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1.
Reise nach Rennes
ОглавлениеDublin, Irland
David und Rian saßen in der Abflughalle von Gate 418 am Dublin Airport und warteten auf ihren Flieger nach Rennes. Sie folgten einem Ruf, den sie nicht ignorieren konnten. Ob sie wollten oder nicht.
Nadja war indes immer noch verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Alles in David schrie danach, sich unverzüglich auf die Suche nach ihr zu machen. Doch es ging nicht. Noch nicht. Der Dame vom See schlug man keine Bitte ab, egal wie groß oder klein sie sein mochte.
Die Regeln der Anderswelt waren in solchen Dingen unmissverständlich und streng. Obwohl sich Davids stückchenweise gewachsene Seele nach Nadja verzehrte, er sich sorgte und nichts mehr als ihre Unversehrtheit und Nähe herbeiwünschte, war die elfische Seite seines Selbst noch immer an die Sippe der Sidhe Crain gebunden. Ihren Regeln hatte er unbedingt zu gehorchen. Deshalb waren sie auf dem Weg nach Frankreich.
Nimue, Viviane, Herrin vom See, Hüterin der Quelle oder Königin des Wassers, wie sie in den verschiedenen Welten gerne genannt wurde, gehörte zu den Alten und Erhabenen. Eine göttergleiche Fee, so geheimnisvoll und unergründlich, dass selbst die Crain nicht viel über sie wussten. Bis auf jene Geschichten, die sich auch die Menschen in Mythen, Märchen und Liedern erzählten.
Vor langer Zeit hatte Nimue es gewagt, in die Geschicke Britanniens einzugreifen. Als Hüterin des Schwertes Excalibur hatte sie viele der Fäden gezogen, war Mitwisserin und Mitwirkende in jenem Drama gewesen, das König Artus und die Tafelrunde zu einer Legende hatte werden lassen. Unter anderem, weil sie Lancelot in ihrem sagenumwobenen Reich im See aufgezogen hatte.
Seit jenen längst vergangenen Tagen war sie nicht mehr gesehen worden, weder bei den Menschen noch in der Anderswelt. Bis vor kurzem hatte kaum jemand mit Sicherheit sagen können, ob sie überhaupt noch lebte. Bis die Blaue Dame David und Rian die Botschaft ihrer Schwester überbracht hatte.
Dennoch überraschte es David ganz und gar nicht, dass Nimue die Zeit überdauert hatte und weiterhin, wenn auch aus größerer Entfernung, Anteil an den Geschicken der Menschenwelt nahm. Doch warum würde ein so mächtiges Wesen Rian bitten, ihr mit heilkundiger Hand beizustehen? Litt auch sie an dem Verlust der Unsterblichkeit? Oder erhoffte sie sich anderweitig Unterstützung?
Und was hatte der Ruf um Hilfe damit zu tun, dass den Worten der Blauen Dame zufolge jemand versuchte, Merlin zu wecken?
»Hör auf, missmutig vor dich hin zu starren. Das steht dir nicht«, sagte Rian und grinste ihn von der Seite an. Ihre immerwährende Fröhlichkeit war Fluch und Segen zugleich. Wie schmal der Grat dazwischen sein konnte, merkte David besonders, seit er sich mit menschlichen Gefühlen herumschlagen musste. Stück für Stück weckte die wachsende Seele in ihm Gemütszustände, die mal verwirrend, mal ungewohnt berührend und manchmal auch schrecklich nervig waren.
»Ich halte diese Warterei einfach nicht aus«, gab er mit knurrigem Unterton zurück. »Wer weiß, was Nadja gerade alles durchmacht, seit der Getreue sie entführt hat.«
»Du sagst es! Wir wissen es nicht. Weder, wie es ihr geht, noch, wo sie steckt. Also geh nicht immer gleich vom Schlimmsten aus«, erwiderte seine Schwester.
Eine Tonband-Stimme vermeldete, dass der Aer Lingus Flieger EI1011 nun zum Einsteigen bereit sei und das Boarding in wenigen Augenblicken beginnen würde.
»Nadja wird sich wie immer wacker schlagen. Wenn der Getreue sie Bandorchu vor die Füße hätte werfen wollen, hätte er in Newgrange die perfekte Gelegenheit dazu gehabt. Doch er hat es vorgezogen, mit Nadja zu verschwinden. Warum? Das werden wir bald erfahren.«
»Gleich wäre mir lieber«, sagte David.
Sie standen auf, reihten sich in die Warteschlange ein, zeigten ihre Bordkarten und stiegen unbehelligt ins Flugzeug. Mit ihrem natürlichen Charme und etwas Elfenmagie hatte Rian ihnen zwei Plätze in der ersten Klasse besorgt. Vielleicht um wieder gut zu machen, dass David genau genommen ihretwegen zu dieser Mission gezwungen worden war. Als Begleiter und Beschützer seiner Zwillingsschwester. Denn die besonderen Heilkünste, nach denen die Dame vom See verlangte, waren allein Rians Metier. Aber vielleicht wurde Davids Schwert für das benötigt, was angeblich mit Merlin geschah … ob es stimmte, dass jemand versuchte, den Zauberer aus seinem Bannschlaf zu wecken? Wie sollte das möglich sein, da niemand zu wissen schien, wo Merlins Körper lag?
Nach dem Start des Fliegers entspannte sich David ein wenig. Er wusste sein kurzes Schwert wohlversorgt in der Gepäckablage über ihm. Die Menschen konnten es natürlich nicht als solches erkennen – nicht einmal in dem Moment bei der Sicherheitskontrolle, wenn der Scanner es anzeigte. Technik konnte nicht so leicht überlistet werden, Menschenaugen hingegen schon.
Der Blick auf die fedrig-weiße Wolkendecke unter ihm vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit und schenkte gleichzeitig einen Hauch von Zuversicht.
Es wurde Zeit, dass David seine Gedanken auf das richtete, was vor ihnen lag. Frankreich. Die Bretagne und ein Wald, der selbst in der Menschenwelt für seine magische Ausstrahlung bekannt war: Brocéliande. Angeblich die letzte Ruhestätte von Merlin, dem größten aller Zauberer.
Ihr erstes Etappenziel war Paimpont. Gleich nebenan lag der See von Comper – Nimues See. Der Beschreibung nach befand er sich im Norden des weitläufigen Waldgebietes, das einstmals bis nach Huelgoat im Westen gereicht hatte.
Durch die Modernisierung und Urbanisierung über die Jahrhunderte hinweg stand nur mehr ein Bruchteil des Baumbestandes aus längst vergangenen Zeiten, doch die Geschichten lockten noch immer keltische Kultisten, Suchende und Touristen an. So stand es zumindest im Reiseführer, den Rian am Flughafen unnötigerweise besorgt hatte.
Ob tatsächlich aus neu erwachter Leselust oder nur um ihn zu ärgern – sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm etwas daraus vorzulesen. Sobald sie eine nennenswerte Stelle entdeckt hatte, plapperte sie los. Und wie immer war in ihren Augen fast alles eine Erwähnung wert.
Was würde Nadja bei all dem durch den Kopf gehen?, überlegte David. Wie würde sie die weiteren Schritte planen? Denn darin war sie als Journalistin geradezu brillant. Eine der vielen Eigenschaften von ihr, die David vermisste.
Alles, was mit ihr zu tun hatte, fehlte ihm. Ihre bernsteinfarbenen Augen, wenn sie ihn auf durchdringende Art ansah. Ihr unbändiger Hunger, der Rians Gier nach Süßem ohne Zweifel Konkurrenz machte, und das, bevor Nadja schwanger geworden war.
Ihm fehlte ihre chaotische Ader, wenn es nicht gerade darum ging, ein Geheimnis zu lüften oder einen Bösewicht zu enttarnen. Denn auch wenn sie als Mensch ein bisschen schusselig war, in ihrem Beruf war sie das genaue Gegenteil. Da war sie ein Profi durch und durch. Ein Grund, warum sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Weil sie verdammt hartnäckig sein konnte. Ein Wesenszug, der in mancher Hinsicht auch bei seiner Schwester zu finden war.
Obwohl der Flug kaum länger als zwei Stunden dauern würde, begann Rian gelangweilt auf ihrem Sitz vor und zurück zu rutschen und sich mit verdächtig glitzerndem Blick in der Kabine umzusehen.
»Untersteh dich, hier oben in der Luft irgendeinen Schabernack zu treiben«, mahnte David sie. Doch das schien sie wie immer nur noch mehr anzustacheln.
»Ich fürchte, du wirst eine Weile allein Trübsal blasen müssen. Mir steht der Sinn nach ein bisschen Abwechslung und einer anregenden Unterhaltung.« Mit diesen Worten stand Rian auf, quetschte sich mit ihrer modelmäßig schlanken Figur an ihm vorbei und steuerte zielsicher auf einen Kerl zu, der eine Reihe vor ihnen auf der gegenüberliegenden Seite saß.
»Ist hier noch frei?«, hörte David sie säuseln. Den bezirzenden Augenaufschlag dazu konnte er sich, auch ohne ihn zu sehen, ausmalen.
»Désolé. Quoi?«, erwiderte der Mann sichtlich perplex und wischte sich nach einem Blick auf Rians Erscheinung in typischer Hahnenbalzmanier mit der Hand über den nicht vorhandenen Kamm seiner kurzgeschnittenen Businessfrisur.
David stöhnte innerlich auf. Sie hatten wahrlich Besseres zu tun, als jetzt irgendwelche Typen aufzureißen und am Ende vielleicht auch noch in Schwierigkeiten zu geraten, weil ihre Eroberung sich mal wieder an Rian sprichwörtlich festgesogen hatte.
Immerhin schien der Kerl Manieren zu haben. Bevor Rian sich an ihm vorbeizwängen konnte, um auf den freien Mittelplatz zu gelangen, stand er auf, trat auf den Gang und ließ sie höflich gewähren.
David konnte allein am Sitz seiner Anzugjacke erkennen, dass seine Kleidung nicht von der Stange war. Die Schuhe glänzten frisch poliert und am rechten Handgelenk funkelte das Armband einer protzigen Markenuhr. Eine kleine Überraschung, denn seinem Seitenprofil nach zu urteilen war er relativ jung. Keine dreißig und schon im Big Business. Also offensichtlich ein Mann mit Talent.
»Hallo. Mein Name ist Rian Bonet. Mein Bruder und ich sind das erste Mal nach Rennes unterwegs«, plapperte Rian drauflos, als sie sich gesetzt hatten. »Um die Sehenswürdigkeiten der Bretagne zu besichtigen. Es soll da ja nur so vor magisch-mystischen Orten wimmeln!«
»Ravi de vous rencontrer. Angenehm, Mademoiselle«, antwortete der Franzose. »Mein Name ist Philippe Bourdieu.«
Erneut strich er sich über seine perfekt gestylten Haare, drehte sich ein Stücken weiter zu ihr herum und präsentierte David damit seinen Rücken. »Frankreich, und vor allem die Bretagne, ist immer eine Reise wert«, fuhr er fort und David fiel das erste Mal seine überraschend raue Stimme auf. Hatte er sein Alter unterschätzt?
Während er noch grübelte, sah er, wie seine Schwester den Kopf auf diese typisch lasziv-provokante Art neigte und sich ein klein wenig vorbeugte. »Was für ein wohlklingender, starker Name. Dann kennen Sie sich wohl in der Gegend um Rennes aus, Philippe?«
»Das tu ich in der Tat«, antwortete er fast schon entschuldigend, aber mit spürbarer Leidenschaft hinter seinen Worten. »Meine Familie stammt aus Lorient und hat ein Ferienhaus in der Nähe von Josslin, etwas weiter östlich und nicht direkt am Meer gelegen. Aber der Ort ist ein Kleinod historischer Baukunst.«
»Das klingt wunderbar!«, jauchzte Rian. »Vielleicht kommen wir auf unserem Weg ja bei Ihnen vorbei und Sie können mir die besten Plätze in der Umgebung zeigen? Solche, die nicht im Tourismusführer stehen?«
Mit siegesgewissem Lächeln sah sie zu David hinüber und zwinkerte. Langsam dämmerte ihm, worauf das hinauslaufen sollte. Sie war dabei, ihnen eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren. Diesmal ganz ohne Elfenzauber, allein mit den Waffen einer Frau.
»Es wäre mir eine Freude! Ach, was sag ich! Es wäre mir ein wahrhaftiges Vergnügen, Sie an die Hand nehmen zu dürfen. Es gibt so wundervolle Flecken dort. Ich würde mit Ihnen am Flussufer des Oust entlang spazieren, Sie in das Schloss der Rohan entführen und Ihnen die Schätze zeigen, die sich dort in den endlosen Regalen der imposanten Bibliothek finden lassen.« Philippe beugte sich nun ebenfalls verschwörerisch vor. »Jetzt im Sommer sind auch viele der anderen Räumlichkeiten offen zu besichtigen, die sonst nur von den Abkömmlingen der bretonischen Könige bewohnt werden.«
»Von richtigen Königen? Dann sind Sie wohl auch einer, wenn Sie dort so einfach hineindürfen«, witzelte Rian mit kindlich-unschuldigen Kichern.
Der Kerl aalte sich sichtlich in ihrer Aufmerksamkeit und David betete einmal mehr darum, dass sie bald in Rennes landen würden.
Doch Zeit war eine widerspenstige Sache. Immer, wenn man wünschte, dass sie schneller lief, tat sie das genaue Gegenteil. Der Flug schien endlos zu dauern. David drückte sich tiefer in den Sitz und stierte durch das Seitenfenster in den trüber werdenden Himmel. Das weiße Wolkenmeer hatte sich zu einer Hügellandschaft aus Grautönen aufgebauscht. Vereinzelte Regentropfen klatschten gegen die Scheibe und zogen auf dem Glas ihre Bahn, bis sie sich in sich selbst verloren hatten.
Als die Maschine endlich landete, hatte sich das Wetter zu einem eindrucksvollen Gewitter zusammengebraut. Ein grauschwarzes Monster, das von Westen her näherkam. Wenn David sich also nicht gänzlich irrte, würden sie direkt darauf zu steuern und mitten hineinfahren müssen, um nach Paimpont zu gelangen.
»Keine Sorge, mein Mietwagen wird direkt an den Ausgang des Terminals gebracht«, erklärte Philippe Bourdieu und führte Rian beflissentlich Richtung Zollkontrolle, während David gemächlich folgte.
Das Gepäck des Franzosen bestand aus einem kleinen Rollkoffer, den er mit in die Passagierkabine gebracht hatte. Ihres bestand aus dem, was sie in den Taschen trugen. Und versteckt am Gürtel. Damit war der Weg frei, um den Flughafen zügig zu verlassen.
Wie von Rians neuem Verehrer versprochen, stand sein bestellter Wagen bereits bereit. Eine funkelnagelneue schwarze Limousine mit getönten Scheiben und Ledersitzen.
Sehr angenehm. Dies versprach nicht nur ein trockenes, sondern auch ein außerordentlich bequemes Plätzchen auf der Rückbank, während Rian vorne für die gute Laune ihres rekrutierten Chauffeurs sorgen würde.
Philippe steuerte den Wagen routiniert von der Flughafenumgehung auf die Autobahn 24 Richtung Lorient und damit indirekt auf Paimpont zu. Im Radio dudelten typisch französische Chansons, während von draußen der Regen unerbittlich herniederprasselte. Rian hatte es mit ihrer unvergleichlichen Art geschafft, Philippe dazu zu überreden, einen Zwischenstopp an ihrem Zielort einzulegen.
Das in der Fahrzeugkonsole eingelassene Navigationsgerät zeigte für die eingetragene Strecke eine Fahrtzeit von knapp einer Stunde an. Für David hieß das, einmal mehr quälende Warterei und Nichtstun, während seine Gedanken zurück zu Nadja drifteten. Immer wieder stellte er sich dieselben Fragen.
Was mochte der Getreue nur mit ihr vorhaben? Was er getan hatte, war Hochverrat an seiner Königin.
Die Dunkle Königin und ihre Eroberungspläne. Auch das war etwas, mit dem sie sich beschäftigen mussten, sobald sie den Auftrag der Dame vom See erledigt hatten. Seit der Getreue Bandorchu mit Hilfe des Zeitgrabs in Newgrange zurück und in diese Welt geholt hatte, standen die Tore zum Schattenland offen.
Die einstige Königin von Earrach hatte nicht nur ihr Exil verlassen, sie hatte eine ganze Armee mitgebracht. Genau wie Fanmór, der sich dank Pirx gerade noch rechtzeitig auf dem Schlachtfeld gegen sie gestellt hatte.
Der Kampf war eher ein Kräftemessen gewesen. Am Ende hatte die Dunkle Königin sich zurückgezogen. Wohin, das wussten aktuell nur ihre Anhänger.
Und der Getreue hatte sich gar nicht erst daran beteiligt, sondern war mit Nadja verschwunden. Vielleicht gehört ihre Entführung zu einem viel größeren Plan, den sie alle nur noch nicht durchschaut hatten. Möglicherweise war es eine Finte, um sie abzulenken. Fortzulocken und blind für die im Hintergrund ablaufenden Geschehnisse zu machen. Aber welche mochten das sein?
David knurrte vor Ärger so laut auf, dass Philippe am Steuer zusammenfuhr und David sich einen bösen Blick seiner Schwester einfing.
»Ignorier meinen Bruder einfach, Phil. Manchmal hat er diese Anfälle. Aber keine Angst, er ist harmlos«, beschwichtigte sie den Hasenfuß mit ihrem charmantesten Lächeln, während sie mit ihrer Hand sein Knie tätschelte.
David musste gegen seinen Willen grinsen. Die Menschen waren schon ein seltsames Volk. Manche so mutig und andere so schwach. Natürlich war Nadja genau genommen eine Halbelfe, aber ihre Mutter Julia Oreso war es nicht. Und gerade sie hatte, genau wie ihre Tochter, bewiesen, wie stark ein so zierliches, sterbliches Wesen sein konnte. Ihre Autorität lief zwei Schritte voraus. Diese Frau bekam für gewöhnlich, was sie wollte. Nur, dass sie dafür keine Elfenmagie einsetzte.
»Am besten, ihr nehmt euch ein Zimmer im Le Relais De Brocéliande. Da seid ihr mitten im Zentrum der Stadt und könnt einige der Sehenswürdigkeiten zu Fuß erreichen. Das angeschlossene Restaurant hat einen guten Ruf«, erklärte Philippe ihnen, während er die Autobahn wieder verließ und auf die Landstraße Nummer 773 Richtung Norden abbog.
Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein malerisches Örtchen, direkt an jenen gewaltigen Wald angrenzend, den man in Sagen und Geschichten Brocéliande nannte. Es wurde Zeit, sich von Philippe zu verabschieden. Wie, das sollte Rians Sorge sein.
»Du hast ja meine Nummer«, sagte Philippe nach einigem Hin und Her, während sie im Regen standen und langsam aufweichten. »Eine kurze Textnachricht genügt und ich hole dich ab.« Er blickte zu David und verzog entschuldigend das Gesicht. »Euch, meine ich natürlich. Ihr seid beide willkommen.«
»Das ist so lieb von dir, Phil. Wirklich«, antwortete Rian, küsste ihn mit spitzen Lippen auf die Wange und trat dann an Davids Seite. »Fahr vorsichtig, ja? Die Straßen können rutschig sein bei so einem Wetter.«
Philippe nickte mit seligem Lächeln. Noch einmal zögerte er, schien mit sich selbst zu ringen. Dann stieg er ein, wendete die Limousine und brauste so zackig davon, dass links und rechts die Wasserfontänen spritzten.
»Gut gemacht, Schwesterherz«, sagte David und grinste.
»Er war wirklich nett«, erwiderte sie, während sie sich in einer nutzlosen Geste die Hand über den Kopf hielt und lachte. »Wir sollten schauen, dass wir schleunigst ein Zimmer und danach etwas Ordentliches zu essen bekommen.«
In dem Moment krachte es. Ein Donnerschlag, so laut, dass sich die Zwillinge unwillkürlich duckten. Ein Blitz zuckte zwischen den Wolken hervor und erleuchtete den gesamten Himmel. Und nicht nur ihn.
Kurz bevor es wieder dunkel wurde, glaubte David etwas am Rand des angrenzenden Waldes vorbeihuschen zu sehen. Ein Tier vielleicht. Doch es war auf eine unwirkliche und doch seltsam vollkommene Art schneeweiß und dabei gleichzeitig geradezu ätherisch durchscheinend.