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12.
Elfenspiele

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Comper

Endlich hatte sich der Eingang zu Nimues Schloss offenbart. David ging an der Seite seiner Schwester langsam zwischen den hoch aufgewölbten Wasserwänden entlang auf die Mitte des Sees zu. Nach einigen Metern wandelte sich der schlichte Sandboden in massiven Fels, der sich nach ein paar weiteren Schritten als eine in den Stein gehauene Treppe entpuppte.

Stufe um Stufe führt sie der Weg tiefer hinab in den See. Und obwohl David vorher ohne Probleme von einem Ufer zum gegenüberliegenden hatte blicken können, schien in dieser Falte der Realität Entfernung in anderen Maßeinheiten zu existieren. Oder war es vielmehr die Zeit, die sich nicht mehr greifen ließ?

»Wie lange gehen wir diesen Weg schon?«, fragte er schließlich Rian, als immer noch kein Ende in Sicht kommen wollte.

Seine Schwester schien die Sache ganz nach ihrer Art deutlich lockerer zu nehmen. Während sie gemütlich zwischen den Wassermassen, die sich nun über ihnen zu einem Dach wölben, entlang spazierte, blickte sie flüchtig über die Schulter zurück. »Ich schätze, es dauert, solange es eben dauert, bis wir ankommen.«

David verdrehte die Augen. »Was für eine hehre Weisheit. Es könnte genauso gut ein Trick sein. Eine Endlosschleife, in der sich ungebetene Gäste zu Tode laufen.«

»Wir sind aber keine ungebetenen Gäste«, hielt Rian dagegen. »Wir sind auf ausdrücklichen Wunsch der Dame vom See hier.«

»Du bist angefordert, ich habe nur die Funktion des Leibwächters. – Ich glaube, da vorn ist etwas«, sagte David und deutete vor sich.

Tatsächlich ragte einige hundert Meter weiter wie aus dem Nichts gekommen eine gigantische Steinwand empor. Doch sie gehörte zu keinem Schloss, es gab kein Tor oder sonst einen Durchgang. Das Einzige, was nun unübersehbar vor ihnen lag, war eine kleine grün-türkis schimmernde Lagune, in die ein gigantischer Wasserfall von der Felswand aus herabstürzte.

David stöhnte entnervt auf. Die elfische Ader, alles zu einem endlosen Spiel und komplizierter als nötig zu machen, war etwas, auf das er zukünftig gern verzichten konnte. Immer nur Stolperfallen und Rätsel, in denen sich am Ende, wie hier geschehen, der Spielleiter selbst verfing.

Rian jauchzte bei dem Anblick des klaren Wassers und der schäumenden Gischt unterhalb des Wasserfalls im Gegensatz zu David auf und schickte sich an, angezogen wie sie war, ins Wasser zu steigen. »Komm schon, du Zähneknirscher. Das Wasser ist herrlich warm und die Wassertropfen tanzen wie kleine quirlige Feen in der Luft.«

»Wir haben wichtigeres zu tun als jetzt ein Bad zu nehmen«, hielt David dagegen.

Doch die Laune seiner Schwester war viel zu ansteckend, als dass er allzu lange widerstehen konnte. Mit einem eleganten Hechtsprung landete er im türkisgrünen Nass und machte zwei lange Schwimmzüge unter Wasser.

Unter der Oberfläche eröffnete sich eine Welt. Das Becken war wie ein Tunnel, der grob in den Stein gehauen worden war. Ein Schacht, dessen Boden man nicht sehen konnte, so tief hinab ging er. An den Rändern tummelten sich kleine bunt blinkende Fischschwärme.

David kam zurück an die Oberfläche und schwamm hinüber zum Wasserfall, um in die Regenbogen-Gischt zu tauchen, die sich um den steten Strom formte.

»Siehst du, wie gut die Idee war?«, rief Rian und kam auf ihn zu gepaddelt.

»Unsinnig, aber gut«, gab er zurück und streckte die Arme aus. Das Wasser prasselte auf ihn hernieder. Ein Gefühl, als würden schwere Nadelkissen auf seine Haut prallen. Aber da war noch etwas. Etwas, das ihn irritierte.

An seinen Fingerspitzen spürte er einen Luftzug. Kälter. Geradezu frostig. Neugierig durchstieß David mit Kopf und Oberkörper die Wasserwand, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand.

Als er die Tropfen aus seinen Augen geblinzelt hatte, konnte er kaum glauben, was da zum Vorschein kam. Er blickte aus einer Höhle hinaus in eine magische Landschaft. Ein Teppich aus Eisblumen breitete sich vor ihm aus und ging ansatzlos in eine Blumenwiese über. Ein zart rosafarbener Himmel wölbte sich wie eine schützende Haube über die Szenerie. Zentrum von all dem war das kristallene Schloss, das sich in der Mitte erhob. Nimues Schloss. Endlich!

»Rian!«, rief David. »Rian, komm hier durch. Das musst du dir ansehen!«

Zu zweit kletterten sie durch das Portal und aus der eisigen Höhle ins Freie. Die Sonne war warm und wild. Doch sie konnte den Eisblumen nichts anhaben.

Ein kleiner Zauber half, die Kleider zu trocknen. David prägte sich die Lage des Ausgangs genau ein, um ihn später, wenn nötig, wiederfinden zu können. Dann marschierten sie los, auf das Schloss zu.

Schmetterlinge, so fein und zart wie Schneeflocken, flatterten von den Blüten auf und umtanzten die Besucher. Ihr Flügelschlag erzeugte leise Glöckchenklänge und malte Wölkchenspuren in die Luft.

»Wie unfassbar schön«, flüsterte Rian entzückt.

Vorsichtig durchschritten sie das Feld, bis sie die bunte Blumenwiese erreichten. Hier summte und brummte es vielstimmig. Insekten aller Art wanderten von einem Kelch zum nächsten und wirbelten dabei Blütenstaub auf. Es roch nach Honig und Vanille. Die Luft selbst schmeckte herb und gleichzeitig süß, belebend und träumerisch.

»Das hier ist unmöglich nur eine Illusion. Wie konnte Merlin das alles erschaffen? Er war doch nur ein menschlicher Zauberer, wenn auch der größte, den es je gegeben hat«, sagte Rian voller Staunen.

Während sie auf das Schloss zu gingen, beugte sie sich immer wieder vor und streifte mit den Händen die Knospen und Stängel, um unter dem wilden Summen der Insekten noch mehr Blütenstaub aufzuwirbeln.

David hatte keine Antwort auf ihre Frage. Er wusste genau wie alle anderen so gut wie nichts über Merlin.

Am Ende der Wiese fanden sie einen Weg, der sie in sanften Bögen durch die Landschaft bis an die Schlossmauern führte. Aus der Nähe wirkte das Gebäude wie ein natürlich gewachsener Kristall. Am Fuß milchig-weiß und zu den Spitzen der einzelnen Stelen hin immer durchsichtiger, sodass sich das Licht in allen Farben darin brach und als Regenbogen-Aura spiegelte.

»Wo habt ihr so lange gesteckt?«

David hörte die Worte, ohne die Sprecherin sehen zu können. Doch es war unverkennbar eine weibliche Stimme. In ihr lag kein Tadel, eher eine Neckerei. Doch das dahinterliegende Gefühl hatte nichts von der vorgespielten Leichtigkeit. Trauer schwebte zwischen den Zeilen und vielleicht sogar eine Spur von Angst.

»Meine Schwester wollte ein Bad nehmen«, entgegnete David.

»Ohne diesen Spaß hätten wir den Eingang erst gar nicht gefunden«, meldete Rian sich ebenfalls zu Wort. Im Gegensatz zu David drehte sie sich um die eigene Achse und suchte nach dem Ursprung der Worte.

Und endlich erlöste die Herrin vom See sie. In ein hauchdünnes weißes Kleid gehüllt, erschien sie auf den Stufen des Schlossportals. Dort, wo sich eben noch eine massive Tür befunden hatte, eröffnete nun ein Durchgang den Blick in das weitläufige Innere des kristallenen Baus.

Nimue lächelte sanft und breitete die Arme aus. »Kommt und tretet ein. Es ist Ewigkeiten her, dass dieses Gemäuer einen Gast empfangen hat. Und nun sind es gleich zwei. Zwillinge noch dazu.«

Rian überholte David, schritt eilig auf die Hausherrin zu und verneigte sich tief, als sie vor ihr stand. »Wir danken sehr für Eure Einladung und hoffen, Euer Vertrauen nicht zu enttäuschen.«

»Es ist weniger eine Einladung denn ein Hilferuf, und dass ihr die Richtigen seid, beweist eure Anwesenheit«, entgegnete Nimue, neigte den Kopf zum Gruß zu beiden und streckte dann die Hand nach Rian aus. Eine kurze Berührung nur, bevor sie sich umdrehte, als Willkommensgeste und Zeichen, dass sie ihr folgen sollten.

David musste unwillkürlich lächeln, während er den Frauen in das Innere des Schlosses folgte. Er war eben nur der Leibwächter und hatte fügsam hinterherzutrotten. Die Herrin vom See führte sie durch eine funkelnde und glitzernde Empfangshalle über eine gläserne Treppe hinauf in den ersten Stock und von dort aus über eine so zerbrechlich wirkende gewölbte Brücke in einen weiteren Anbau, dass David nicht sicher war, ob sie sein Gewicht tragen konnte. Denn anders als in der Menschenwelt berührten seine Füße hier den Boden.

Unter ihm breitete sich eine Wiese aus. Zartgrüne Halme bewegten sich in weichen Bewegungen im Wind hin und her.

Die beiden Frauen waren bereits in dem angrenzenden Raum auf der anderen Seite verschwunden, als David den Anbau betrat. Von außen hatte das Gebäude ebenso kristallen gewirkt wie der Hauptbau. Doch sein Inneres war gänzlich anders ausgestattet. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, Kerzenleuchter spendeten warmes Licht, auf dem Boden fanden sich edle Teppiche, die klassische Motive des Mittelalters zeigten. Ritter auf ihren Pferden, wie sie sich im Lanzenkampf miteinander maßen, während das Königspaar auf der Tribüne thronte und huldvoll winkte.

»Setz dich, Prinzessin Rhiannon«, bat die Herrin vom See und deutete auf eine mit Samt bespannte Chaiselongue vor einem heimelig flackernden Kaminfeuer.

Seine Schwester folgte der Einladung, während David sich mit etwas Abstand im Hintergrund hielt und wachsam, seiner Rolle gemäß, stehenblieb. Dieser Raum war ganz offensichtlich eine Illusion, wenn auch nicht im magischen Sinne. Die Gemütlichkeit und Intimität der Einrichtung beschworen die alten Tage herauf. Tage, die Jahrhunderte zurücklagen und wahrscheinlich glücklichere Tage für Nimue symbolisierten.

So mochte Lancelot seine Lehrzeit verbracht haben, wenn er nicht gerade seine Nase in den Bibliotheksbüchern vergraben oder seine Kampfkunst draußen im Hof trainiert hatte. Vielleicht war das der Ort gewesen, an dem Merlin und Nimue ihrer Liebe Ausdruck verliehen hatten. Hier in ihrem sicheren Heim, fernab der Welt.

Die Herrin vom See hatte gegenüber von Rian in einem Sessel Platz genommen. Ihr Kopf war dem Kamin zugewandt, sodass David sie nur im Profil sehen konnte. Doch selbst darin ließ sich Sorge ablesen. »Ich danke euch beiden, dass ihr diesem Ruf so eilig gefolgt seid und alle Hindernisse überwinden konntet«, sagte sie.

Eine Pause entstand. Rian warf ihrem Bruder einen kurzen, hilfesuchenden Blick zu. Er hob zur Antwort die Schultern. Man tat gut daran, mächtige Wesen wie Nimue nicht zu irgendetwas zu drängen oder sie zu verärgern, außer man konnte mit den Flüchen leben, die einen daraufhin treffen mochten.

Nimue war äußerlich ein zartes Feenwesen. Ihr wahres Alter war unbekannt und sie galt bei den Menschen als mystisches Sinnbild für die wahrhaftig Liebende. Doch wie jeder Elementargeist war sie auch überaus gefährlich. Sie war diejenige, die den größten aller Zauberer ausgetrickst, gebannt und für alle Zeiten aus dem Spiel des Lebens genommen hatte.

»Denkt nicht, ich hätte die Veränderungen nicht mitbekommen«, fuhr Nimue schließlich fort. »Gewiss, ich habe dieses Reich schon seit Ewigkeiten nicht mehr verlassen. Ich bin selbst gefangen, wie ihr bereits herausgefunden habt. Aus dem Drang heraus, das Kostbarste zu schützen, das es gibt, habe ich mich darin verfangen und verirrt.« Wieder stockte sie. Pausierte. Während David sie mühsam kontrolliert ein und ausatmen sah, während ihr Blick unbewegt auf das Feuer gerichtet lag. Ohne ein Blinzeln oder auch nur ein Muskelzucken.

»Die Zeit«, gab Rian das Stichwort. »Sie hat alles verändert.«

»Ein lange vorausgeplantes erstes Steinchen in einer Reihe von Spielsteinen, die nun einer nach dem anderen fallen werden oder bereits gefallen sind«, nahm die Herrin vom See den hingeworfenen Köder auf und fuhr fort. »Ich habe Mittel und Wege zu sehen. Vielleicht nicht überall gleichzeitig. Aber das große Ganze lässt sich dennoch erschließen.«

»Was meint Ihr?«, hakte Rian vorsichtig nach. Ihr Blick lag voller Konzentration auf der Herrin vom See. Doch Nimue verschleierte ihr Innerstes. Eine spürbare Schutzaura umgab sie. Das erweckte Davids Misstrauen, und er blieb angespannt.

»Mein Blick reicht weiter als bis zu den Grenzen der Menschenwelt«, sagte Nimue. Ihr Mund zog sich voller Verbitterung und Abscheu zusammen. »Ich habe Gwynbaen gesehen. Wie sie sich gewandelt hat. Wie sie litt und immer noch leidet und dafür anderen noch schlimmere Qualen antut. Selbst für ein Wesen ohne Seele ist das zu viel. Sie hat Grenzen überschritten, die unantastbar sein sollten. Eine Ungeheuerlichkeit, die am Gleichgewicht rüttelt. Die Lawine baut sich gerade erst auf, Prinzessin. Und sie wird schon bald geradewegs auf uns und besonders auf Euch zurasen.«

»Bandorchu will unseren Vater! Sie will Fanmór stürzen, um das Reich der Sidhe Crain an sich zu reißen. Genau wie sie es mit der Menschenwelt gerade tut«, mischte sich David ein.

Nimue blinzelte. Das war alles. Er sollte hier sein, aber nicht reden. Diese Gefühlskälte tippte in David etwas an. Eine Wut, die tief aus seinem Inneren kam. Doch er beherrschte sich. Biss die Zähne zusammen und nahm es hin, dass er ignoriert wurde. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, zu gehorchen und nicht nach Nadja zu suchen.

Bleib diplomatisch, ermahnte er sich in Gedanken. Du bist nicht einfach nur ein Elf. Du bist der Kronprinz.

»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Ihr Euch offenbar um uns sorgt«, antwortete Rian, als wäre nichts gewesen. »So wie wir uns natürlich auch um Euch sorgen und Euch zur Verfügung stehen, so es in unserer Macht steht, zu helfen.«

Das Gespräch glich einem komplizierten Tanz, bei dem sich die Partner versuchten näher zu kommen, während sie einer alten Abfolge von Schritten, Verbeugungen und Drehungen folgten.

»Das könnt ihr. Und vielleicht seid ihr es, die das nötige Wunder vollbringen können.« Mit diesen Worten wandte Nimue sich ihnen beiden zu. Ihre Augen funkelten wie Sterne, so unergründlich schwarz und doch so leuchtend an der Oberfläche.

David las jetzt die Trauer in ihren Zügen. Winzige Fältchen, die sich um ihre Mundwinkel gebildet hatten. Dunkle Ränder unter den Augen, die das makellose Weiß durchbrachen, wie feine Risse im Porzellan.

Die immer junge Dame vom See, Sinnbild der Liebe und der ewigen Schönheit wirkte müde und kraftlos. Auch sie war nicht mehr unsterblich, wie alle Wesen aus der Anderswelt. Waren Rian und David bei ihr, um sie vor dem Tod zu bewahren? War sie krank?

David begann nervös auf der Stelle zu wippen. Wenn selbst eine so allmächtige Frau dem Sterben unterworfen war, war auch der eigene Tod nicht mehr weit.

»Wie können wir helfen?«, fragte Rian nun gerade heraus. »Welche Krankheit plagt Euch?«

David sah Tränen in den Augenwinkeln der Fee glitzern.

»Es geht nicht um mich«, erwiderte Nimue mit brüchiger Stimme. »Es geht um meine Tochter.«

David hob die Brauen und auch seine Schwester wirkte überrumpelt. Seit wann hatte die Dame vom See Nachkommen?

»Sie ist etwas ganz Besonders, müsst ihr wissen«, fuhr Nimue fort. »So zart und filigran wie das Netz des Morgentaus, das sich in der Dämmerung über die Blätter legt und wenige Augenblicke später bereits vergangen ist.«

»Was ist passiert?« Rians Stimme war kaum mehr als ein Wispern.

»Als die Zeit Einzug hielt, fing es an. Als würde sich ein Schatten auf Eloise legen. Wie eine Vorahnung oder tiefe Trübsal, die sich auf ihrem Gemüt niederließ«, berichtete Nimue stockend. »Natürlich habe ich nach dem Grund geforscht, habe alle mir zur Verfügung stehenden Kanäle geöffnet, meine Boten in die Welten ausgesandt, um es zu verstehen, um die Machenschaften dahinter zu durchblicken.«

Sie stöhnte auf, als würde ihr die Erinnerung körperliche Schmerzen bereiten. »Als der Getreue den ersten Stab in einen der Ley-Knoten versenkte, war es, als hätte er einen der Lebensfäden meiner Tochter durchschnitten. Und mit jedem weiteren Knotenpunkt, den die Dunkle Königin für sich gewann, schwanden die Kräfte meiner Tochter. Sie … liegt im Sterben.«

Nimue schluchzte erstickt auf und David war so erschlagen von der Welle an Schmerz, die sie ausstrahlte, dass er einen Schritt zurück wankte.

Abrupt stand die Herrin vom See im nächsten Moment auf, straffte sich und schritt auf die Tür zu. Erst an der Schwelle hielt sie inne. »Folgt mir. Ihr sollt es mit eigenen Augen sehen. Damit ihr es versteht.«

Auch Rian war aufgestanden, wechselte einen Blick mit ihrem Bruder. Gemeinsam kamen sie der Aufforderung nach. Nimue führte sie durch eine weitere Tür in einen schmalen gemauerten Gang, der nach wenigen Metern in eine Treppe mündete. Sie führte bergab. Endlose Stufen wanderten sie tiefer und tiefer. Alle zehn Schritte flammte ein magisches Licht auf, sobald sie sich der kelchförmigen Einfassung näherten. Doch der Abstieg wollte nicht enden. Weiter und weiter wanderten sie die Treppe hinab. Immer geradeaus, ohne ein Ende zu sehen. Nichts als Schwärze vor sich.

David kamen die Legenden und Geschichten, die es über diesen Ort gab, in den Sinn. Dass für Besucher draußen Jahre vergangen waren, während sie selbst glaubten, nur eine Nacht im Schloss verbracht zu haben. Bisher hatte das nur für Menschen gegolten – war das ein Irrtum? Wie lange waren sie schon hier? Wie lange liefern sie bereits Stufe um Stufe hinab?

Sein Magen krampfte sich zusammen. Was, wenn er alles verpasste? Wenn Nadja nicht nur für Tage oder Wochen, sondern für Monate oder gar Jahre in den Fängen des Getreuen blieb? Wenn sie ihr Kind gebar, ohne dass er bei ihr sein konnte?

Jeder weitere Schritt geriet zur Qual. Und gerade, als David glaubte, seine Panik hinausschreien zu müssen, sah er ein Licht am Ende der Treppe. Und ein Ende. Kunstvolle Mosaike umrahmten die hölzerne Pforte. Durch ein kleines Fenster in der Tür fiel Licht in den Gang.

Nimue vollführte eine knappe Handbewegung, um das magische Schloss zu öffnen. Als die Tür aufschwang, mussten David und Rian ihre Augen mit der Hand abschirmen, so weiß und strahlend hell war das Innere des Raums.

David sah sich blinzelnd um. Freistehende Säulen ragten in einen unerreichbar hohen Himmel. So wirkte es zumindest, auch wenn der Prinz nicht den Eindruck hatte, dass sie das Gebäude verlassen hatten. Das grelle Leuchten machte es unmöglich, die Maße des Raums abzuschätzen. Dort, wo die Wände sein mochten, erfassten Davids Augen nichts weiter als endloses Weiß.

Es gab keine Lampen und auch keine Einrichtung. Nur eine Liege in der Mitte. Auf ihr war ein ätherisches Wesen gebettet. Langes, weißblondes Haar, das wie feine Silberfäden wirkte und in seidigem Glanz über die Bettkante hinabwallte. Eine Decke umhüllte den Körper bis hinauf zum Kinn.

Rian war die Erste, die sich aus der Erstarrung löste und zögernd auf das Mädchen zuging. David folgte ihr wie hypnotisiert. Dieses Wesen war weder Mensch noch Fee noch etwas Vergleichbares, das er je erblickt hatte. So zart und zerbrechlich, wie aus Licht geformt und in einen Körper aus Glas gegossen.

»Dies ist Eloise«, sagte Nimue. Sie ging zum Kopfende der Liege, strich ihrer Tochter einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und küsste ihre Stirn. »Das Kostbarste, was es geben kann.«

»Was ist sie?«, fragte Rian so leise, dass David sie kaum verstand.

»Sie ist das Geschenk purer Liebe«, antwortete die Herrin vom See. »Und sie ist Merlins Kind.«

David klappte der Kiefer nach unten. Noch nie hatte er gehört, dass Nimue und Merlin ein Kind gezeugt hatten. Und dazu noch eines, das nach all der Zeit immer noch lebte und aussah, als wäre es kaum älter als sechzehn.

Natürlich erbte ein Spross aus dem Schoß einer machtvollen Fee ebenfalls Feenkräfte. Das eine Mal mehr, das andere Mal weniger. Und bei einem Vater wie Merlin, dessen Herkunft unbekannt war, und von dem man nicht einmal wusste, ob er zu hundert Prozent ein Mensch war, mochte sich die Macht potenzieren. Aber nie hätte David sich vorstellen können, dass solch ein geradezu göttlich wirkendes Wesen aus dieser Verbindung entstanden sein könnte.

Rian schien sich besser im Griff zu haben. Ihr Blick glitt zwar sichtlich bewundernd und staunend über das Antlitz des Geschöpfes, doch dann wandelte sich ihre Miene. Sie hielt die Hände über dem Körper und streckte ihre heilerischen Fühler aus. »Erzählt mir genau, was passiert ist.«

»Ich weiß es nicht zu sagen. Nicht mit Bestimmtheit«, erwiderte Nimue mit zittriger Stimme. Tränen standen in ihren Augen und rannen ihr in silbrigen Spuren die Wangen hinab.

»Es ist, als hätte sich die Welt verkehrt. Als wäre das, was ihr einstmals Kraft gespendet hat, nun wie Gift für sie«, versuchte sie es zu beschreiben.

»Ihr meint die Ley-Energie?«, hakte Rian mit sanfter Stimme nach.

Die Herrin vom See nickte. Tränen tropften auf das Tuch, zerliefen und bildeten flüchtige Schneeflockenmuster auf dem filigran gewebten Stoff.

David fing den Blick seiner Schwester auf und erblickte Ratlosigkeit. Wenn es so war, dass die Kraft der Ley-Linien für Eloise wegen der Besetzung zu Gift geworden waren, dann … war die Lage aussichtslos.

David sah es in den Augen seiner Schwester, dass sie dieselben Schlüsse gezogen hatte und nichts tun konnte. Diese Bitte war unmöglich zu erfüllen.

Trotzdem nahm seine Schwester sich Zeit, tastete die magische Aura ab, berührte mit Nimues Erlaubnis sogar Eloises Gesicht und ihren Körper. Rian versuchte einen Zauber, versuchte es mit Lebensenergie, Reinigungsmagie und Bannbrechern. Doch nichts davon zeigte Wirkung. Nichts davon half.

Schließlich gab sie auf, senkte den Kopf, zog ihre Hände zurück und trat einen Schritt zur Seite. David konnte sehen, wie schwer es seine Zwillingsschwester fiel, ihr Versagen auszusprechen.

»Verzeiht, Hohe Frau«, begann sie zögerlich und so leise, als würde ihr Herz zu Nimues Herz sprechen. »Ich weiß, Ihr habt Eure Hoffnung in mich gesetzt, doch ich vermag das Wunder nicht zu vollbringen, das bei Eurer Tochter nötig wäre.«

»Das ist zu viel von ihr verlangt!«, mischte sich David ein, als er den Schmerz seiner Schwester nicht mehr ertragen konnte. Er stürmte vor an ihre Seite und wappnete sich für das Donnerwetter, das nun unzweifelhaft auf so eine Respektlosigkeit folgen würde.

Doch überraschenderweise zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht der Herrin vom See ab. »Glaubt mir, ich habe bereits alles versucht, was es an Heilkraft auf dieser und jeder anderen Welt zu finden gibt.«

»Warum sind wir dann hier?« Diesmal war es Rian, die sprach, bevor David dieselbe Frage deutlich ruppiger gestellt hätte. »Die Blaue Dame sagte, meine Heilkünste würden gebraucht!«

»Ja, weil ihr mir und meiner Tochter auf andere Art helfen könnt«, sagte Nimue ernst. »Genau genommen, seid ihr beide die Einzigen, die diese Aufgabe übernehmen können. Einen allerletzten Versuch, um Eloise zu retten.«

Rian hob fragend die Brauen. »Aber wie?«

»Ihr müsst für mich auf eine weite Reise gehen, um etwas zu finden, das ich vor langer Zeit verloren und versteckt habe«, antwortete Nimue und in ihrer Stimme schwang eine ganze Heerschar an Gefühlen mit.

David schüttelte den Kopf. »Nein. Das geht nicht. Wir haben keine Zeit. Nicht jetzt. Nicht unter diesen Umständen. Nadja zählt auf uns! Sie rechnet damit, dass wir sie suchen und befreien!«, rief er. »Hierher zu kommen, war eine Sache, aber das? Noch eine Reise? Nein, das kann ich nicht!«

Er spürte die Hand seiner Schwester, wie sie sich beruhigend auf seinen Rücken legte. Doch mehr nicht. Sie verbot ihm nicht den Mund, ruderte nicht zurück und entschuldigte sich nicht für seine Worte. Und das war ihm mehr Trost als alles andere in diesem Moment.

»Nadja«, wiederholte Nimue, als wollte sie den Klang des Namens schmecken. »Nadja Oreso, nicht wahr? Die kleine Halbelfe, die dir ins Herz gekrochen ist.«

Perplex schluckte David die weiteren Worte hinunter und fragte stattdessen: »Woher wisst Ihr so viel von ihr?«

»Ich nehme an, jeder in der Anderswelt kennt mittlerweile eure Geschichte. Eine Menschenfrau, die mit den Königszwillingen durch die Welt wandert, um unsere Unsterblichkeit wiederzufinden.«

David schmunzelte flüchtig. Es klang so unglaublich naiv und unmöglich, wenn jemand anderer es aussprach. Doch mit Nadja war so einiges möglich geworden, das auch er früher für Spinnerei gehalten hätte. Wie im Reflex legte er eine Hand auf seine Brust – dorthin, wo sein Stück Seele wuchs.

»Offenbar wisst Ihr noch nicht, dass Bandorchus Getreuer sie während des Kampfes zwischen den tapferen Kriegern der Sidhe Crain und den Dienern der Dunklen Königin entführt hat«, erklärte Rian.

Doch David wollte selbst sprechen und sich erklären. »Seither ist Nadja wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt keine Nachricht, nichts. Jede Minute, die wir verstreichen lassen, ist sie diesem Monster weiterhin ausgeliefert. Sie und unser ungeborenes Kind. Ja, so ist es. Ich werde selbst Vater und muss mein Kind schützen!«

Nimue atmete sichtlich betroffen tief ein und nickte dann ein paar Mal. »Doch, ich wusste es. Ein Zwiespalt, der dich in der Tat innerlich zerreißen muss«, gab sie zu. »Aber ich werde alles für das Überleben meiner Tochter tun.«

David biss die Zähne zusammen. Er wollte sich nicht mit Nimue anlegen. Doch seine Geduld war am Ende.

»Ich schlage einen Handel vor. Dann könnt ihr abwägen, was zu tun das Beste ist. Sowohl für meine Tochter als auch für Nadja Oreso und das Kind«, sagte Nimue und blickte David zum ersten Mal direkt in die Augen.

»Ihr werdet meinen Wunsch erfüllen. Dafür suche ich in der Zwischenzeit nach der Halbelfe. Sobald ihr Erfolg hattet und zurückgekehrt seid, öffne ich euch einen Pfad, der direkt zu Nadja führen wird.«

David glaubte, seinen Ohren kaum zu trauen. Die Herrin vom See bot ihnen einen Handel an. Wenn es denn tatsächlich in ihrer Macht stand, Nadja zu finden und sie zu ihr zu bringen. Aber David hatte keinen Grund, an Nimues Worten und ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln.

»Das … das wäre wirklich wunderbar«, stammelte er überwältigt. »Wir nehmen den Handel an. Was ist es, das wir für Euch tun sollen?«

»Ich werde euch ein Portal öffnen, durch das ihr an einen Ort reist, an den ich selbst nicht gelangen kann«, erklärte Nimue.

Doch Rian unterbrach sie sofort. »Es ging also von Anfang an gar nicht um meine Heilkünste?«

Die Herrin vom See lächelte. »Doch, aber nicht so, wie du dachtest.«

»Wohin genau wollt Ihr uns schicken?«, fragte David, den das nicht weiter interessierte, er wollte so schnell wie möglich den Handel erledigen.

Die Herrin vom See sah sie an und ihr Gesicht schien näher zu kommen. So nah, dass es Davids gesamtes Sichtfeld ausfüllte. Ihre Worte dröhnten in seinem Kopf, als sie sagte: »Ich schicke euch in die Vergangenheit, um etwas wiederzufinden, das die Welt verloren glaubt.«

Elfenzeit 6: Zeiterbe

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