es ist ein Abwehrzauber. Hörst du, Rian?« Davids Stimme klang wie ein fernes Echo. Etwas zog an ihr. Schlang sich um sie und holte sie langsam ein, wie einen Fisch an der Angel. »Weil ich Magie gegen den See gewirkt habe.«
Abwehrzauber. Wie ein Verteidigungsreflex. Langsam begannen sich Rians Gedanken wieder zu sortieren. Aber warum war David verschont geblieben?
Weil er mittlerweile eine Seele in sich hat, blitzte die Erkenntnis in ihr auf. Die Magie schien nur gegen Elfen gerichtet zu sein.
David kniete neben ihr. Vorsichtig schob er eine Hand unter ihren Kopf und legte die andere über ihren Arm. Rian lag auf der Seite, so als hätte sie sich zum Schlafen direkt an Ort und Stelle zusammengerollt.
Mühsam versuchte Rian sich mit der Hilfe ihres Bruders aufzurichten. »Bist du in Ordnung?«, fragte sie, während sie sein Gesicht gegen den strahlend blauen Himmel zu fokussieren versuchte.
Sein blondes Haar umrahmte Augen, Nase und Mund wie ein seidiger Vorhang und tauchte seine Züge in Dunkelheit. Doch in seiner Brust strahle sein Seelenherz so hellviolett, wie sie es noch nie gesehen hatte. Wie hypnotisiert starrte Rian auf das Licht und streckte eine Hand danach aus.
»Träumst du von einem zweiten Frühstück?«, sagte David und hob schelmisch grinsend eine Augenbraue.
»Ich bin nur ausgerutscht. Also hilf mir auf«, gab sie trotzig zurück, packte seine Schulter und zog sich an ihm hoch. »Bestimmt sollte der Zauber eigentlich dich treffen. Als Strafe für dein ungehobeltes Verhalten.«
»Dann ist Nimue entgegen der Legenden offenbar doch alt und blind geworden«, entgegnete ihr Bruder und grinste noch ein bisschen breiter.
»David! Das ist kein Spaß!« Rian wollte ihn umstoßen, doch ihr Bruder war schneller, machte in der Hocke einen Satz zurück und erhob sich dann lässig.
Als sie nachsetzen wollte, hob er beschwichtigend die Hände. »Immerhin wissen wir jetzt, dass wir richtig sind.«
»Eine Frage, die wir nicht gestellt hatten. Natürlich sind wir hier richtig. Es gibt nur diesen einen See, in dem Lancelot der Legende nach aufgezogen wurde. Das Gewässer, aus dem Artus sein Schwert erhielt.« Rian klang schon fast so wie Nadja, wenn sie wieder einmal etwas von ihrem gesammelten Wissen über die Mythen und Mysterien der Menschheit preisgab.
Auch David schien diese Assoziation zu haben, denn sein Lächeln wurde mit einem Mal sanfter, fast wehmütig, bevor er die Brauen zusammenzog. »Nimue treibt ihre Spielchen mit uns, während Nadja irgendwo eingesperrt auf ihre Rettung hofft. Es ist so typisch für unser Volk. Typisch für all die Wesen, die in den Tag hineinleben, als gäbe es kein Morgen. Immer noch! Obwohl auch uns die Zeit in einen Wettlauf mit dem Tod eingereiht hat.«
Jetzt war es an Rian, ihn sacht am Arm zu berühren. »Ich weiß, dass sie dir fehlt. Dass du nach Nadja suchen willst, mehr als alles andere. Und das werden wir. Sobald wir Nimue aufgesucht und ihr mit meinen Heilkräften geholfen haben.«
David kniff die Augen zusammen. Erneut wurde das violette Leuchten heller, brannte sich förmlich in Davids Brust und wurde größer. Rian ahnte, was das bedeutete. Ihr Bruder hatte seine Seele ein weiteres Stück wachsen lassen. Damit kam er Nadja und dem Menschsein einen Schritt näher und entfernte sich gleichzeitig von Rian und seiner elfischen Familie.
Für einen Moment sah es so aus, als würden Wut und Verzweiflung in ihm siegen. Doch dann entspannte sich sein Gesicht, er ließ die Schultern sinken und das Glimmen erlosch. »Wie also können wir höflich bei der Dame vom See anklopfen?«, fragte er mit einem müde wirkenden Lächeln.
»Vielleicht funktioniert es zur Abwechslung mit Nachdenken«, entgegnete Rian, stupste ihn an und drehte sich schließlich wieder dem See zu.
Was genau wussten sie über das Gewässer, über Nimue und das Schloss? Merlin hatte es angeblich in der Mitte des Sees erbaut. Einen prunkvollen magischen Bau. Aber er war nicht einfach nur unsichtbar für die Menschen. Er war nicht da für sie. Man konnte nicht gegen die Mauern des Schlosses prallen, und die Türme und Gebäude verdrängten kein Wasser. Vielleicht war es wie das Areal rund um das Zeitgrab, in der Dimension verschoben. Oder sogar in der Zeit?
Rian bedauerte, dass sie Pirx und Grog beauftragt hatten, die Dunkle Königin zu verfolgen. Sie hätten ihr Koboldgespür gerade gut gebrauchen können.
Hoffentlich geht es ihnen gut, dachte sie. Vor zwei Tagen hatten sie sich getrennt und nichts mehr voneinander gehört. Jeder hatte seine Aufgabe. Und ihre war es, in dieses Schloss zu kommen!
Rian seufzte und wuschelte sich mit der Hand durch ihr kurzes blondes Haar. »Wie, verdammt noch mal, kommen wir da rein? Sie muss uns doch wenigstens einen Hinweis geben!«
»Rian?«, sagte David mit seltsam belegter Stimme. »Es gibt da etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Weil ich dachte, es wäre nicht wichtig. Oder vielleicht auch, weil ich mir nicht sicher war, ob ich zu halluzinieren anfange. Aber wenn das so ist, dann passiert es gerade wieder.«
Rian drehte sich zu ihm um und folgte mit fragendem Blick seinem ausgestreckten Arm und dem Finger, der das Ufer entlang nach Süden deutete. Sie musste gegen die Sonne anblinzeln, die mittlerweile hoch am Himmel stand. Dem ersten Anschein nach war da nichts Besonderes. Doch ein leichtes Kribbeln in der Magengrube ließ sie genauer hinsehen.
Mit zusammengekniffenen Augen, beugte sie sich vor, fixierte den Uferbereich auf der anderen Seite des Sees, dort, wo sich Strand und Wald in einer Reihe von Sträuchern trafen.
Etwas Weißes schien dort zu kauern. Nicht viel größer als eine Ratte. Aber länglicher. Es bewegte sich einem Wiesel gleich durch das Dickicht, blieb immer wieder stehen und sah sie an. Es wirkte tatsächlich so, als würde das Tier zu ihnen herüberschauen.
»Das weiße Hermelin im Sommer«, flüsterte Rian.
»Die weißen Tiere«, fuhr David fort. »Der Hirsch, die Schlange, das Kaninchen und so weiter.«
Sie kamen in vielen Geschichten rund um Merlin vor. Allerdings konnte er in diesem Fall nicht der Herr über diese magischen Gestalten sein. Denn der größte aller menschlichen Zauberer war schon seit Jahrhunderten gebannt und in der Zeit verloren gegangen. Was genau geschehen war, wusste niemand, es gab nur Vermutungen. Hier irgendwo im Wald von Brocéliande sollte Merlin gefangen sein, wenn man den Mythen glauben wollte. Soweit sich Rian erinnerte, gab es sogar einen Sightseeing-Punkt dazu.
»Also gut, das Hermelin da drüben ist ein Bote. Was will es uns sagen?«, rätselte Rian.
»Ich nehme an, es will, dass wir ihm folgen«, sagte David.
Sie schnaufte. »Aber es hockt auf der anderen Seite des Sees.«
»Das sehe ich«, gab David knapp zurück. Ein Mundwinkel hob sich, als sie ihn anfunkelte.
Das Hermelin saß immer noch da, blickte sie an und schien tatsächlich zu warten. »Okay«, sagte Rian schließlich. »Dann wandern wir eben um den See herum.«
Nach gut zwanzig Minuten war es soweit. Noch ein paar Schritte, dann hatten sie die Stelle erreicht und es würde sich zeigen, ob sie sich etwas eingebildet hatten oder ob dort wirklich ein magischer Bote hockte, um sie in ein Schloss im See zu geleiten.
Als sie am Waldrand entlanggingen und die Büsche nach dem Hermelin absuchten, fühlte Rian erneut einen Hauch, der nicht von dieser Welt war. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um.
»Willkommen«, drang eine tiefe Bassstimme durch das Dickicht. Es raschelte und zu Rians und Davids großer Überraschung trat ein Hirsch zwischen den Bäumen hervor. So überaus strahlend weiß und majestätisch schön, dass Rian ein Laut der Entzückung über die Lippen kam.
»Ich bin der Wächter. Ihr seid die Suchenden«, ließ das Tier erneut seine voluminöse Stimme erklingen.
Die Zwillinge verbeugten sich und der Hirsch erwiderte ihre Geste. Er senkte sein Haupt mit dem gewaltigen Geweih, während er leise schnaubte.
»Heiliger Wächter, wir wurden von der Blauen Dame gesandt, weil Nimue, die Herrin vom See, nach uns rufen ließ. Kannst du uns in ihr Schloss geleiten?«, fragte Rian so sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen, und so ehrfürchtig, als stünde sie einem leibhaftigen Gott gegenüber.
»Ich bin hier, um euch den Weg zu weisen. Doch gehen müsst ihr den Pfad des Erkennens selbst. So wollen es die Regeln, die dem Heim unserer Herrin Schutz gewähren«, kam die vage Antwort.
»Aber die Herrin erwartet uns«, wandte Rian ein.
»Der Weg ist schon seit Jahrhunderten verschlossen«, antwortete der Hirsch prompt.
Endlich dämmerte es ihr. Es war kein Rätsel, keine Aufgabe. »Nimue ist gefangen in ihrem eigenen Zuhause!«, rief sie.
Der weiße Hirsch schwieg. Seine Augen waren schwarz. Auf den Pupillen spiegelte sich der Wald, als würden sie die Natur in sich tragen. Nachdem Rian und David nichts weiter sagten oder taten, stampfte er mit den Vorderhufen ungeduldig auf und schnaubte erneut.
Seine Nase wirkte wie blank polierter Onyx, so schwarz und glänzend war sie. Bei jedem Ausatmen strömte ein Nebelhauch aus den Nüstern. Hatte er den Dunst über dem See erzeugt? Oder war er einfach nur Teil dieses Verwirrspiels?
Rian sah Hilfe suchend zu ihrem Bruder. »Wenn Nimues Schutzzauber sich gegen sie selbst gerichtet hat, dann haben wir ein ziemlich großes Problem. Wir sind nicht so mächtig, gegen Elementarmagie antreten zu können.«
»Einerseits, ja. Andererseits gehört zu jedem Schloss ein Schlüssel. Wenn der Weg also verschlossen ist, dann benötigen wir im Prinzip nur den Schlüssel?«, fragte David.
»So ist es«, bestätigte das majestätische Tier, offenbar erleichtert, und beruhigte sich etwas.
Rian blinzelte, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder den Lösungsweg gefunden hatte. »Und der Schlüssel ist hier, weil ihr hier seid – du und das Hermelin. Wir müssen ihn also finden! Oder … erkennen?«
Der Hirsch senkte sein gewaltiges Geweih zu einem angedeuteten Nicken.
Sie und David blickten in das Dickicht, drehten sich um die eigene Achse. Einen Schlüssel für ein Schloss. Ein Schlüssel, den man in das passende Loch steckt und dreht. Ein Schlüssel, um eine Botschaft zu decodieren. Ein Schlüssel als Dechiffrierschablone, um im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu entdecken, ging Rian die Möglichkeiten im Geiste durch, die ihr dazu einfielen. Es fühlte sich an, als wäre sie der Lösung bereits nahegekommen, ohne sie noch zu sehen.
Sie ließ den Blick abermals über den See schweifen. Der Dampf hing weiterhin wie züngelndes Schattenfeuer über der Wasseroberfläche. Die Nebelflammen stiegen unablässig empor, wiegten sich im Wind, tanzten und vergingen wieder. Ein Reigen aus Werden und Vergehen, gespeist aus dem immer selben Becken.
Je länger sie hineinblickte, desto öfter meinte Rian, Figuren darin zu erkennen. Unförmige Gestalten, Pflanzen, Tiere. Und plötzlich verstand sie es, wusste, was die Worte des Boten zu bedeuten hatten. »Sie zeigen uns den Weg«, sagte Rian und machte einige Schritte auf den See zu, ohne den Blick von den Formen abzuwenden.
»Wer?«, fragte David irritiert. Sie spürte, dass er ihr folgte, als sie sich auf den See zu bewegte.
»Du musst nur richtig hinsehen. Hineinsehen, ohne etwas Bestimmtes erkennen zu wollen«, sagte Rian, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihr bot. »Als wären wir in unserer Welt. Wir haben zu sehr auf die Menschenwelt geachtet. Der See ist hier aber nur verankert, wie ein Tor, und wir müssen die Grenze überschreiten. Die Boten weisen uns den Weg.«
Der Hirsch blieb hinter ihnen zurück, während das Hermelin über den See lief, sich zwischen den Nebelsäulen hindurch schlängelte, hinein tauchte, nur um eine Körperlänge weiter vorn wieder aufzutauchen. Ein Umriss nur, aber auf magische Weise so real wie alles andere, das Rian wahrnahm.
»Komm«, sagte sie und hielt ihrem Bruder hinter ihr die Hand entgegen.
Diesmal blieb David stumm, als er seine Hand voller Vertrauen in ihre legte und sie sanft umschlang. Ihr Zwillingsblut ließ ihre elfische Seite im Gleichklang schlagen, so wie einst.
Gemeinsam folgten sie dem kleinen Boten. Und als Rian den ersten Schritt in den See hinein unternahm, da teilten sich der Nebel und das Wasser und gaben einen schmalen Pfad zwischen den Elementen frei.